Projektwerkstatt

VISIONEN

Sinn und Unsinn von Utopien und Utopiedebatten


1. Einleitung
2. Freie Menschen in Freien Vereinbarungen
3. Visionslosigkeit: TINA ... There is no alternative?
4. Sinn und Unsinn von Utopien und Utopiedebatten
5. Seid utopisch: Macht, was ihr wollt!
6. Links

Text von Schwarze Katze: "Ach, wer braucht schon Utopien - oder?" (korrigierte Version, 5.9.06)
(beeinflusst von AKs zu Utopien auf dem Januarreffen und den libertären Tagen sowie den Texten
"Unsere Visionen" und "Macht was ihr wollt" auf www.opentheory.org)

Pro und Contra Visionen
Es stimmt, wir leben in einer visionslosen Zeit - leider. Für viele Menschen enden "Visionen" bei der konsumorientierten Ausgestaltung des nächsten arbeitsfreien Wochenendes. Und wer noch nicht den Traum einer geileren Welt jenseits von Markt und Staat aufgegeben hat, stößt oft auf Ignoranz, aber auch auf berechtigte Kritik. Da wir denken, dass Utopien für gesellschaftliche Veränderungen unentbehrlich sind, ist es gerade wichtig, sich mit Kritik auseinander zu setzen, sie anzunehmen oder zu widerlegen und Fehler zu korrigieren. Ebenso notwendig ist es, immer wieder zu begründen, warum Utopien so wichtig sind, damit sie nicht zum blinden Selbstzweck werden. Einen Beitrag dazu möchten wir mit diesem Text leisten.

Fördern oder hemmen Visionen veränderndes Handeln?
Die Frage ist, ob Utopien dazu führen, dass mensch sich immer mehr in weltferne Träume flüchtet. Die Gefahr ist nicht zu leugnen: Wenn Utopien zur bloßen Wunschwelt im eigenen Kopf erstarren, um überhaupt noch mit der beschissenen Wirklichkeit fertig zu werden, führt das nicht zu aktiver Veränderung - sondern zur Flucht, welche nur den ganzen Quatsch stützt, vor dem mensch sich wegträumt. Dass kann aber nur dann passieren, wenn Visionen ganz allein gesehen werden, als etwas Außenstehendes, über das nur in Theoriezirkeln geredet werden kann.
Was fehlt: Aktion! Notwendig ist es daher, Visionen im Verbund mit Widerstand, mit Direkten Aktionen, veränderndem Handeln zu denken und auch auf diese Weise umzusetzen! Es hat sich in der Vergangenheit als naiv erwiesen, in aufklärerischer Manier darauf zu hoffen, dass sich die Utopien von selber durchsetzen. Um utopische Entwürfe in gesellschaftliche Diskussionen einbringen zu können, Menschen überhaupt noch zu erreichen, ist es notwendig, den Trott des alltäglichen Wahnsinns zu durchbrechen: Es geht darum, mit einfallsreichen Direkten Aktionen (Blockaden, Torten...) Aufmerksamkeit zu erzeugen und diese Risse mit unseren Inhalten, Visionen zu füllen. Die betroffenen Menschen sind so viel eher bereit, diese an sich heran zu lassen - sei es aus Wut, Verwunderung oder Neugier. Ansätze dafür, wie diese Verbindungen sinnvoll hergestellt werden können, existieren schon und warten auf breite Resonanz, auf praktische Umsetzung - durch uns!
Was weiter fehlt sind Strukturen, die uns mit unseren Ängsten, Problemen und Träumen auffangen. Denn was ganz wichtig ist: Für uns und andere Menschen muss erleb - und vermittelbar werden, dass Utopien nicht das ganz ferne Morgen sind, sondern etwas, mit dem wir schon heute anfangen können. Freiräume, Projekte, Widerstandsnetzwerke können durchaus eine gelebte Utopie sein. Und wer konkretes Handeln, z.B. gegen Autobahnneubau im größeren Kontext einer gemeinsamen, autoarmen - bzw. freien Utopie setzen kann, kann daraus wieder Durchhaltekraft ziehen, die für uns sicher notwendig ist. Der Traum ist nichts ohne den Einsatz für den Traum!

Sind Utopien und Analyse Gegensätze?
Einer der ältesten Vorwürfe ist der, dass Utopien eine Abwendung vom rationalen Denken hin zu idealistischer "Spinnerei" seien. Für uns ist die Frage schon falsch gestellt, weil sie einen Gegensatz aufbaut, den wir so nicht sehen: die schonungslose, selbstkritische Analyse der bestehenden Gesellschaft und Vorstellungen einer anderen Welt schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, gehören untrennbar zusammen.
Beide für sich führen irgendwann ins Leere: Entwürfe für eine andere Gesellschaft kommen nicht ohne eine Analyse der bestehenden aus, denn wer nicht versteht, warum Ausbeutung von Mensch und Natur, warum Machtstrukturen und Herrschaft existieren, wird diese nie verändern können. So können Visionen zwangsläufig nur als Flucht vor der nicht erkannten Wirklichkeit enden. Und ebenso braucht eine Analyse utopische Funken, um über das hinaus zu weisen, was kritisiert wird, Menschen Perspektiven aus den schlechten Verhältnissen anzudeuten! Wer z.B. keine Vorstellung von einer Welt ohne Autos hat, muss fast zwangsläufig vor Autobahnen und Betonwüsten resignieren. Denn es liegt einfach zu nahe zu sagen: "mensch ist das doof - aber es ist halt so." Das ist der Punkt, wo Analyse und Utopie verknüpft werden können, um Teil emanzipatorischer Politik sein zu können.
Wir finden es falsch, Utopien und Träume abzulehnen, weil sie etwas mit Emotionen zu tun haben - dass ist keine Absage an Rationalität, aber an ein aufspaltendes und reduzierendes Menschbild, dass Gefühle verteufelt, verdrängt und unterdrückt: Widerstand und das Streben nach einer freien Gesellschaft stützt sich nicht allein auf Einsichten, sondern auch auf unsere Wut, Hass, Spaß und Wünsche! Wenn dafür kein Platz ist, ist für uns kein Platz!
Und auf die Frage, ob Utopien nun Quatsch sind, können wir nur noch herbei zitieren: "Auch in Form von Hirngespinsten tragen sie in sich ein Körnchen Realität. Denn vieles wird gerade zu bestimmten Zeiten vorstell- und denkbar. In der Realität wachsen den Utopien Latenzen zu; es entstehen Möglichkeiten des "Noch-Nicht". Diese Möglichkeiten lassen sich nicht mehr als "bloß utopisch" negieren, sondern warten auf das handelnde Eingreifen der Menschen." (A. Schlemm, "Macht was ihr wollt!") So bezieht z.B. die Utopie eines arbeitsfreien - bzw. armen Lebens ihre (Überzeugungs-)Kraft aus der realen Chance, die Produktion durch hochmoderne Technik zu automatisieren.

Oder wieder nur starre Gegenbilder?
Viele Menschen kritisieren, dass visionäre Entwürfe selbst wieder starre Gegenbilder vorgeben würden, die keinen Raum zur eigenen Ausgestaltung lassen, von wenigen stammen und vielen aufgedrückt werden. Dieser berechtigte Verdacht bezieht sich insbesondere auf extrem genau durchdachte Entwürfe wie z.B. Ökotopia und Panokratie. Wir sehen es auch als Problem, wenn Visionen nur von einzelnen Menschen entwickelt werden, da dort eine gleichberechtigte Kommunikation vieler fehlt und soziale Rollen, in diesem Falle die der TheoretikerIn, zementiert werden. Und Utopien, die nicht in der Auseinandersetzung von Gruppen und Einzelpersonen wachsen, können zwangsläufig nur von außen an eine Bewegung heran getragen werden.
Eine Utopie einer Gesellschaft, die in sich Gleichberechtigung und Selbstorganisation tendenziell schon verwirklicht, kann daher nur entstehen, wenn sie von allen Menschen getragen werden kann - als selbstorganisiertes Projekt. Unterschiede und Eigenheiten dürfen trotz gemeinsamer Ziele nicht verwischt werden. Dazu muss die Rollenaufteilung in AktivistInnen und TheoretikerInnen aufgehoben werden: Nicht am Schreibtisch, sondern in Austausch und Auseinandersetzung von aktiven Menschen und Gruppen selbst könnten diese Gegenbilder entwickelt und weiter entwickelt werden. Dabei kann das Internet unterstützend sein, Erfahrungen haben aber gezeigt, dass nicht-virtuelle Treffen unersetzbar und viel intensiver sind - also bitte mehr davon!
Die Vision: eine bunte, offene Utopie, die aus und in der Bewegung entsteht, in der sich unterschiedlichste Ansätze treffen und treffen können und die eine Vernetzung von - trotz gegenteiliger Bemühungen - immer noch recht isolierten Teilbereichskämpfen bewirkt. So könnte die gemeinsame Vision einer Gesellschaft jenseits von Verwertungslogik und Rollenzwängen Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen (Anti-Atom, Anti-Gentech, Kinderrechte, Anti-Kapitalismus und Anti-Sexismus / Gender) nicht nur gedanklich stärker verbinden - ohne die Autonomie der einzelnen Aktionsfelder einzuschränken.
Aus disem Grunde ist es bedeutsam, dass wir in Utopien nicht die letzte Antwort oder die zu Ende gedachte Lösung sehen, sondern etwas Unfertiges, Prozesshaftes, das sich mit den praktischen Veränderungs- und Diskussionsprozessen weiter entwickelt kann. Neuere, eher fragmentarische Utopien wie bolo-bolo, die viele Fragen und Antworten offen lassen, weisen da schon in die richtige Richtung - wenn auch die Diskussion noch breiter, offener und vielfältiger sein könnte. Wenn wir Utopien als Teil des Kampfes für ein freies Leben begreifen, dann müssen sie auch hinterfrag - und veränderbar sein! Allein schon deswegen, weil wir unsere Gegenbilder vor dem Hintergrund der Gesellschaft entwickeln, die wir verändern bzw. überwinden wollen. Mit diesem Widerspruch und einem möglichen Umgehen damit schliddern wir in den nächsten Absatz...

Visionen...geht das denn?
Ein Einwand gegen Visionen ist, dass es unmöglich sei, eine andere, freie und ökologische Gesellschaft zu denken, da unser Denken völlig von der Welt, wie sie ist, bestimmt wird. Und der zweite Teil des Einwandes ist ohne Zweifel zutreffend: So ist z.B. in vielen Visionen die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau beibehalten worden, ebenso wie in älteren Utopien oft eine technikkritische und ökologische Perspektive fehlt. Dennoch finden wir es falsch, diese einfach als Ganzes zu verdammen. Wir alle stecken in der Gesellschaft samt ihren Zwängen, die wir verändern und überwinden möchten - auch an uns selbst. Und es ist klar, dass unsere Vorstellungen einer geileren Welt durch die Brille der alten entstehen. Anders gesagt: Utopien richten den Blick auf eine bessere Zukunft, aber wir sehen dieses andere Leben immer aus den getrübten Augen einer miesen Gegenwart!
Wir sehen darin keinen Grund, jede Utopie zu verwerfen, sondern einen viel größeren, ehrliche, gemeinsame Reflexionen und Auseinandersetzungen voran zu treiben, um uns diese Widersprüchlichkeiten immer wieder bewusst zu machen. Nochmal: Die genannte Kritik ist richtig, absolut gesetzt schließt sie jedoch radikale Umbrüche völlig aus: Ein Verzicht auf Gegenbilder würde bedeuten, uns die Chance zu nehmen, Veränderung zu denken, die über eine herrschaftsförmige Gesellschaft hinaus weist und damit auch die praktische vorbereitet. Abschließend noch zwei Sätze dazu: Das System kann (über-)leben, weil es die Fähigkeit der Menschen verschüttet, phantasievoll zu sein, mit ihren Gedanken und Träumen kleine Risse in den gesetzten Rahmen zu denken, wo dann Neues, Anderes entstehen kann. Ohne den Traum kann der Traum nicht Wirklichkeit werden.

Fazit ?
Eine Bewegung von unten mit realistischer Perspektive ist nicht denkbar ohne Zielvorstellungen und Visionen, die nicht auf Markt, Staat und autoritäre Strukturen setzen - sondern auf Menschen, freie Vereinbarungen und kollektive Selbstorganisation. Anders kann aus unserer Sicht der Orientierungs- und Perspektivlosigkeit sozialer Bewegungen nicht entgegen gewirkt werden. Dabei sind wir mit den schon benannten Schwierigkeiten konfrontiert, Gegenbilder...
  • nicht am Schreibtisch - sondern in kontinuierlichen, gemeinsamen Diskussionsprozessen entstehen zu lassen. Ziel ist ein selbstorganisierter Entstehungsprozess von vielen.
  • an ihre reale Umsetzung zu knüpfen, als Teil des Prozess zu sehen - und zu leben!
  • zu entwerfen, die gemeinsame Ziele setzt, ohne die Unterschiede der agierenden Gruppen auszulöschen. (eine Welt mit Platz für viele!)
  • in Zusammenhang mit Direkter Aktion zu setzen, um Visionen an Menschen heran zu tragen und in öffentliche Diskussionen einzugreifen. Denken, träumen, handeln!

Dass die entstehende Bewegung von unten von diesem Anspruch meilenweit entfernt ist, ist ein offenes Geheimnis. Die bisherigen Versuche, ein (zugangs-)offene Utopie zu verwirklichen (z.B. "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" auf www.opentheory.org), sind daran gescheitert, dass es kaum bis keine Beteiligung gab. Und gerade das finden wir schade, weil es wenige aktive Leute auf eine zugewiesene Rolle fest legt. Die Lösung dieses Problems kann dieser Text nicht anbieten. Denken, träumen, handeln - die Utopie selbst in die Hand nehmen.

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