GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE
nicht anders als und morgen geht es so weiter weiter weiter
Ein nicht endender loop der Einsamkeit nun. Er war ein klein wenig zu spät. Am Treffpunkt standen bunte Menschen, etwa hundert an der Zahl, angereist aus nah und fern, unterhielten sich oder lauschtem dem Redebeitrag eines einen, der sich schon dem Ende zuneigte. Ein kurzer, aufmerksamer Blick zeigte ihm bekannte und viele unbekannte Gesichter, über die er nur kurz strich, doch er spürte, wie er schon nach ihnen tastete. In diesem ersten Augenblick freute er sich richtig, dass so viele Menschen da waren, sich wünschend, mehr als nur ihre Gesichter zu sehen. Das war auch der Grund, warum er hier her gekommen war, Wunsch nach Nähe und auch Zuneigung.
In einem Sekundenbruchteil blitzten Erinnerungen an ihm vorbei,
dekomprimiert, in mehreren Graustufen: die letzte Woche im Klotz war ihm
vorgekommen wie ein ganzes Jahr. Es quälte ihn so sehr, Tag für
Tag für gestohlene Stunden an diesem Ort gefangen zu sein. Wie ihm
Leben genommen wurde...gewaltsam. Schnell war ihm klar geworden, dass
der Klotz ihn nicht los liess, dass er auch dann auf ihn zugriff, wenn
er ihn in den Feierabend entliess: wenn er heimatlos nach hause gekommen
war und sich ins Bett legte, nur um sich einen ruhigen Moment lang zu
entspannen, brach alles herein: die Last, der Klotz, das du mußt
aber. Dann, plötzlich und unerwartet, spürte er, wie ausgesaugt,
leer und kraftlos ihn der Klotz hinterließ.
Wenn er später aufwachte, versuchte er zu lesen, aber oft
konnte er nicht. Wenn er dann auf die Uhr blickte und sah, dass die wenigen
Stunden fort waren, erschreckte und erschauderte streichel. Aus der rot
leuchtenden Anzeige des Radioweckers grinste ihn der Klotz an. Er hatte
ihn eingeschnürt. Du bist gefangen in einer Zeitschleife. Und manchmal,
wenn er sich dieser Erkenntnis voll öffnete und sich von ihr durchdringen
ließ, war streichel kurz davor, in Panik zu geraten. Jede Minute,
die streichel sich nun noch nahm, raubte er sich seinen Schlaf - und er
konnte dies fühlen, wenn er morgens durch das Radio geweckt wurde.
Egal war es, da streichel eh keinen Schlaf mehr fand, obwohl
er ihn so suchte, ersehnte, um zu entkommen, weg zu sein. So viel Einladendes,
das vom süßen Geruch des Kopfkissens und der kuschelweichen
Bettdecke ausging, sein Teddy, der ihn mit schwarzen Knopfaugen anstrahlte.
Doch alles Schöne, das am Schlafen haftete, verblasste vor der stummen
Botschaft des Klotzes, die ihm von überall her entgegen schrie und
in seinen Ohren weh tat: und morgen geht es so weiter. Du bist gefangen
in einer Zeitschleife. Wie ein Sprung in einer CD: das Grauen wiederholte
sich jeden Tag. streichel, reduziert auf ein paar Stunden Freizeit, auf
ein Intervall zwischen zwei hochgezogenen Enden. Eine Null zwischen zwei
Klammern. Wie ein Dreiminutensong im Radio. streichel, reduziert auf ein
paar Stunden Freizeit, in denen er ja richtig aufblühen könne.
Wie denn, wenn ihm der Klotz mit den Hochgezogenen immer wieder den Stengel
abknickte, wenn er drohte, sich selbst zu entfalten.
Allein, alleinsein - allein - allein - alleine. Ein nicht endender
loop der Einsamkeit nun. Auch Lob der Einsamkeit ist nur da, um sie überhaupt
zu tragen. Es gibt kein Leben zwischen zwei Klammern.
Wieder zurück. Sein Gedankenschweif ohne funkelnde Sternschnuppe
hatte nur Sekunden angedauert. Jetzt setzten sich die Menschen in Bewegung.
Da waren Laken mit Schriftzügen und Symbolen, die von mehreren zusammen
getragen wurden. Einige verteilten Zettel mit Worten und Sätzen und
zu wenig Bildern, während sie die Strasse fort schritten. Auf einem
der Zettel drängten sich Aliens mit spitzen Ohren aneinander. Hochgezogene
zogen an ihnen vorbei...sie zogen an Hochgezogenen vorbei. Ein Mensch
trug etwas, dass ihn so berührte, als würde es direkt an sein
Herz klopfen: ein hölzerner Stern in einem Käfig aus Draht.
Der Klotz wartete bald wieder auf ihn. Aber dies war ja die ganz
andere Welt, versicherte er sich - nicht die der Hochgezogen. Puh. Einer
vorne mit einem Sprachverstärker fing an, etwas zu schreien und sogleich
stimmten viele andere mit ein. Laute, kraftvolle Chöre...doch. Irgendwie
waren seine Ohren unfähig, ihm den Inhalt zu übermitteln. Alles,
was streichel hörte waren Sprünge in bewährten CDs. Immer
wiederholen, immer wiederholen, immer. Und morgen geht es so weiter. Sie
schrieen zusammen die selben Worte, und keine sah die andere an. Nein
- seine Ohren waren heil.
Immer wieder versuchte er, mit Menschen zu sprechen. Doch Gesichter gleich Glasscheiben, die spiegelten. Seine Blicke fühlten sich an wie ein Klotz, der zurückgeworfen wurde...ihn traf. Nebeneinander hergehen, so wie die vertrauten Gesichter, die ihn ansahen, als wäre er ihnen unbekannt. Du existierst nicht für uns, schienen ihre abweisenden Augen zu beteuern - fragte sich nur, wem dies mehr galt. Menschen gingen nebeneinander her, keine Konversationen, kein noch so zögerliches hallo. Und streichel kam sich immer mehr vor wie eines der Aliens auf den weiter gereichten Zetteln. Als nach dem Ende des letzten Redebeitrags beschlossen wurde, die Abreisenden zum Bahnklotz zu begleiten, war er lange unschlüssig. Irgendetwas stimmte nicht, nicht erst seit eben...eine schon von Anfang an währende, runterziehende Begleitmusik. Die Menschen zogen fort, nichts mehr blieb außer Begleitmusik. Traurig. Und nachdem auch die letzen Menschen aus seinem Blickfeld zu schwinden drohten, ging er los, obwohl er fest stand. Warum...warum folgte er ihnen? war die Frage, welche schon die ganze Antwort trug. Die selbe Einsamkeit, die streichel aufheben wollte, wurde hier von ihnen nochmals mit Zement versehen. Mit miesem Gefühl im Bauch und anderswo trottete er den anderen Menschen in einiger Entfernung hinterher.
Am Bahnklotz sah er, wie wenig entfernt ein so vertrautes Gesicht
und ein weniger Vertrautes - nicht aber weniger Geliebtes - den Klotzplan
mit so vielen Uhrzeiten beäugten. Trotz ihres engagierten wir ignorieren
dich trat er auf sie zu, öffnete den Mund. streichel wollte es nicht
einfach so hinnehmen.
»Wann können wir uns wiedersehen?« fragte streichel freundlich.
»Wenn wir uns schon hier treffen, wollte ich die Chance nutzen. Von euch
gingen ja kein Pfeile aus.«
»Da gibt es nichts Neues.« sagte das vertrautere Gesicht, während
das andere stumm blieb. »Nun, ich hoffe ihr erinnert euch noch an
das, was leider ausgefallen ist und was wir eigentlich nachholen wollten,
oder?«
Daraufhin schlug ihm zu viel leeres, verdeckendes Rausreden entgegen,
dem irgendwann eine bedeutsame Stille folgte.
»Ich habe keine Lust, hier meine Zeit damit zu verschwenden, vor
eine Wand zu rennen.« sagte streichel laut, emotional und wandte sich
von den verschlossenen Türen ab. Die Wut, die in den Worten strahlte,
war unüberhörbar. Wie oft hatte er seinen Ärger zurück
gehalten - geschluckt.
»Jetzt hast du's uns aber gegeben.« rief das vertraute Gesicht
ihm auf verspottende Weise hinterher. Es verletzte streichel und machte
eine dieser Wunden, die nie ganz verheilen. Ja, dass hatte ihm der Klotz
bei gebracht: so hart und unsensibel zu sein, dass es nie schwer fiel,
andere zu verletzen.
»Ich wollte einfach nicht mehr damit weiter machen, meinen Frust
zu schlucken«, erklärte er dann ehrlich, immer noch wütend.
In einem ganz anderen, leisen und niedergeschlagenem Tonfall fuhr er fort:
»Tut mir leid, aber ich habe noch einen Restbestand an Gefühlen,
obwohl du so ein Arschloch bist.« streichel spürte, wie er seine
Gefühler ausstreckte...nach dem anderen. Ein zusammen ist mehr als
nebeneinander hergehen.
Die vertraute Fensterscheibe stieg die Treppen hinunter. Ein nicht
endender loop der Einsamkeit nEeeeEeiiin.
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