GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE   



Krankenhaus G.O.D. pt.3

Als die junge Mutter ihr Neugeborenes zum ersten Mal betrachtet, gibt sie dem kleinen Wesen den Namen Kevin. Dabei entgeht ihr eine winzige Kleinigkeit, die einen gewaltigen Unterschied ausmacht. Ein folgenreicher Fehler, denn an Kevins dreizehnten Geburtstag ist sie und die Familie tot. Als die Polizei eintrifft, steht Kevin völlig verstört im Flur, ein rotes Küchenmesser in der Hand. Man kann ihr nicht einmal einen Vorwurf machen. Wenn ein Mädchen Kevin heißt, kann es nur zu einer Massenmörderin werden...

Geräusche von Schritten hallen über den dunklen Korridor und vermischen sich mit denen der stürmischen Nacht, die draußen ihr Unwesen treibt. Sie gehören jemanden, der längst aufgeben hat, sich lautlos fort zu bewegen. Wegen der Dunkelheit kann man nicht feststellen, um wen es sich dabei handelt. Aber wenn jemand um diese Zeit heimlich durch ein altes Schloß schleicht, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen, das dieser sich nur ein Käsebrötchen besorgen möchte. Vermutlich will dieser jemand auch nicht nachsehen, ob der Postbote schon da war. Ein unterdrücktes "Autsch!" deutet darauf hin, dass er (oder sie) soeben gegen eine Wand gestoßen ist. Die Schritte hören abrupt auf, ein langgezogenes Knarren erweckt den Eindruck, das eine Tür mit äußerster Vorsicht geöffnet wird. Regen prasselt auf das Dach, um die Spannung auf ihren Höhepunkt zu bringen. Die Turmuhr schlägt zwölf.

"Was wird jetzt passieren?" ist die Frage, die sich aufgeregte Leser stellen, während sie einen verängstigten Blick auf die Zimmertür werfen. Erst nachdem sie festgestellt haben, dass kein wütender Dämon herein stürmt, lesen sie unbesorgt weiter.

Am Rand der umgebenden Wälder erscheint eine in schwarz gekleideter Massenmörderin, das von Narben durchzogene Gesicht durch eine Kapuze verdeckt. Eigentlich ist diese Kopfbedeckung überhaupt nicht erforderlich, da der Regen tunlichst vermeidet, die Frau zu treffen. Sie befindet sich am Anfang eines geheimen Pfades. Ihr Name ist Kevin.

Auf der Wiese schlägt ein Blitz in eine ahnungslose Kuh und teilt sie in zwei gleichmäßige Hälften. Durch das in den Flur einfallende Licht kann man einen kurzen Blick auf die Rückseite der Gestalt erhaschen: Sie (das Geschlecht ist nicht erkennbar) ist groß, trägt eine schwarze Badehose und einen grauen Pelzmantel, der aus den Köpfen von unschuldigen Seerobbenbabies gefertigt wurde. Die Pantoffeln der Person weigern sich gegen jegliche Beschreibung. Sie ist gerade dabei...es ist wieder dunkel...die Tür hinter sich zu schließen. Es schließt sich eine gespenstische Stille an, die das Grollen des Donners ohne weiteres verschluckt. Langsam verflüchtigt sich auch der Duft von Erdnußbutter, der aus dem hinter der Tür liegenden Raum entweicht ist.

Die schwarze Frau schreitet zielstrebig voran, mit starr nach vorn gerichteten Blick.

Ein zweiter Blitz zuckt durch die Finsternis, sein Ziel ist der Schloßgraben. Während einige leblose Krokodile an der Oberfläche des Gewässers erscheinen, wird die nun geschlossene Tür sichtbar. Mit goldenen Lettern ist dort ein Schriftzug angebracht, der seit langer Zeit vergeblich darauf gewartet hat, gelesen zu werden: EINTRITT UNTERS...Mist, schon wieder dunkel. Man könnte sich jetzt Gedanken machen, was die weiteren Buchstaben sind. Man kann es aber auch sein lassen, denn die folgenden Ereignisse sind Anzeichen dafür, das die Tür ihr momentanes Erscheinungsbild sehr bald drastisch verändern wird: Diesmal ertönt ein flüchtiges Knarren. Die Laute von schnellen Schritten bestätigen, dass es derjenige, der gerade durch die Tür stürmt, ausgesprochen eilig hat. Diese besondere Form der Eile wird in der Regel von solchen Leute angewendet, die jede Menge Ärger haben. Man kann die Geräusche von splitterndem Holz und zusammenbrechenden Mauern vernehmen. Anscheinend hat dieser jemand wirklich enormen Ärger am Hals. Der Boden des Korridors erzittert voller Angst unter mächtigen, vierbeinigen Schritten, die eindeutig keinem Menschen gehören. Was es auch immer ist, nach der Richtung der Geräusche zu urteilen, scheint es die erste Gestalt zu verfolgen. Mehr läßt sich momentan nicht zur Situation sagen, da es immer noch stockfinster ist. (Eine dieser Infrarot-Kameras wäre jetzt sicherlich hilfreich.)

Ein dritter Blitz kommt wie gerufen. Er (auch wenn sich Experten streiten, ob elektronische Ladungen ausschließlich männlich sind) trifft einen Durchgeknallten, der splitternackt auf einer Lichtung im naheliegenden Wald steht. Er wartet seit Stunden darauf, dass Außerirdische ihn entführen, weshalb er gar nicht mitbekommt, dass er als menschlicher Blitzableiter fungiert und unter Hochspannung steht. Er vergißt sogar, auf der Stelle zu sterben, weil er seine ganze Konzentration darauf ausgerichtet hat, von fremden Wesen abgeholt zu werden.

Jetzt liegt die Hälfte des Weges hinter Kevin, es gibt keine Anzeichen von Ermüdung, nichts deutet auf erste Blasen an den Füßen hin.

Während dessen ist in dem langen Flur folgendes zu beobachten: Die nun als Junge identifizierte Gestalt (mit der ungewöhnlichen Kombination von Badehose und Pelzmantel) scheint alle Bemühungen daran zu setzten, sich möglichst schnell fort zu bewegen, was dementsprechend aussieht. Sein Gesicht ist angstverzerrt und drückt unverhüllte Verzweiflung aus. Der Grund dafür ist leicht zu ersehen, wenn man ihm über die Schulter blickt. Ungefähr drei Meter hinter ihm ist ein sichtlich aufgebrachter Elefant, der die Verfolgung aufgenommen hat. Dieser ist gerade erst dreizehn geworden und noch verhältnismäßig klein, außerdem trägt er einen modischen Hut, mit dem er ganz putzig aussieht.
  Was aber bringt einen Elefanten dazu, einen Menschen zu Apfelmus zertrampeln zu wollen? fragt mensch sich unweigerlich. Nun, vielleicht gefällt es ihm nicht sonderlich, dass der Bursche vor ihm seine Stoßzähne in den Händen hält und sich damit verdrücken will. Bleibt noch die Frage offen, warum er diesen Hut auf seinem Haupt trägt, was bei Elefanten und anderen Dickhäutern als ungewöhnlich bezeichnet werden kann. Man könnte mutmaßen, dass er sich vor der gefährlichen UV-Strahlung schützten will, um einen Sonnenbrand zu vermeiden. Da das Risiko, einen Sonnenbrand zu kriegen momentan so hoch ist wie die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, erscheint diese Erklärung jedoch wenig plausibel. Egal, schließlich ist eine Anwort auf diese Frage nicht lebenswichtig. (Wenn doch, kann eine wissenschaftliche Abhandlung aufschlußreich für den Leser sein. Denkbar ist auch, diese in höchstem Maße bedeutsame Frage aus philosophischem Blickwinkel zu analysieren. Es gibt desweiteren ein breites Angebot an themabezogener Literatur; Mode für Mollige, Dumbo will seinen Schal nicht tragen oder Wo gibt es Unterwäsche für meinen Elefanten? von H. Jedermann, um nur einige zu nennen.) Die Dunkelheit kehrt zurück. Weitere Blitze winden sich in kurzen Abständen durch die Nacht, weshalb ein netter Stroboskop Effekt erzielt wird, der die Gemächer des Schlosses in eine Disko verwandelt würde, wenn gleich die angemessene Musik fehlt.
  Der immer noch wütende Elefant greift mit seinem Rüssel nach der Schulter des Jungens...es ist dunkel, Bruchteile einer Sekunde später ist es wieder hell...das Riechorgan des Dickhäuters bekommt nur Leere zu fassen, weil der Stoßzahn-Dieb schon wieder zwei Schritte nach vorn gemacht. Dieses Spiel wiederholt sich unzählige Male, bis sich allmählich das Ende des Flurs nähert, an dem sich eine zweite Tür befindet. Der Junge öffnet die Tür...es ist dunkel, das Klicken des Schlosses ist zu vernehmen, der nächste Blitz erhellt die Szene...die Tür ist wieder geschlossen und der Dieb ist dahinter verschwunden. Der Elefant rennt auf die Tür zu...das Licht verschwindet, es ertönt ein lautes Krachen, das Licht kehrt abermals zurück...die Tür besteht nur noch aus Holzsplittern. Ein sich wiederholendes Bumm!, verbunden mit stöhnenden Trompeten, verklingt nach einiger Zeit.

Das Zucken der Blitzte findet ein schlagartiges Ende, weil es inzwischen keine Wiederkäuer mehr gibt, die feinsäuberlich geteilt werden könnten. Zum letzten mal erklingt ein krachendes Donnern, das die Aufgabe des Unwetters für beendet erklärt. Der Sturm zieht sich zufrieden zurück, die letzten Regentropfen fallen gleichgültig zu Boden. Was bleibt ist die einsame Nacht, Weiden mit totem Rindfleisch und eine Stimmung, die nahendes Unheil verkündet. Gleichzeitig begibt sich ein alter Greis enttäuscht nach Hause. Er hat die ganze Nacht draußen verbracht, um endlich vom Blitz getroffen zu werden. Aber ihm ist es nicht gegönnt gewesen, auch nur von einem einzigen erwischt zu werden, so wie jeden Tag. Die Antenne, die er auf seinem Schädeldach installiert hat, hat sich nicht als das erhoffte Wundermittel erwiesen, wie es der Verkäufer in dem Laden Utensilien für Selbstmörder und Verrückte angepriesen hat. Morgen wird er es wieder versuchen, irgendwann muß es ja klappen.

Das Ziel ist in greifbarer Nähe. Sie erklimmt die letzten Treppen und klopft an der Pforte, die der Frau freiwillig Eintritt gewährt, um die Nacht unbeschadet zu überstehen.

Der Schein von Fackeln wirft wabberndes Licht auf die Überreste der Tür. Aus einer Nische tritt der Junge hervor, unter seinen Füßen bildet sich eine Schweißpfütze. Er blickt die vor ihm liegende Treppe hinunter und sein schelmisches Grinsen verrät, das er sich unheimlich clever vor kommt. Er hat sich nämlich in einer seitlichen Einbuchtung hinter der Tür versteckt, während der Elefant Stufe für Stufe in den Keller herunter gepurzelt ist. Bei einem Blick auf die erbeuteten Stoßzähne regen sich tiefe Gefühle in ihm, die in der Regel mit dem Betrachten von ganz bestimmten Heften verbunden sind. Ihn deshalb als pervers zu bezeichnen, ist dennoch übertrieben. Vermutlich ist er nur ein ganz gewöhnlicher Zahn-Fetischist der seine Bedürfnisse auf etwas andere Art auslebt. Dies ist keinesfalls abartig, wenn man bedenkt, dass es Menschen geben soll, die jeden Freitag Abend gewisse Praktiken durchführen, bei denen Körperteile in andere Körperteile geschoben werden.
  Etwas Warmes legt sich auf seine Schulter, es verströmt den Geruch von Erdnußbutter, den seine erkältete Nase allerdings nicht wahrnimmt. Als er seinen Kopf nichts ahnend nach hinten wendet, sieht er die Mutter des zahnlosen Elefanten vor sich, die seinen Hals mit ihrem Rüssel umschlingt. Ihre animalische Wut brennt wie ein Buschfeuer, ihre Flammen schlagen mit wilder Entschloßenheit um sich. Der Junge spürt die Intensität der heißen Glut und stellt sich vor, wie er aussehen wird, wenn sie mit ihm fertig ist.
  Es nähern sich Schritte, die nur zu einer Massenmörderin gehören können. Jetzt hat sie die nach oben führende Treppe erreicht. In den Augen des Jungens bildet sich ein Ozean der Angst, der immer weiter anschwillt. Er läuft über und ergießt vor den Füßen des Jungen. Bald wird das ganze Bild zum Spielfeld des bläulich schimmernden Wassers, welches das Schloß längst für sich eingenommen hat.
  Schwarze Klamotten saugen sich mit Wasser voll. Blub. Blub. Blub.

Der Junge und die Elefanten-Mutter befinden sich zusammen in einer Luftblase, die sie vor dem Ertrinken bewahrt. Diese ist entgegen aller Logik aus dem Nichts erschienen, weil es ihr dort zu langweilig war. Sie treibt ohne erkennbaren Kurs in den Weiten des sie umgebenden Meeres. Wie es bei plötzlich auftauchenden Rettungskapseln üblich ist, läßt der Komfort zu wünschen übrig. Da sich auch bei sorgfältiger Beobachtung kein Steuerruder oder Ähnliches finden läßt, muß angenommen werden, dass sie sich scheinbar selber lenkt. Vermutlich wird dazu die Kraft des Willens als Antrieb genutzt. Keiner wagt es, auch nur den Versuch einer Bewegung zu machen, um die schützende Blase nicht zu gefährden. Außerdem sind beide viel zu überwältigt von dem Anblick, der sich ihnen bietet: Das entfernte Wasserschloß wirkt im gebrochen Licht noch viel majestätischer als zuvor, während ein einsamer Hai durch den Vorhof patrouilliert. Fischschwärme bilden riesige Einheiten, die die Umgebung mit ihren schillernden Farben verzaubern.
  Tannenwälder haben sich in Ansammlungen von verschiedensten Wasserpflanzen verwandelt, Felder und Wiesen sind nun endlose Sandbänke, die mit Steinen und Muscheln gesäumt sind. Aus runden Öffnungen am Grund steigt Kohlensäure auf, was einige Nasenfische dazu nutzen, sich den Bauch massieren zu lassen. Ganz in der Nähe ist ein roter Krebs damit beschäftigt, dem Seegras mit seinen Scheren einen neuen Schnitt zu verpassen, um sein mageres Taschengeld ein wenig aufzubessern. Von seinen Eltern kann er nicht viel erwarten, da sein Vater seine Ersparnisse für einen neuen Panzer ausgegeben hat.
  Während die Insassen der Blase sich an der Schönheit der Unterwasserwelt erfreuen, entgeht ihnen ein riesiges, verschwommenes Gesicht, welches an der Oberfläche des Wassers erscheint. Es gehört Manuel, der gerade dabei ist, die tägliche Fütterung der Fische durchzuführen, wobei er wie immer grinst. Sein Kopf verschwindet und taucht kurz darauf an einer seitlichen Scheibe auf. Von dort aus beobachtet er das Innere des Aquariums. Manchmal sitzt er stundenlang davor und erfreut sich an dem Treiben der Fische, fasziniert von dieser kleinen, für sich einzigartigen Welt, die sich unter Wasser gebildet hat. Er kennt zwar nicht alle Fische persönlich, trotzdem hat er jeden von ihnen einen Namen gegeben.
  Zur Zeit gilt seine ganze Aufmerksamkeit Georg und Bruno, zwei homosexuellen Goldfischen, die sich gegenseitig die Schwanzflossen abbeißen. Darum fällt ihm die Luftblase mit zwei eher untypischen Meerestieren nicht auf.
  Bei den beiden ist dies ganz anders: Ein Gesicht mit geradezu gigantischen Ausmaßen und einem markanten Grinsen läßt sich nicht einfach so übersehen, auch wenn sie sich die größte Mühe geben. Wachsendes Unbehagen spiegelt sich in ihren geweiteten Augen wieder. Woher sollen sie auch wissen, dass sie sich nicht wie angenommen im atlantischen Ozean befinden, sondern in einem ganz gewöhnlichen Aquarium. Es ist zugegebenermaßen ziemlich imposant und nicht minder gefährlich als die offene See, im besonderen für Jungen mit knappen Badehosen, die es versäumt haben, ihr Seepferdchen zu machen. Über so etwas macht sich jemand, der nachts Stoßzähne von kleinen Elefanten klaut, keine großartigen Gedanken.
  Ein von einer ovalen Maske verdeckter Kopf erscheint direkt neben Manuel, verschwindet aber gleich darauf wieder. Nach kurzer Zeit taucht der Maskierte wieder auf. Eine blutverschmierte Hand mit einem ausgerissenen Herz erhebt sich vor Manuels Gesicht, dieser zeigt jedoch nicht die erwartete Regung. Ihm scheint es außerordentlich gut zu gehen, denn er lächelt unbeirrt weiter. Dafür kippt der Maskierte nach hinten weg. Vermutlich liegt es daran, dass er aus Versehen sein eigenes Herz heraus gerissen hat. Ein kleiner Fehler, der dem angehenden (aber nicht übermäßig erfolgreichen) Mörder schon öfter passiert ist.

Als die Luftblase wieder in tiefere Regionen sinkt, verschwindet die Szene aus ihrem Blickfeld, wofür beide entsprechend dankbar sind. Am felsigen Grund spielen Seesterne Krieg mit unschuldigen Perlentauchermännchen. Die erste Runde geht an die Perlentaucher, allerdings ist das Spiel schnell beendet, da es den Plastikfiguren an der nötigen Dynamik mangelt. Nach zwei Minuten ist von ihnen nur noch Sondermüll übrig. Der rote Krebs hat sich inzwischen einer anderen Arbeit zugewendet, er erntet Seegurken auf der Unterwasserfarm seines Onkels. Dafür bekommt er einen stattlichen Lohn, natürlich unter der Hand. Wenn das so weiter geht, kann er sich bald seinen größten Wunsch erfüllen: eine Karte für das Spiel Bulls Vs. Lakers. Er liebt Basketball über alles, gelegentlich spielt er auch selbst. Momentan ist das nicht möglich, weil ihn eine Sehnenscheidenentzündung an seiner Wurfschere plagt.
  Gemächlich schiebt sich ein Buckelwal dicht vor ihnen her, weshalb der Junge kurzfristig nur auf graue, von Algen übersäte, Haut blickt. Genaugenommen ist es ein Goldfisch, aber ein Buckelwal wirkt einfach besser. Außerdem gibt es keine Goldfische im Atlantik. Nachdem der schwerfällige Koloss an ihnen vorbeigezogen ist, erkennt der Junge in der Ferne eine weitere Luftblase, die sich langsam aber unaufhörlich nähert. Ihr Insasse ist der zahnlose Elefant, was auch der Mutter nicht entgeht, die zum ersten mal seit langem einen Schimmer der Freude zu erkennen gibt. Als die Blase in greifbare Nähe gerät, muß sie ihre animalischen Instinkte mit aller Macht zurück halten, um nicht einfach den Rüssel nach ihm auszustrecken. Ein unaufmerksamer Sägerochen, der seinen Geist anscheinend in der Tiefsee vergessen hat, stößt mit seiner Lanze an die Luftblase.

Mit einem lauten Knall (in einem Comic würde an dieser Stelle ein PENG mit mindestens drei Ausrufezeichen erscheinen) platzt die Blase der Imagination im Kopf des Jungen, mit ihr zerspringt die Unterwasserwelt in tausend Stücke. Die Hirngespinste weichen einer bekannten Umgebung: Es erscheint ein langer Gang und ein leerer Türrahmen, Holzsplitter sind auf dem Boden verstreut. Der Junge tritt aus einer Nische ins Licht der Fackeln, in der unter ihm liegenden Wasserlache bedroht der rote Krebs ein wehrloses Perlentauchermännchen mit seine Scheren.
  Es ist die Realität, die lange genug darauf gewartet hat, zurück zu kehren. Jetzt ist sie wieder da, mit einer Überraschung für alle Beteiligten: Sie hat die Zeit ein wenig zurück gedreht, damit das Schicksal die Möglichkeit hat, eine andere Lösung zu finden, die im Rahmen des Möglichen liegt und keine unvorhergesehen Überschwemmungen mit sich bringt. Als der Junge auf die herunter führende Treppe blickt, kommt ihm diese Situation seltsam vertraut vor. Eigentlich verständlich, schließlich hat er das ganze schon einmal erlebt. Obwohl seine Erinnerungen an das vorherige Mal nur sehr undeutlich sind, spürt er, dass etwas Unangenehmes passieren wird, wenn er beginnt, hier Wurzeln zu schlagen.

"Was wird er diesmal tun?" fragen sich die mitfühlenden Leser. Am liebsten würden sie dem Jungen zu rufen, dass sich eine tobende Elefanten-Mutter an ihn heran schleicht. Aber vermutlich kann er ihre gut gemeinten Warnungen sowieso nicht hören, weshalb sie mitfiebernd weiter lesen.

Außerdem ist es längst zu spät, denn in diesem Moment legt sich zum zweiten Mal etwas Warmes auf seine Schulter. Wie es nicht anders zu erwarten ist, wendet der Junge den Kopf nach hinten, obwohl er schon ahnt, was ihn erwartet. Aus reiner Höflichkeit erschreckt er sich, als in das Antlitz der von rasender Wut befallenen Elefanten Mutter blickt. Mit ihrem Rüssel versucht sie, ihn langsam und schmerzhaft zu erwürgen. Er hingegen droht, schon wieder auszulaufen. Bevor das eine noch das andere passieren kann, geschieht folgendes: Schritte nähren sich, jemand ganz Bestimmtes steigt die Treppe empor. Ein Goldfisch hüpft aus der Kapuze. Die Massenmörderin bringt zwei Küchenmesser unter ihrem Umhang zum Vorschein. Diese hat sie gestern bei Real,- zum Preis von einem erworben, in dem Glauben ein echtes Schnäppchen zu machen. Es sind ausgesprochen schöne Messer, sie scheinen ziemlich scharf zu sein. Ob sie wirklich so gut sind, wie sie aussehen, wird sich erst in der Praxis zeigen. Auf den Klinge spiegeln sich entsetzte Gesichter. Die Fackeln erlischen um den Jugendschutz genüge zu tun.

"Oh Nein! Was wird die Massenmörderin wohl Schlimmes anstellen?" fragen sich entsetzte Leser, die sich sofort die schrecklichsten Dinge vorstellen. In ihren Gedanken spielt rote Farbe im Überfluß eine wichtige Rolle.

Eine lange und für manche Leute ziemlich schlaflose Nacht nimmt ein Ende, ein neuer Tag bricht an. Am frühen Morgen öffnet sich das Portal des Schlosses, die Massenmörderin tritt mit einem chronischen Kopfschütteln heraus, ohne den kleinsten Flecken Blut an sich zu haben. Im schwachen Licht der langsam aufsteigenden Sonne wirft sie einen ungläubigen Blick auf die vor Glanz strahlenden Messer und läßt sie unter dem Umhang verschwinden. Aber nicht vorhandene Hinweise auf ein blutiges Vergehen bedeuten nicht unbedingt, dass kein blutiges Vergehen statt gefunden hat. Jemand, dessen einzige Beschäftigung darin besteht, anderen die Kehle durchzuschneiden, weiß Hilfsmittel wie einen portablen Seifenspender und Ersatzwäsche sehr zu schätzen.

Eine klare Antwort fehlt jedoch weiterhin, mit Spekulationen kommt man hier nicht weiter. Ein Blick ins Schloß sollte sich in dieser Hinsicht als aufklärend erweisen: Der Junge und die Elefanten Mutter sind zwar zur Bewegungslosigkeit erstarrt, aber besonders tot sehen sie beim besten Willen nicht aus. Warum die Massenmörderin sie verschont hat, ist leicht erklärt: Wenn man jeden Tag in zweistelliger Höhe mordet, bleibt das nicht ohne Folgen für die eigene Persönlichkeit. Mit der Zeit trennt man sich von komplexen kognitiven Vorgängen und kehrt zu bewährten Instinkten zurück, die das Denken schlicht und einfach umgehen. Das Beschränken auf das Wesentliche führt dazu, dass man animalische Verhaltensweisen entwickelt, die eine erstaunliche Ähnlichkeit zu denen des Tyrannosaurus Rex aufweisen. Für diesen urzeitlichen Schrecken war alles, was sich bewegte gleichzusetzen mit Eßbarem. Was sich hingegen nicht von der Stelle rührte, blieb seinen Augen verborgen. Diese kleine Schwäche läßt sich auch auf Massenmörder und Steuerfahnder übertragen.
  Es folgt ein kurzer Rückblick auf die Ereignisse der nahen Vergangenheit: Als die Elefanten-Mutter und der Junge sich in der gestrigen Nacht mit einer Frau konfrontiert sehen, die a) nicht ganz dicht ist und b) zwei Messer in den Händen hält, halten sie es für angeraten, etwas zu unternehmen. Da ihnen der rettende Einfall ausbleibt, erstarren beide vor Furcht und hoffen, dass ihnen nichts passiert. Schließlich besteht immer noch die Chance, dass sich alles zum Guten wendet. Diese schwachsinnige Taktik, die normalerweise die Unterzeichnung des eigenen Todesurteils ist, stellt sich als äußerst erfolgreich heraus. Nachdem die Massenmörderin die Beiden auch durch intensives Schnüffeln nicht erkennen kann, obwohl sie direkt vor ihr stehen, zieht sie sich zurück. Sichtlich genervt streift sie in Richtung Ausgang, in der Dunkelheit tritt sie einem ohnmächtigen, zahnlosen Elefanten auf den Rüssel.

Zurück zum augenblicklichen Geschehen: Seit über zwölf Stunden kein Mord. Überschüssige Energien brodeln in der Massenmörderin, überschüssige Energien die darauf warten, sinnvoll verwendet zu werden. Die nahen Weiden kommen ihr in den Sinn. Sie stellt sich kugelrunde Kühe vor, die geradezu danach flehen, zerstückelt zu werden. Die Messer sollen ihren lang erwarteten Einsatz bekommen, auf sie wartet jede Menge frisches Rindfleisch. Allerdings soll es nicht sehr aufregend sein, totes Rindfleisch umzubringen. Denn als sie die Weiden erreicht, muß sie zu ihrem Bedauern feststellen, dass ihr jemand zuvor gekommen ist. Dieser Jemand hat seine Arbeit mit einer Sorgfalt gemacht, die selbst die erfahrene Massenmörderin erstaunen läßt. Kuh für Kuh, präzise geteilt. Geradezu unglaublich präzise geteilt. Wer auch immer es war, sie wollte so sein wie er (oder sie). Damit dürfte sie vor einem schwerwiegenden Problem stehen.


 

Es ist eine stürmische Nacht, ein mächtiges Gewitter sieht dies als den richtigen Zeitpunkt an, über der kleinen Stadt aufzukreuzen. Dunkle Wolken warten sehnsüchtig darauf, sich zu entladen. Jetzt geht es los. Wild prasselnder Regen macht den Anfang. Blitze folgen und zucken Richtung Erde herab, die meisten von ihnen schlagen in die üblichen Dinge wie Eichen, Kirchturmspitzen oder Giraffen ein. Nur auf dem Marktplatz geschieht Merkwürdiges: Ein einsame Wolke scheint bemüht zu sein, mit ihren Blitzten die vor dem Unwetter flüchtenden Menschen zu treffen. Allerdings hat sich noch nicht der rechte Erfolg eingestellt, da es der Wolke an der nötigen Erfahrung mangelt. Doch sie gibt nicht auf und versucht es weiterhin. Nach einigen Übungen mit Laternen klappt es immer besser. Gerade hat ein Blitz einen Herrn im Anzug in zwei Teile zerlegt. Eigentlich muß der Treffer doppelt zählen, der Mann hat nämlich einen Seitenscheitel und ist Politiker. Es klingt merkwürdig, aber die auf Menschen spezialisierten Blitzte scheinen weiblich zu sein. Und sie haben etwas Massenmörderisches an sich.

  Welle (Quelle: Welles Welt)


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