SUBVERSIV UND ZEILENSPRENGEND?   



Nachts im Hotel in Deutschland

Nachts, im Hotel in Deutschland, liege ich wach.
Dunkel verwehender Lärm, verworrenes Lachen,
Das die Treppen hinabwärts
Nach der Strasse entfernter sich auslacht,
Flutet zurück als Schweigen

Die Treppen empor wie ein Langsam ansteigendes Wasser
Bis an das Herz, das wartet.

Da sind die Toten alle
Unsere gemordeten Brüder,
Auf steigend aus dem schwarzen Wasser der Nacht
Bis an das Herz,
das wartet,
Das nicht vergessen kann, das niemals vergisst.

Und das Herz füllt sich mit Toten,
Aus dem schwarzen Wasser der Nacht
langsam Aufsteigenden, schweigenden,
Und wird dunkel und schwer und wartet.

Und die Toten flüstern. Ganz leise, kaum hörbar
Flüstern die Toten ins Herz mir:
"Leben die Mörder noch,
Unsre Mörder, Die uns ans Hakenkreuz schlugen, Die Hakenkreuzmörder?"

Und ich flüstre zurück,
Ganz leise, kaum hörbar:
"Ja, sie leben, sie leben noch, Viele leben - sie lachen!"

 David Luschnat (Jahrgang 1896 / 1933 emigriert / 1945 zurückgekehrt)


Versuch einer teilweisen Deutung der ersten und letzten Strophen:

L. beschreibt zweierlei: die Situation 1933, die er rechtzeitig deuten konnte, dann die daraus entstandene und nie mehr aufhörende Bereitschaft, auf alles zu achten, was eine Wiederholung fördert. Nachts ist, wenn es dunkel ist, wenn viele Menschen Probleme damit haben, sich zurechtzufinden, L. meint rechtslastige politische Situationen. Deutschland kann wieder, davor warnt L., "das Land der Täter" werden. Hotel steht dafür, daß dieser Staat nicht unbedingt ein Platz zum immerwährenden Wohnen und Leben ist für alle, die wachsam sind. L. ist nicht in irgendeinem, sondern "im" (= in dem) Hotel, es gibt so gesehen nur eins, das ist dies Land selbst: Für die EmigrantInnen und RückkehrerInnen und alle, die die 12-jährige Nacht bedenken, ist Deutschland wie ein Hotel, sie sind bereit, wieder wegzugehen, "sitzen auf gepackten Koffern", und es ist für L. schon wieder "nachts", allerdings kann er es uns - noch - mitteilen.

Und L. ist wach, d.h. er ist wachsam, beobachtend, er weiß um die Bedrohung, ist aber nicht furchtsam. Er warnt uns auf dem Umweg über sein "ich", d.h. seine eigene Erkenntnis der Gefahr. Dunkel (verwehender Lärm): eine Stimme kann dunkel sein, aber wie steht Lärm im Zusammenhang mit dunkel? Es lehnt an an die als bedrohlich empfundene Nacht, in der Wachsein nottut. Lärm: das ist der Faschismus, eine zusätzliche Erklärung, warum L. wachgeworden ist. Schlimm ist das Wort "verwehend". Der Lärm hört nicht auf, er zieht weiter (es weht, kann stürmen: L. schrieb z.B. vor 1933 ein Buch über den Weltkrieg, Titel: "Wind gesät-Sturm geerntet") andernorts hin; in andere Länder zieht die Gefahr, die die Nacht gebracht hat.

Die Treppen hinab geht verworrenes Lachen: was das meint, daß es abwärts geht, dürfte klar sein, und "verworren": die Ursache des Lachens ist nicht vernunftmäßig einzuordnen, genau wie Lärm nicht zerlegbar ist. Wer lacht, wird im letzten Teil des Gedichtes deutlich. Das Lachen zieht nach der Straße: Straße ist Sinnbild für das, was 1933 begann: die Umzüge der SA usw. Der angespannt wachende Luschnat überdenkt dies Nachtsein und den Lärm, das verworrene Lachen. Das Resultat der Zeit von 33-45, die er im Exil verbringen konnte, wird ihm deutlich im Schweigen ("wir haben von nichts gewußt"), das zunächst und bis zur heutigen Stunde darauf folgte, alles mit Schwärze (SS-Uniform!, eigentlich gemeint ist das Verdrängen) überflutend, aus dem heraus es nur flüstern kann, anstatt zu allen vernehmbar zu sprechen, was z.B. die, die den Naziterror wissenschaftlich untersuchen, sehr beklagen. Auch L. ist sich dessen bewußt, daß er kaum gehört wird, auch er kann nur flüstern, er gibt den Toten und nun uns die Aufklärung über die Ursache der Nacht, den Lärm, das Lachen..

...Die Deutung, warum die Toten, die Luschnat fragen, nicht zu wissen scheinen, ob die Mörder Tote (wie sie, dann sollten sie doch wohl nicht fragen) oder Lebende sind, läßt sich teilweise mit den Deutungsversuchen verschiedener Weltanschauungen über das Schicksal der Toten aufhellen, andererseits stellt L. damit nachdrücklich die Frage nach dem Weiterbestehen des Faschismus. "Viele leben": ist logischerweise nicht rein physisch gemeint, sonst wäre das Gedicht vielleicht nicht notwendig. "Leben" ist hier negativ zu sehen, es meint das Weiterwirken der braunen Pest als Denkschema. Das Gedicht ist große Lyrik und wert, bekannter zu werden.