GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE
Performative Distanz: beziehungsweise unnahbar
Während Performanz verstanden als Aufführung oder Vollzug einer Handlung ein handelndes Subjekt vorauszusetzen scheint (das ist auch die Position der Sprechakttheorie), bestreitet der Terminus Performativität gerade die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts. Die Performativität einer Äußerung unterstreicht deren Kraft, das Äußerungssubjekt und die Handlung, die sie bezeichnet, in und durch diesen Äußerungsakt allererst hervorzubringen.
Gerald Posselt (2003): Performativität. (http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4)
Oft habe ich das Gefühl, wie ein Eisblock durch das Leben zu trotten – die Zugänge zu meinen Empfindungen wirken verschüttet. Unter einem Geröllhaufen langwierig eingeübter Masken, die sich bis in mein Gesicht niederschlagen, das ich manchmal völlig ausdruckslos und kalt erlebe. [...] Es ist verdammt schwer, dieses Programm zu durchbrechen, das so oft von einer Wirklichkeit bestätigt wird, in der Konkurrenz und Anonymität keinen noch so entlegenen Winkel auslassen. Eine Wirklichkeit, in der Emotionalität nur in geordneten Bahnen ablaufen darf. Deshalb fehlt mir häufig der Mut, die Aufforderung „Wollen Sie ihr Schneckenhaus wirklich löschen?“ zu bestätigen.
Espi (2005): Seltene Auftau-Hilfen. (http://projekte.free.de/schwarze-katze/pirat/inside/auftau_hilfen.html)
Eingeladen, um etwas zur Kritik der romantischen Zweierbeziehung zu erzählen – und trotz intensiver Vorbereitung war sie relativ nervös. Der Hof mit ungezählten Scherben lag hinter ihr, genauso wie die Schwelle zum einladend-umfangreichen Autonomen Zentrum. Ihr Blick war intensiv suchend – nach ihr, der lieben Person, die so lange aus ihrem Bewusstsein verschwunden war, weil die Lebenswege sich in andere Richtungen bewegt hatten. Frau Zwölf hatte sie eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, nichts von ihr gehört – vier oder fünf Jahre, es fühlte sich unglaublich lang an. Erst im letzten Mai hatte ein unerwartetes Aufeinandertreffen auf einer schrecklich langweiligen und selbstbezüglichen ‚Szeneveranstaltung’ dieses Nichts durchbrochen. Wie glücklich sie über diese Zufallsbegegnung war. Später hatte Frau Zwölf der lieben Person eine Mail – die Adresse hatte beharrlich in ihrem Gedächtnis überwintert – geschrieben, ganz mutig sogar etwas von der Freude und spontan empfundenen Faszination angedeutet. Und es folgte nicht nur eine Antwort. Sie erinnerte sich noch ganz genau, wie sich zwischen den Zeilen zahlreicher, von Pausen unterbrochenen Mailwechseln eine wachsende Vorfreude und manchmal sogar ein Kribbeln im Bauch entwickelte. Und jetzt durchschnitt ihr verdeckt-sehnsüchtiger Blick den Raum. Doch irgendwie fand Frau Zwölf schnell eine passende Rationalisierung, diesem ursprünglichen Impuls nicht zu folgen: Die Bücher auf ihrem Rücken warteten ja darauf, ein Stockwerk höher ausgebreitet zu werden. So gelang es zumindest, eine offizielle Begründung aus dem automatischem Kanon des zwanghaft Anti-Romantischen(1), die selbst nur vorgeschoben war, gar nicht erst bewusst zu verarbeiten: Wie ‚albern’, eine bestimmte Person zu suchen, das klingt fast schon nach Fixierung. Die Macht der Normierung reicht weit, ausgerüstet mit einer verhängnisvollen Verlängerungsschnur, die sich immer wieder bis in die Versuche, dem Normierten zu entgehen, fortsetzt.
Der Büchertisch war schnell aufgebaut. Im Anschluss versteckte sie sich hinter ein paar ausgefeilten Notizen auf einem Sofa, während sich der kleine Raum über der wunderbar großen Halle mit Menschen füllte. Wieder ein suchender Blick. Unter den zahlreichen Gesichtern folgte irgendwann auch jenes, auf das sie sich schon seit Wochen – und vielleicht sogar noch viel länger – wahnsinnig gefreut hatte. Ein kurzer, zaghafter Blickkontakt, ein unsicheres Lächeln; dann wieder äußerste Distanz. Den Drang, aufzuspringen, einfach auf die liebe Person zuzugehen und ihr in die Arme zu fallen, konnte Frau Zwölf gar nicht richtig wahrnehmen, so routiniert landete er auf der Streichliste erfolgreicher Selbstzensur. Bewusste Gedanken dazu wären wahrscheinlich in diese Richtung gewandert: Das würde bestimmt so „zweiermäßig“ aussehen und den ganzen Inhalt der Veranstaltung unterlaufen und überhaupt. Nur war es gar keine Entscheidung, eher ein für sie so typischer Reflex aus der Angst heraus, auch nur ansatzweise die Logiken von Zweierbeziehungen zu reproduzieren. Und gerade dadurch die normative Macht der „RZB“(2) zu verlängern. Sie konnte schrecklich ‚verkopft’ sein. Es klang so einfach, logisch: Ich kann die liebe Person ja auch noch nach der Veranstaltung ansprechen. Allerdings – unter Einblendung ähnlicher Situationen – hätte sie mehr als vage ahnen können, dass diese ach so bewusst verhängte Distanz eine beharrliche Eigendynamik entwickeln würde. Alles Verhalten eben ein „performativer Akt“ ist, der auf das Subjekt zurück wirkt, es hervorbringt zugleich und sich unheilvoll verstetigt. Es war, als hätte Frau Zwölf einen gar nicht so alten Text von ihr um ein weiteres Praxisbeispiel erweitern wollen: „Es ist ein invertierter Schildkrötenpanzer, der mich nur von anderen trennt, weil er mich von mir entfremdet. Das Schneckenhaus, in dem ich mich vor anderen zu verstecken versuche, ist eine eisige Trennscheibe, durch die ich selber blicke. Viele feine Risse erinnern an die Welt dahinter, die weich, verletzlich, zart und gefühlvoll sein könnte.“(3) Die Unnahbarkeit, die der anderen galt, richtete sich unmittelbar gegen sie selbst: Der Zugang zu den schönen Emotionen, die Frau Zwölf mit dem Wiedersehen verbunden hatte, die lang und über Tiefen hinweg kultivierte Vorfreude, die wunderbare Sehnsucht ein paar Tage vorher und vage Empfindungen von Zärtlichkeit – all das war wie verschüttet. In Gedanken verweilte sie unschlüssig und unsicher vor dem Absperrband zu ihrem Gefühlsleben – die Steine im Weg ... das war sie selbst.
Die Veranstaltung verlief grausig. Nachdem die Diskussion geöffnet wurde, nahmen ohne Zögern die dominanten Stimmen ‚ihren’ angestammten Platz ein – wie fast immer bei so großen Runden, der kleine Raum war ja ziemlich gefüllt. Nur wenige Beiträge, die nicht rhetorisch ausgefeilt und mit kalkulierter Unverständlichkeit versehen wurden, um im Wortgefecht triumphieren zu können. Immerhin bewiesen die Sprecherinnen unfreiwillig ein Stückchen ihrer – so legten es die hippen Vokabeln nahe – marxistisch-materialistisch geprägten Weltanschauung: Die politischen Argumentationen waren purer Überbau für die ‚materielle Basis’: Machtspielchen im linken Subraum – that’s all. Frau Zwölf war sichtlich angesägt. So trug der Verlauf des Abends seinen Teil dazu bei, dass sich ihr Distanzfilm zusätzlich verhärtete – etwas durchbrochen nur von einer weiteren Zufallsbegegnung mit einem anderen Gesicht, das sie viel zu lange nur in Erinnerungen getroffen hatte. Und das in ihr den Wunsch erzeugte, die Prinzipien von Zeit und Raum, die gerade sehr bedrückend wirkten, einfach ausschalten zu können. Morgen würde sie schon wieder abreisen, da selbstgewählte Verpflichtungen nach ihr riefen. Zu später Stunde verließen Frau Zwölf und die liebe Person das Autonome Zentrum. „Ich muss mich erst mal an dich gewöhnen“, erklärte diese auf dem Weg zum Schlafplatz. Und Frau Zwölf deutete wenigstens etwas an, warum sie sich so unnahbar verhielt. Doch eigentlich blieb es nur beim Beschreiben von Ausdrucksformen, den Ursprung nochmals tiefer versteckend. Sie erreichten bald einem Ort, der von den meisten Menschen als Wohnung interpretiert wurde. Frau Zwölf hatte andere Assoziationen – beispielsweise „Wohnhaft“. Es fühlte sich für sie nicht gut an, in so engen Räumen zu verweilen, die mit verschlossenen Türen endeten – noch dazu unter dem Vorzeichen „Besucherin“.
Irgendwann strandeten Frau Zwölf und die liebe Person beim zweisamen Gespräch auf dem sofaeskem Bett, das spät begann und sich in die Untiefen der Nacht fortsetzte. Anfangs blieb ihre Körpersprache ein einziger Distanzblitz – eine Bemerkung der anderen machte deutlich, dass ihr das nicht entgangen war. Wie seltsam, dachte Frau Zwölf, nur kannte sie das erprobte Muster bereits; sich selbst in äußerste Unnahbarkeit zu hüllen, panisch befürchtend, die andere könnte ihre Zuneigung auch nur ansatzweise wahrnehmen. So unnahbar, dass es eigentlich gar keine Tarnung war – eher das Gegenteil. Im Verlauf der Konversation änderte sich das. Zwar konnte sie ihren Panzer längst nicht vollständig ablegen – aber er zeigte zumindest Risse und eine Ahnung der darunter versteckten Emotionen, verbunden mit der heimlichen Hoffnung, die liebe Person würde es mitbekommen. Und so taute Frau Zwölf langsam, fast unmerklich auf, rückte sogar physisch näher. Und konnte sich darauf einlassen, bei der Unterhaltung irgendwann sehr nah nebeneinander zu liegen, die Köpfe manchmal einander zugeneigt ohne Anspruch auf ‚mehr’. Sie war auch ziemlich müde, aber noch in der Lage, sich von den Gesichtszügen der anderen faszinieren zu lassen. Es war eine schöne Situation, vielleicht gerade wegen der vagen, irgendwie unbeholfenen Annäherung und der wohligen Unbestimmtheit, die darin lag. Ihre Erinnerungen würden noch oft an diese Stelle zurück kehren. Während dessen spürte Frau Zwölf immer wieder diesen vorsichtigen Wunsch, den sie schon im Autonomen Zentrum mit sich schleppte: ihr eigentlich ‚nur’ in die Arme fallen zu wollen, um etwas zu sagen, wofür sie keine Worte finden konnte. Um zu sagen, wie angenehm es war bei ihr zu sein – und endlich diesen fiesen Distanzkäfig kaputt zu machen. Aber irgendwie traute sich Frau Zwölf nicht, zu unnahbar gegenüber dem eigenen Gefühl, zu unsicher bezüglich der Erwartungen und Hoffnungen der anderen Person.
Es gab sogar Sterne – oder zumindest einen – am Himmel über dem Ruhrpott, als sie nebeneinander im Bett lagen und sie in schläfrig-wachem Zustand davon träumte, die Hand der lieben Person zu berühren. Vielleicht war es Angst, die sie zögern ließ. Oder einfach nur das gute Gefühl, nicht zwanghaft fernen Sternen ‚nachzujagen’. Sie fragte sich, ob sie sich irgendwann daran gewöhnen würde, neben Menschen zu liegen, die sie verzauberten. Einfach einschlafen zu können erschien ihr nicht nur in dieser Situation unmöglich; zu unwirklich, zu besonders fühlte es sich an.
Als die Frühling versprechende, intensive Morgensonne durch das Fenster schien, wusste Frau Zwölf gar nicht, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Sehr bewusst wurde ihr hingegen: Sie fühlte sich so verdammt wohl in Gegenwart der lieben Person. „Ich mag deinen Geruch“, hätte sie ihr gerne gesagt. Irgendwann war die liebe Person aufgestanden – Frau Zwölf hatte erwartungsvoll auf ihre Rückkehr ins Bett gehofft und es dauerte lange, bis sie sich zum Aufstehen motivieren konnte. Und dann wieder diese Enge und Türen, die nicht einfach offen standen, so wie es ihrer Gewöhnung entsprach. Zu ihrem Erstaunen fand sie doch noch den Weg in die andere Wohnung, wo die liebe Person und ein paar andere waren und frühstückten. Die Atmosphäre war ... rätselhaft, bedrückend; irgendwie fühlte es sich so an, als hätte diese Nacht, das Gespräch und die angedeutete Nähe nie existiert. Frau Zwölf empfand sich und die liebe Person schrecklich unnahbar, weit weg – i’m not here. Und eigentlich wäre sie am liebsten sofort weggelaufen, vor allem vor sich selbst. Was sie zurück hielt war eine schwere Hoffnung auf klärende Kommunikation.
Auch der lange Spaziergang zu viert lebte nur noch von diesem Gefühl, ohne wirklich Schritte in diese Richtung einzuschlagen: Frau Zwölf trottete innerlich wie äußerlich hinterher. Irgendwann schleppte sie sich allein auf den Bahnhof, niedergeschlagen und wieder selbstdestruktiven Gedanken nachhängend, die sie schon den ganzen Morgen wie graue Wolken verfolgten: Dass es vielleicht besser wäre, den Kontakt lieber abzubrechen, bevor sie sich ‚richtig’ in die liebe Person verlieben und an sich selbst verzweifeln würde, weil zur Zeit nicht viel von ihrer einstigen Offenheit im Umgang mit Gefühlen ‚verfügbar’ war. Das machte ihr Angst, obwohl sie gar keine nagenden Erwartungen hatte. Sich bei ihr anlehnen zu können, mit ihrer Hand ihren Kopf zu streicheln, einfach nur in ihrer Nähe zu sein und ihr Atmen, ihren Geruch wahrzunehmen – danach sehnte sie sich manchmal. Aber selbst das erschien ihr in diesem Moment so ... unmöglich. Es erübrigt sich wiederzugeben, wovon der Tagebucheintrag „and it all ends in tears anyway“ bestimmt war, den sie beim Warten am Bahngleis schrieb. Unterwegs im Zug begann Frau Zwölf einen Brief, der von einer ganz anderen, unerwartet positiven Stimmung getragen war. Aus ihrer Traurigkeit wieder etwas Hoffnungsvolles zu basteln, auch schwierige emotionale Situationen wenden zu wollen – dass war eine Eigenschaft, über die Frau Zwölf tatsächlich sehr glücklich war irgendwie. „Ich bin ein schrecklich hoffnungsvoller Mensch“, hatte sie, selber etwas erstaunt, erst kürzlich in einem Brief geschrieben.
Es waren ein paar Tage vergangen; sie wieder zurück an ihrem inzwischen brüchigen Ausgangspunkt. Während Frau Zwölf auf einen Bildschirm starrte, merkte sie, wie sich ihre Gedanken wieder zu ihr schlichen. Erst am Frühstückstisch – ein paar Minuten später – konnte sie sich dafür öffnen. Und dann verweilte Frau Zwölf einfach nur in der Erinnerung an ihr Gesicht und wie sie manchmal einen kurzen Moment ganz ausgelassen mit der quirligen Vierbeinerin gespielt hatte. Dabei empfand sie ein fast unmerkliches, schönes Gefühl – etwas, das sich zu einem wohligen Kribbeln vertiefte, das ihren ganzen Körper durchzog. Ein verträumt-glücklicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Es ist so schön, dass du da bist ... irgendwo, zu weit weg. Aber räumliche Ferne war fast schon integraler Teil ihres Liebeslebens und eher die geringste Hürde. Im Tagesverlauf hatte sie eifrig an verschiedenen Texten und Internetseiten gewerkelt. Als Ausgleich wechselte Frau Zwölf abends für ein paar Lieder in den Partyraum. Kid A von Radiohead berührte sie heute am stärksten. Es war wunderbar zerbrechliche Musik – genau diese Klänge halfen ihr, den Körperpanzer wenigstens temporär zu durchbrechen. Beim Hören dachte sie wieder an diesen anderen Text:
Musik ist manchmal in der Lage, die Gefühle und Emotionalität zu wecken, die unter dem Schildkrötenpanzer schlummert. Mich aufzutauen, Zugänge zu meinen Gefühlen freizulegen. Irgendwie glaube ich, dass Musik mir hilft, die Welt anders, faszinierter zu sehen – und zu spüren, dass ich lebe und es gute Gründ dazu gibt. Manchmal, ganz selten, gibt es Menschen, die mich beim Auftauen unterstützen: Nur dass ich sie zu selten an mich heran lasse
Espi (2005): Seltene Auftau-Hilfen. (http://projekte.free.de/schwarze-katze/pirat/inside/auftau_hilfen.html)
Vielleicht sind die schönsten Gefühle untrennbar mit einer Art Zerbrechlichkeit und Sensibilität verbunden, die es ihr ermöglichten, sich lebendig zu fühlen. Nein - sie hatte wirklich keine Ahnung, warum sie so hoffnungsvoll war.
Espi, 16.-19. März 2006 (3. Version, 26. März 2006)
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