KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN   



Nacheinander tastende Welten

Immer wieder sitze ich schweigend am Rande von Gesprächsrunden. Selbst wenn eine „nette“ Unterhaltung winkt, ziehe ich eher die Einsamkeit vor, dabei das Geschehen beobachtend und analysierend. Grund dafür ist gar nicht so sehr, dass ich zu schüchtern wäre oder nichts zu sagen hätte. Aus den meisten Gesprächen gehe ich einsamer und niedergeschlagen hervor, weil es nicht mal den Versuch gab, aufeinander einzugehen und kleine „Warpzonen“ zwischen den Welten zu erfinden. Ich habe Angst vor Kommunikation, welche nur noch einmal die Isolation bestätigt, die sie brechen könnte. Und irgendwie finde ich keinen Trost im „small talk“, der netten Begleitmusik zur grausamen Vereinzelung und Kälte. Gleichzeitig merke ich, wie gezeichnet ich von erfahrener Gleichgültigkeit bin und wie mein sich häufender Rückzug aus Kommunikation mich verändert: Wie ich mir antrainiere, nur auf meine Welt fixiert zu sein, anderen nicht zuhöre und das nicht einmal mitteile. Nur ganz selten habe ich das Gefühl, das ich anderen wirklich begegne, dass Wirklichkeiten nacheinander tasten. Aber ich spüre, dass ich genau nach solcher Nähe sehne – ein Wunsch, der sich schon ziemlich lange durch mein Leben zieht.

„Reden wir über das gleiche?“

Es gibt keine Wahrheit oder Objektivität – und auch keine neutralen Beobachterinnen. Vielleicht gibt es eine Welt da draußen, aber worüber ich mich mit anderen austauschen kann sind nur die subjektiven Wahrnehmungen, die jede in ihrem Kopf „konstruiert“. Wenn zwei Leute über den gleichen Baum reden, reden sie nicht über das Gleiche – weil beide eine andere, unsichtbare „Brille“ tragen, durch welche sie die Welt sehen. Alle Menschen konstruieren sich ihre eigene Wirklichkeit, um sich zurecht zu finden und handlungsfähig zu sein, abhängig von ihren Erfahrungen, Gedanken, Meinungen, Wünschen und Hoffnungen. Sie schreiben Situationen oder Handlungen persönliche Bedeutungen zu, interpretieren Ereignisse, ziehen Schlüsse – und dieser Prozess ist immer bereits in die Wahrnehmung eingeschrieben. All das liegt nicht in einer objektiven Wirklichkeit, sondern wird von den Menschen in die Welt hinein gelegt, um ihre jeweils subjektive Wirklichkeit herzustellen. Es gibt keine neutrale Beschreibung – Wahrnehmung ist Interpretation. Weil alle Wirklichkeit subjektiv ist stehen die unterschiedlichen Sichtweisen auch nicht gegeneinander.

Diese Konstruktionen sind dabei nicht bloß zufällig oder individuell frei gewählt – von Geburt an werden Menschen darauf zugerichtet, bestimmte Setzungen in ihre Wahrnehmung zu übernehmen, z.B. die Konstruktion von Geschlecht. Daher gibt es tendenzielle Angleichungen, was diese persönlichen „Brillen“ anbelangt. Trotz aller Zurichtung und Normierung bleiben die Wahrnehmungen jeder Person einzigartig.

Unter „Schon verstanden“ verschüttet

Sinnliche Erfahrungen sind primär wortlos. 'Sensa' sind stumm. In den Wörtern ist das Sinnliche abgestreift. Wenn wir etwas beschreiben, bezeichnen wir nicht unsere Empfindungen, sondern wir passen unsere Empfindungen den abstrakten Symbolen an. Subjektive Empfindungen und sinnliches Erleben werden zugunsten der pragmatisch verwertbaren, objektiven Konstrukte vernachlässigt. Im Vorgang des Abstrahierens halten wir immer den Fluss des konkreten Erlebens an.

Verycken, Laurent (1994): Formen der Wirklichkeit. Auf den Spuren der Abstraktion. Penzberg: GrundRiss-Verlag

Begriffe sind Abstraktionen, die für jede Person mit anderer, konkreter Bedeutung gefüllt sind, die ebenfalls je nach Situation anders sein kann. Hinter den gleichen Begriffen ragen unterschiedlichste Erfahrungswelten auf. Daraus ergibt sich Distanz. Auch wenn ich versuche, andere zu verstehen, kann ich dabei nicht meine eigene Brille absetzen. Deshalb entstehen in mir Zweifel, wenn mir allzu selbstverständliches Verständnis entgegengebracht wird, so als gäbe es diese Brillen gar nicht oder wären sie nicht von Gewicht. Zu meinen, eine andere Person ganz zu verstehen, bedeutet, diese als eigenständigen Menschen durchzustreichen - vielleicht fühle ich mich deshalb manchmal von voreiligem, aufdringlich-selbstsicherem Verständnis aufgefressen.

In Sätzen wie „Ich versteh dich schon“ sprechen Menschen viel mehr zu sich selbst als zum Gegenüber. Es geht oft darum, sich selbst einzureden, etwas verstanden zu haben, was mensch nicht verstehen kann. Was als Verständnis verklärt wird bedeutet oft, die Erfahrungen anderer so zu glätten, dass die Unterschiedlichkeit nur nicht mehr gesehen wird. Im „Schon“ steckt viel Bedeutung, es schwingt eine aggressive Note mit; eine mögliche Übersetzung wäre „Hör auf zu reden, ich will dir nicht nachfühlen“. Es ist vielleicht auch eine Art der Selbstberuhigung, sich „schon“ genug auf die andere eingelassen zu haben, während mensch gerade nicht wagt, an und auf den brüchigen Rändern der eigenen Wirklichkeit zu surfen, wo vielleicht zaghafte Begegnung möglich wäre oder wir plötzlich übereinander stolpern.

Es geht nicht darum, Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit zu bannen, sondern diese anzunehmen als Möglichkeit für gegenseitigen Austausch. Wie langweilig wäre ein Gespräch, wenn eine andere nur das bestätigt, was ich selber denke.

Wir treffen uns da, wo wir nicht sind

Es liegt eine ziemliche Anstrengung darin, die Wahrnehmungen anderer mit der eigenen Brille „aufzunehmen“ und in die eigene Sprache zu übersetzen, ohne das zu übergehen, was bei der reinen Übertragung verloren ginge. Zu versuchen, die dahinter liegenden Gefühle und Erfahrungen zu erspüren, die unausgesprochenen Zwischenräume. Die Begriffe so zu wenden, dass sich das andeutet, was hinter den Abstraktionen verborgen ist. Sich einer anderen Welt durch die eigenen Anschauungen zu nähern, ohne dass Nähe eigentlich Auslöschung der anderen meint.

Es geht nicht darum, Distanz aufzulösen. Sondern eher darum, diese verständlich, deutlich zu machen und auszuhalten. Eher liegt Nähe für mich darin, Unverständnis und Distanz zu kommunizieren. Vielleicht ist das überhaupt erst Voraussetzung für Begegnung, die nicht nur die Isolation festschreibt, welche diese beschissenen Verhältnisse produzieren. Nähe wird „hergestellt“ und verdichtet sich in seltenen Augenblicken – aber sie ist kein Zustand, jedenfalls entnehme ich das verschiedenen Erfahrungen.

Erfüllende Kommunikation liegt für mich weniger in abschließendem, endgültigem „Verständnis“, als in dem beständigen Versuch, den Wahrnehmungen der anderen nachzuspüren. Ein zaghaftes Nachfragen geht mir näher als ein überhebliches „Alles klar“, in dem immer auch kaltschnäuzige Gleichgültigkeit anklingt. Ich habe Angst vor meiner eigenen Bequemlichkeit, davor, mir die Wahrnehmungen einer anderen einzuverleiben. Lieber halte ich es mit dem ehrlichen, zuweilen schmerzvollen Eingeständnis, dass es manchmal oder auch nur temporär unüberbrückbare Distanz gibt, dem Eingeständnis, nicht alles zu verstehen oder unverstanden zu bleiben.

Nur ganz selten habe ich das Gefühl, dass ich anderen wirklich begegne, dass Menschen nacheinander tasten – vorsichtig und doch intensiv. Nachfühlen ist immer ein Versuch, ein behutsam-inniges Bemühen. Mir ist es wichtiger, dieses Tasten zu spüren als sich gegenseitig „echtes“, völliges Verständnis einzureden, um jeden Funken von Einsamkeit zu verdrängen. Ich fühle mich wohl in Gesprächen, wo Resonanz, gegenseitiges Feedback und Reflektion alltäglich sind, ohne in Höflichkeit oder Routine zu erstarren. Und dadurch das lebendige Tasten zu beenden, das mir manchmal das Gefühl vermittelt, nicht alleine zu sein.

Das scheinbar Unmögliche und unglaublich Schwierige liegt darin, sich weder die andere Person einzuverleiben, noch sie zum ganz Anderen, zum Fremden, zum Objekt zu machen, dass völlig von der eigenen Person losgelöst und weg geschoben werden kann. Das Tasten nicht zu verlernen.

  Espi Twelve, 11. Mai 2005 (basierend auf Notizen und tastenden Gesprächen auf dem CULDT-Camp in Leipzig)


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