GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE
Die Säge der Benita Torres
oder Die Wahrheit über den Vulkanier
Das Erste was einem auffällt, wenn man mit einem Shuttle auf dem Raumhafen von Tomos landet - einem kleinen, aber berühmten Planeten in den äußeren Spiralarmen der Andromeda-Galaxie - ist ein riesiger, durchgesägter Tisch, der sich als eine Art Denkmal neben der Landebahn erhebt. Der zweite bemerkenswerte Eindruck, nachdem man das Shuttle bereits mit etwas wackeligen Knien durch die Rutsche verlassen hat, ist das große Schild über dem Eingang zum Raumhafen-Gebäude, auf dem in überdimensionalen Lettern steht: "Bienvenido a la patria di Benita Torres".
Benita Torres ist so etwas wie die Nationalheldin von Tomos. Sie war unter den ersten EinwanderInnen, die nach Tomos kamen, weil sie von den anderen Planeten die Schnauze voll hatten. Die Legende erzählt, Benita Torres habe als Datentechnikerin in einem der schmuddeligen High-Tech-Sweatshops ihres Heimatplaneten gearbeitet. Sie war gerade dabei, mit einer Hochleistungs-Säge die Rückwand eines Datenspeichers zu öffnen - Benita konnte sich nie recht abfinden mit der Philosophie des geplanten Verschleißes, wonach man kaputte Geräte sofort wegzuwefen hat, damit die Wirtschaft floriert - als sie zu ihrem Chef gerufen wurde. Der Chef eröffnete ihr, er schätze ihre Arbeitsleistung wirklich außerordentlich, der Betrieb verdanke ihr viel, aber die konjunkturelle Lage - die Gewinnmargen - die Konkurrenz - kurzum, sie sei gefeuert.
Benita, in Latzhose und hochgekrempelten Ärmeln, die Säge immer noch in der Hand, sah den Chef ruhig an. Sie hatte so etwas oft genug erlebt. Dann trat sie an seinen Schreibtisch - eine wunderschöne, polierte Edelholzarbeit - und sägte ihn mitten durch. Der Tisch mit all den Geräten und Papieren stürzte mit ohrenbetäubendem Lärm zusammen. Benita nahm die kleinere Hälfte des Schreibtischs, mitsamt den zwei Tischbeinen, die da noch dranhingen, sagte: "Aber das gehört mir!", drehte sich um und ging.
Der Name des Chefs ist nicht überliefert. Es wird erzählt, seine Sekretärin habe ihn Stunden später gefunden, wie er immer noch mit unverwandtem Blick auf die offene Türe starrte, durch die Benita Torres hinausgegangen war.
Das war in gewisser Weise die Geburtsstunde des Tomismus. Benita
Torres' Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wirkte wie
ein Signal. Hölzerne Schreibtische kamen bei den Chefs in sehr
kurzer Zeit aus der Mode. Was die Tomisten zusammenführte, war
der Eindruck, dass es ganz gleich war, nach welchem System ihr Planet
verwaltet wurde - repräsentativ, basisdemokratisch, sozialstaatlich,
marktwirtschaftlich, staatssozialistisch, naom, kroptokrativ oder mombasisch
-, im Endeffekt hatte man nirgends was zu sagen. Man konnte nichts mitnehmen,
wenn man rausflog; und man flog leicht raus, weil man nichts mitnehmen
konnte. Es war, fanden die Tomisten, ähnlich wie bei der Mülltrennung:
auf allen Tonnen steht was Verschiedenes drauf, aber letzten Endes wird
doch alles zusammengeschüttet.
Die Planeten, die heute noch so regiert werden, werden von den Tomisten verächtlich Kühlschrankplaneten oder Knastplaneten genannt. Kühlschrankplaneten, weil man ständig etwas geliefert bekommt, was man ganz bestimmt nicht bestellt hat, nur weil man angeblich irgendwann vorgeburtlich unterschrieben hat. Man bekommt Verfassungen geliefert, Gesetze, Technologien, Umgehungsstraßen und Kriege, obwohl man schwören könnte, dass man nichts geordert hat und bestimmt nicht dabei war, als das ausgehandelt wurde. Knastplaneten, weil auf ihnen keine freie Kooperation herrscht, sondern erzwungene. Man steht drin und hat sie zu schlucken, wie sie ist. Man kann keinen Einfluss auf die Regeln nehmen, weil man seine Kooperationsleistung nicht verweigern oder einschränken darf, und weil es niemand interessiert, wenn man geht, weil der Schreibtisch ja da bleibt. Knastplaneten sind, sagen die Tomisten, wie Babuschkas: eine erzwungene Kooperation in der nächsten, ob Staaten, Betriebe, Schulen oder Familien, ein einziges System von kleinen, großen und mittleren Knästen.
Natürlich bekannten sich auch die Kühlschrank- und Knastplaneten zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber das war, fanden die Tomisten, wenig wert. Gut für die, die immer mit den Schreibtischen zurückblieben; schlecht für die, denen gesagt wurde, der Schreibtisch geht euch gar nichts an. Die Tomisten nannten das "desking": Unterschlagen, dass auch der Schreibtisch Teil und Produkt einer Kooperation war; Herausschneiden von Teilen aus der kollektiven Kooperation, über die man dann nicht mehr verhandeln konnte. Ein anderer Begriff war "Gartenzwerging": auch wenn man ganz genau gleich groß gemacht wurde, stand man immer noch im Garten herum, im Schatten eines riesigen Hauses, blieb der größte Teil des kollektiven Reichtums der Gleichheit entzogen - da kam man nicht ran.
Viele Jahre und viele zersägte Schreibtische später begann
dann die Besiedlung von Tomos. Tomos galt allgemein als ein wenig brauchbarer
Planet, aber für die Bedürfnisse der Tomisten war er ideal.
Auf Tomos konnte man alles teilen, ohne dass es zu Katastrophen kam.
Das lag daran, dass die Schwerkraft nicht richtig funktionierte; es
gab schon welche, aber irgendwie deutete sie nicht so konsequent in
eine Richtung. Deshalb kann man auf Tomos heute seine Wohnung im 1.Stock
herausziehen und mitnehmen, wenn einem die Hausgemeinschaft nicht gefällt,
und sich woanders anlagern, und das Haus fällt trotzdem nicht zusammen.
Auch die Molekülstruktur ist auf Tomos ein wenig loser, so dass
man auch Produktionsanlagen mit geringem Aufwand auseinander ziehen
kann, wenn man sich über den weiteren Kurs eines Betriebes oder
Projekts nicht mehr einig wird.
Man kann Leute auf Tomos auch nicht schlagen oder erschießen. Also, man kann es versuchen, aber das Ergebnis ist unbefriedigend: das Gewebe weicht einfach aus. Nicht einmal einsperren kann man sie; sie krümeln sich einfach molekular nach draußen. Heute aus der Mode gekommen, aber in den frühen Jahren viel gebraucht ist die Möglichkeit, durch Schaben, Ziehen, Stauchen und Falten körperliche Merkmale wie Größe, Hautfarbe und Geschlecht umzugestalten - für den Fall, dass eine Gruppe, gestützt auf Absprachen über ihre gemeinsame Kooperationsleistung, versucht Schilder aufzustellen, "wir müssen leider draußen bleiben".
Man kann sich denken, welch ungeheuren Effekt diese Tatsachen auf die tomeische Gesellschaft haben. Die ungleiche Allokation von Gütern lässt sich, wenn die Anderen mit dieser Struktur der Kooperation nicht zufrieden sind, nicht verteidigen. Deshalb kann man Kooperation auch nicht dadurch erzwingen, dass man alles zu sich rafft und den Andern sagt, du bekommst nur was ab, wenn du dich mir zur Verfügung stellst oder für mich arbeitest - sie nehmen sich einfach, was sie brauchen. Man kann sich auch nicht nach bestimmten Eigenschaften zusammenrotten, um andere kollektiv aus Kooperationen auszuschließen, denn die Eigenschaften sind wandelbar. Das einzige Druckmittel, das es gibt, ist die Verweigerung oder Einschränkung der eigenen Kooperationsleistung; und dies steht allen zur Verfügung.
Die konterrevolutionäre Propaganda der Kühlschrank- und
Knastplaneten, wen wundert's, überschüttete die Galaxie mit
markerschütternden Lügen über die grauenvollen Gebräuche
der Tomisten. Alles würde verwahrlosen. Kultur und Zivilisation
zerfielen. Nichts würde funktionieren, weil immer grade ein unzufriedener
Arbeiter die Kurbelwelle oder den Generator mit nach Hause genommen
hat, um eine neue Verhandlung zu erzwingen. Nie stehe ein warmes Essen
auf dem Herd. Die Luft sei mit Blutgeruch erfüllt, weil die Leute
sogar ihre Hunde und Katzen zersägten, wenn sie sich trennten.
Okay. Es gab, in der Anfangszeit, Exzesse. Man kann auch sagen, dass manche Prozesse auf Tomos bis heute etwas langsamer ablaufen, weil man in den verschiedensten Kooperationen eben nicht einfach durchziehen kann. Und wahr ist, dass die Tomisten bis heute leidenschaftlich Schreibtische zersägen, und dass dies bei allem bemühten Verständnis ("eine symbolische Handlung, durch die man sich der historischen Grundlagen der eigenen Gesellschaft vergewisssert"), auf Außenstehende in höchstem Maße albern wirkt. Okay.
All die anderen Argumente dagegen, die von den Kühlschrank- und Knastplaneten mit großer Geste gegen den Tomismus vorgebracht wurden - der Tomismus könne nicht funktionieren, weil man ein Förderband oder eine Stahlbirne nicht teilen könne; alle würden sich nur noch in unendlichen Diskussionen über sämtliche Regeln ergehen; der Andromedaner sei dafür einfach nicht gemacht usw. - erscheinen heute im Rückblick genauso lächerlich wie seinerzeit auf Terra die Behauptung, Ehen dürften nicht geschieden werden, weil sonst die Kinder verelenden, die Haustiere unglücklich werden und die Männer jämmerlich verhungern würden, da Kochen nun mal nicht in ihrer Natur liege.
Je mehr und bessere Erfahrungen die Kolonisten auf Tomos mit ihrer
neuen Gesellschaft machten, desto stärkere tomistische Bewegungen
entstanden, die nicht mehr auswandern wollten, sondern die Kühlschrank-
und Knastplaneten gleichfalls verändern. Wenn es die Molekularstruktur
nicht hergab, mussten eben andere, gesellschaftliche und soziale Voraussetzungen
für freie Kooperation geschaffen werden. Man konnte doch überlegen,
durch welche Maßnahmen, Vereinbarungen und Veränderungen
sich die molekularen Tatsachen auf Tomos auch für andere Planeten
simulieren ließen. Und dann konnte man das doch machen.
Diese Auseinandersetzungen dauern bis heute an. Sägen sind in praktisch allen Baumärkten dieser Planeten verboten worden, aber die Bewegung hält das nicht auf. Das zentrale Manifest der neue tomistischen Interplanetare, das überall heimlich verteilt wird, gruppiert sich um zwei Parolen. Die eine lautet: Die Welt ist ein Knast, befreit euch! Die andere lautet: Ihr habt den Kühlschrank nicht bestellt, also braucht ihr ihn auch nicht zu bezahlen!
Viele Deserteure, die sich aus einem unsinnigen Krieg absetzen, malen als Abschiedsbrief einen Kühlschrank in den Sand. Es werden Unsummen verausgabt, um immer wieder aufs neue die Gitterstäbe abzuwischen, auszuspachteln oder zu übertünchen, die von unsichtbaren Händen auf Fabrikmauern, Parlamentsgebäude, Schultafeln und Supermärkte gemalt werden. Nicht wenige Chefs finden abends auf dem Parkplatz ihr Auto besprüht mit einer gezackten, sägeartigen Linie, und einen Zettel daneben: "Aber das gehört uns!"
In diesem Zusammenhang entstand auch eine populäre
und häufig missverstandene Geste, das sogenannte "Fork". Man hebt
dazu die Handfläche und spreizt Mittel- und Ringfinger auseinander,
so dass eine Gabelung entsteht. Im tomistischen Gebrauch bedeutet das
so viel wie "danke, wenn du das so siehst, dann teilen wir uns hier
lieber, oder wir fangen nochmal neu an zu verhandeln." Viele Tomisten
verwenden sie auch einfach als Gruß oder Erkennungszeichen. Die
Geste soll auf einen vulkanischen Theoretiker zurückgehen, der
sich auf seinen ausgedehnten Reisen in Galaxien, die nie zuvor ein Vulkanier
betreten hat, bahnbrechende Beiträge zur Anwendbarkeit des Tomismus
auf Systeme mit konventioneller Schwerkraft und Molekülstruktur
geleistet hat. Die politischen Schriften dieses Vulkaniers werden auf
Terra selbstverständlich unter strengstem Verschluss gehalten.
Die Geste dagegen ist in einigen populären TV-Serien bis heute
erhalten geblieben.