DER TRAUM VOM BEFREITEN LEBEN   



expAnda: ein Hamster, Zuneigung und uneingestandene Wünsche

[“wer ist ich? und kennen sie den Weg zum Unterbewusstsein?”]

»Selbstbefreiung ist stets unvollkommen. Sie hat immer etwas Prozesshaftes, Werdendes. Und doch ist das keine Rechtfertigung dafür, nicht den ersten Schritt zu machen – auf der Stelle stehen zu bleiben.«

 

Phantasie, Realität und ein feministisches Sofa

Nachdem der Rest der langen DarstellerInnenliste des vorangegangenen Fimes über den Bildschirm gezogen war, drang die charakteristische, weibliche Stimme der virtuellen, leicht bekleideten Nachrichtensprecherin aus dem Lautsprecher. “Gute Nacht und herzlich Willkommen zu einer Sonderausgabe der Verdammtspätnachrichten. Mein Name ist Falafelteller und ich bin necrophil. Warum habe ich das jetzt gesagt? Ähem. Kommen wir nun zur Sache. Aufgrund besonderer Umstände kann es in der Nacht und den nächsten Tagen zu Verzerrungen im Gefüge der Wirklichkeit kommen, es besteht also kein Grund zur Sorge, wenn Zeichentrickfiguren an ihrer Tür klingeln, um ausstehende Steuergelder einzutreiben oder Ähnliches. Ähm, wie ich so eben höre, macht die Regierung einige BerufsdemonstrantInnen für diesen Umstand verantwortlich, welche danach trachten, die Mauer zwischen Realität und Phantasie einzureissen. Bleibt zu hoffen, dass unserem Leben die von uns allen so geschätze Ruhe und Ordnung erhalten bleibt. Und dass dieses gewalltbereite Pack aus Chaoten und Krawalltouristen von der Polizei ordentlich nieder geknüppelt wird...bitte entschuldigen sie meine Gewalltphantasien.
 Nun, weiter geht es bei anal channel mit dem esoterischen...ich meine erotischen – obwohl...nun – Film Die Affen aus dem Karma Sutra Wald. Ein Expeditionsteam aus EsoterikerInnen und ehemaligen Jedirittern, bestehend aus drei Frauen und Männern, hat sich an die Aufgabe gemacht, einen bisher unbekannten Abschnitt des Wo bin ich hier? Urwaldes zu erforschen, um ihren ganzheitlichen Kosmos zu erweitern – was immer das bedeuten mag. Dabei dringen sie immer tiefer ineinander...in den Urwald – meine ich natürlich – vor und treffen auf eine neue, hochintelligente Affenart, deren Vertreter sie so gleich mit allerlei esoterischen Broschüren versorgen. Zwischen den Menschen und Affen kommt es schon bald zu...innigem Kontakt. Um ihr Bedürfniss nach spiritueller Vereinigung zu befriedigen, schlafen Menschen und Affen miteinander und das nicht nur einmal, Analverkehr inklusive. Anschließend sehen sie Keine Angst, keiner muss ewig hetero sein!, den ersten Teil unserer Dokumentation, in der ein paar Extremisten...pardon, junge Menschen davon erzählen, warum sie nichts mit sexuellen Kategorien a la Hetero, Homo und Bi und so zu tun haben wollen. Eine vergnügliche Nacht und viel Spaß beim weiteren Zuschauen und Masturbieren wünscht ihnen...zzZzschhh!“
 Der Bildschirm wurde schwarz, immer noch angeschaltet – der vielsagende Ton blieb erhalten. “Hilfe, da sind...lauter Affen. Affen...oh, sie reiben ihre Geschlechtsteile aneinander, alle zusammen...vor meinen Augen...und ich verspüre große Lust, da mitzumischen. Wie freundlich von euch Affen, dass ihr mir beim Ausziehen helf...oh, das ist schön. Ja, weiter so...äh, sind wir noch auf Sendung – verdammt. Musste das sein? So ein Mist – warum müsst ihr auch immer zu früh kommen?”
 Ein Pflasterstein wurde durch das Zimmer geworfen – klasse Idee – und durchschlug den Fernsehschirm mit einem lauten Knall, der in der gesamten Straße zu vernehmen war. Ein letztes elektronisches Zischen drang aus dem Inneren des zerstörten Gerätes, dann legte sich eine vielsagende Stille auf die Nacht, in welcher schon die Vorausdeutung auf geräuschvolle Ereignisse zu vernehmen war. Fernsehen macht stumpf.
 Die Hauswände fingen an, spürbar zu zitterten. Ein Mensch, der sich eben noch einen geschlackert hatte, trat mit offener Hose ans Fenster und sah nach draussen. Als er sich mit der rechten Hand an den Kopf fuhr, schnitt er eine verzerrte Grimasse. Eine klebrige Stirn.
 Mit unglaublicher Geschwindigkeit rannte ein Mädchen im Schlafanzug durch die Straße, ein Glas mit frischer Erdnussbutter unter dem Arm haltend. Ihr folgte eine Gruppe aufgebrachter Elefanten, denen die Stoßzähne fehlten und welche bei der Durchquerung der Bonzengasse das Dach eines noblen Wagens auf Bodenhöhe absenkten – oh wie schade.

“DaDaDaDududududu DiDidaDaDa DaDaDadiDidaDaDa DaDaDadiDidaDaDa DododoDoDoDododo dadadaDaDaDuDuDa DuDuDa DuDuDa – ja, genaududa DaDaDadadadadada DaDaDadadadadada.“

Im naheliegenden Wald zerschlugen Ameisen zur selben Zeit den Staat, demonstrierten der machtbesessenen Königin, was sie unter einer direkten Gerichtsverhandlung verstanden und führten die Anarchie ein. Die Kollektivierung der Produktionsmittel, Selbstorganisation von unten nach oben und Bedürfnissproduktion ersetzten das alte ausbeuterische und ameisenverachtende System. “Freiheit für alle Ameisen weltweit!” Hatte dieses Ereignis bereits etwas mit den vorhergesagten Störungen im Gefüge der Realität zu tun – who knowz?
 Eine Betrunkene, die sich in den Wald verirrt hatte, konnte nicht von dem Versuch ablassen, ihren nackten Po in den Ameisenhügel zu drücken. Mit diesem zertrampelte sie, ohne es zu wissen, die ersten Ansätze einer freien Gesellschaft unter Ameisen, deren volle Entfaltung noch vor bestanden hätte. Anscheinend war es eine höhere, historische Gesetzmäßigkeit, dass anarchistische Gesellschaften schon in der Entstehungsphase von außen zerstört wurden – hoffentlich nicht.
  “Seht mal, ein Eishörnchen.” sagte sie, nicht mehr der Unterscheidung fähig, ob sie zu den Bäumen um sie herum oder zu sich selbst redete.

Sterne funkelten am Himmel.
 In der Mitte eines kleinen Schlafraums, auf einer breiten, einladenden Matratze, schlief Len, bis auf den seitwärts liegenden Kopf unter einer blauen, sternengezierten Decke verborgen. Schweiß überzog ihren warmen Körper.
 Durch einen Vorhang, bestehend aus ovalen, hölzernen Kordeln, war dieser vom anliegenden Zimmer getrennt. Dort stand ein weiches Sofa, oft besessen und mit zahlreichen Flicken versehen, was ihm bzw. ihr Charakter und Lebendigkeit zu verleihen schien. Von dem Hamster, welcher sich während der Nacht in den gepolsterten Rücken der angenehmen Sitzgelegenheit gefressen hatte, hatte es – aus welchem Grund auch immer – den Namen “Höhle” erhalten. Dennoch beharrte es auf der Ungebundenheit bezüglich einer Geschlechtlichkeit. In Mann und Frau erblickte sie bzw. er nämlich ein gesellschaftliches Konstrukt. Höhles einziges Problem bestand darin, diese und andere Erkenntnisse anderen Wesen zugänglich zu machen, da ihr bzw. ihm keinerlei Möglichkeiten gegeben waren, sich mitzuteilen. Und bisher hatte sie keine telepathischen Fähigkeiten entwickelt, um ihre natürlichen Mängel überbrücken zu können und anderen den – von ihr bzw. ihm vertretenen – Dekonstruktivismus (den gibt es wirklich) näher zu bringen.
 Der nachtaktive Nager war übrigens ein machthungriger Imperialist, dessen oberstes Ziel es war, die Herrschaft über die gesamte Welt an sich zu reißen. Welcher Sinn dahinter steckte? Nun, das war etwas, was ihm selbst noch unersichtlich war.
 Auf einem länglichen Tisch an der gegenüberliegenden Wand, befanden sich zwei Plattenspieler. Der Fader des dazwischen positionierten Mischpultes stand in der Mittelstellung. Was hat sich die Erzählerin bei der Erwähnung dieses scheinbar unscheinbaren Details wohl gedacht? Nun, die Erzählerin – das bin ja ich!
 Zwischen den Welpen...äh, Welten. Hey, was sollen diese ewigen Versprecher (oder sollte ich VersprecherInnen sagen)? Grrr. Sie befand sich im Übergang von Schlaf und Wachsein, im Verbindungswagen beider Zustände, aber um eine neutrale Zone handelte es sich kaum – ganz im Gegenteil (wie wir noch deutlich sehen werden).
 So viele Bilder streiften ihr inneres Auge und tausende Impressionen bahnten sich den Weg zu ihr, doch es war eine Begegnung ohne Vertrauen: klare Grenzen waren aufgehoben. Phantasie und Wirklichkeit hielten sich die Waage, wechselten sich ab, vermischten sich miteinander und waren so nicht voneinander zu trennen.
 Len hockte auf dem Boden des wankenden Abteils, immer wieder rutschte sie hin und her zwischen den gegenüberliegenden Türen: Spielball zweier Zustände, die beidsam danach strebten, sie für sich zu gewinnen – ohne Erfolg, jedenfalls bis zu jenem Zeitpunkt.
 Mit Verwunderung stellte sie fest, dass der Boden über und über mit weichem, warmen Sand bedeckt war. Mit ihren zu einer Schaufel geformten Händen fuhr sie durch den samtweißen Sand und ließ ihn langsam durch ihre Finger gleiten. Zurück blieb eine kleine, gepunktete Katzenmuschel und ein großes Fragezeichen in ihrem Kopf.
 Das Herannahen von Schritten ließ sie aufsehen. Eine verschwommene, breitschultrige Gestalt mit schwarzem Anzug schob sich durch die Tür und trat in das Abteil. Zielgerichteten Schrittes kam sie auf Len zu. Dabei wuchs die – nun als weiblich erkennbare – Person ins Unermessliche, wodurch Len sich ins Kindesalter zurückversetzt fühlte. Direkt vor ihr blieb die Schaffnerin stehen und verharrte regungslos. Wie ein Turm ragte sie vor Len auf, von einem gespenstischen Hitzeflimmern umgeben – aber sie gab sich nicht der Hoffnung hin, dass es sich bei der Gestalt nur um eine harmlose Luftspiegelung handelte. “Es ist ja nur ein Traum!” sagte sich leicht dahin, solange mensch selbst nicht mitten drin steckte, Teil von diesem war – und nicht die unbeteiligte Beobachterin mimen konnte.
 Sekunden verstrichen, dehnten sich und zogen den Moment in unerträgliche Länge...wie ein zähes Kaugummi. Dann senkte die Schaffnerin den Kopf und fragte mit tiefer, abfälliger Stimme: “Na, meine Kleine, wo hast du denn deine Fahrkarte?”
 Das langlebige Echo des Gesagten, begleitet von einem Zittern der Angst, welches Len durchfuhr, hallte metallisch durch ihren Schädel, der sich als ein außerordentlich guter Klangkörper erwies. Im nächsten Augenblick, als sie den Kopf um einer Antwort willen hob, hatte sich die Schaffnerin bereits in einen weißen Hasen verwandelt, welcher mit drei Sprüngen – hops ! – in der Seitenwand verschwand. Anscheinend hatte dieser vergessen, dass dies unmöglich war und er sich damit mächtigen Ärger mit menschengeschaffenen, physikalischen Gesetzen eingehandelt hatte. Nun ja, in Träumen waren solche Aussetzer schon mal erlaubt.
 Sie richtete sich auf und sah durch das Fenster des Zuges, um dem Verbleib des langohrigen Nagetiers nachzugehen. Anstatt eines Bahnhofs oder einer vorbei rauschenden Landschaft konnte ihr Sehsinn ihr “nur” nichts übermitteln, pures Nichts. Dieses für ihre Augen unangenehme Erlebnis verdankte Len den ErbauerInnen dieser Zwischensequenz, dafür konzipiert, sie vom Traum sanft – auf sanft liegt die Betonung. – in den Wachzustand hinüber gleiten zu lassen. Die Verantwortlichen für die Traumkulissen hatten nur das Nötigste aufgebaut, nicht damit rechnend, dass jenes träumende Mädchen den Traum in all seinen Facetten auskundschaften würde. Das mit dem sanften hinüber gleiten lassen hatte sich jedenfalls erledigt...so ein faules Pack.

Eishörnchen essen Nüsse. Im Wald biss ein anarcho-syndikalistisches Eishörnchen einem Menschen in die Nüsse, welcher die nächsten Minuten darauf verwendete, laute Schmerzschreie von sich zu geben, durch die Gegend zu rennen und vor - aua - Tannenbäume zu laufen. In der Nähe eines Flusses, unter einer Eichel, da, wo alle seine Bedürfnisse befriedigt wurden, schlug er sein Lager auf. Nun musste er nur noch einen kleinen Jungen suchen, der seinen Penis in den Mund nahm, und von denen wimmelte es ja im Wald. – Pädophilie ist schon in Ordnung.

Mit einem seltsam betaumelten Gefühl von Erregung, nicht eindeutig aber schon sexueller Natur, wachte sie auf. Anstatt sofort aufzustehen, wie es ihrer Gewohnheit entsprach, blieb sie liegen, um die verblassenden Erlebnisse der Nacht fest halten zu können. Eine nebelhafte Ahnung an einen zurückliegenden Traum – heraus gegriffen aus den sich wie Rauch einer Pfeife verflüchtigenden Eindrücken – erfüllte ihren schlaftrunkenen Geist. Jedoch gab die Sparte “Was ist passiert?” nicht viel her.
 In sich konnte sie Fetzen von Erinnerungen ausmachen – zusammenhangslose, nichts sagende Teile eines Ganzen, aus denen sich beileibe keine Inhaltsangabe rekonstruieren ließ: nackte Füße, blauer Himmel, Sand und eine Unterhaltung mit Jesse, ihrer Freundin.
 Nachdem sie sich langsam auf den Rücken gedreht hatte, öffnete sie die Augen, die schräge Wand ihres Dachzimmers anblickend. Die mehr und mehr an Farbe verlierende Traumwelt ließ ihre Gedanken nicht los, hatte ihre verstrickten Fesseln um sie gewickelt. Eingeschnürt...wie einen Kokon.
 Sie wollte ergründen, zu welcher Geschichte diese Gedanken gehörten, ein Wunsch, den sie nicht weiter zu begründen imstande war. Ich will es einfach, dachte Len – obgleich ihr insgeheim klar war, dass hinter diesem Wunsch mehr steckte...mehr als sie sich zu diesem Zeitpunkt eingestehen mochte. Das war der Beginn ihrer Spurensuche...nur wo? Wo anfangen?
 Mit einem trägen Gähnen streckte sie ihre Arme von sich, schob die Decke beiseite und stand auf, nicht ohne Widerwillen. Ein wenig betaumelt stieg sie über die Matratze und Berge von sich türmender Wäsche, um sich in den anliegenden Raum zu begeben.
 Dort öffnete sie das Dachfenster, sah aus diesem und traute ihren Augen nicht. Zwischen den Birnenbäumen des weitläufigen Gartens turnten einige Affen herum und rangen spielerisch miteinander. Drei von ihnen hatten es sich im Schatten der Bäume gemütlich gemacht und verspeisten saftige Birnen, während sie das Treiben der anderen mit großem Interesse beobachteten. Alles reine Einbildung, ich bin nur noch nicht richtig wach, dachte sie in der Hoffnung, das Problem mittels Autosuggestion lösen zu können. Fehlanzeige. Die eingebildeten Affen tollten weiter durch die Wiese. Sie waren viel zu sehr vom Spielen und Essen beansprucht um sich daran zu stören, nur der Phantasie entsprungen zu sein. Wenn ihr schon nicht verschwinden wollt, dann lasst mir wenigstens ein paar Birnen übrig, dachte sie ärgerlich und wand sich vom Fenster ab.

Langsam kroch der Hamster aus dem Inneren des geschlechtsungebundenen Sofas, welches den Namen “Höhle” trug. Dummes Sofa, fiepte er entnervt. In der Nacht hatte der Nager eine Menge dazu gelernt. Er hatte beispielsweise die lehrreiche Erfahrung gemacht, dass Schaumstoff keine besonders hochwertige Nahrung darstellte. Der Haufen gelblichgrüner Kotze zu seinen Vorderläufen erinnerte noch an diese späte Einsicht. Ihm war nun bewusst geworden, dass sich Sofas nicht sonderlich für imperialistische Zwecke eigneten, insbesondere wenn es sich dabei um ein profeministisches Möbelstück handelte. Während er davon tippelte, um sich einen schöneren Schlafplatz zu suchen, grübelte er nach. Es bedurfte einer neue Strategie, das stand fest, nur welcher?

Len war in den Schlafraum zurück gekehrt, um das an eine Hügellandschaft erinnernde Durcheinander, bestehend aus Unmengen von Socken, Hosen und anderen Kleidungsstücken, ein wenig aufzuräumen. Der subtile Geruch, welcher von diesen ausging, machte sie – auf freundliche Weise – darauf aufmerksam, dass sie eines ausgiebigen Aufenthalts in der Waschmaschine bedurfteten. Für mich ist es auch mal wieder Zeit, befand sie nach kurzem Schnüffeln, obgleich ihr der vertraute Geruch ihrer selbst gefiel. Nein, nicht für die Waschmaschine.
 Als sie gerade im Begriff war, das geplättete Kopfkissen auszuschütteln geschah etwas sehr, sehr Merkwürdiges. Sand floss zwischen den Knöpfen des Kopfkissens hervor und rieselte auf die Matratze – und nicht gerade wenig. Das Fliessen schien keine Ende nehmen zu wollen und führte dazu, dass ihre Schlafegelegenheit schon bald unter all dem Sand nicht mehr zu erkennen war. Wie konnte so viel Sand in ein so mickriges Kopfkissen gelangen? fragte sich nicht nur Len, deren geweitete Augen sich selbst das Misstrauen aussprachen. Sehe ich das wirklich? Aber sie war schon zu wach, um sich selbst einzureden, dass sie immer noch träumen würde, leider. Obgleich sie damit unbewusst verdammt nah an die Wahrheit heran gereicht hätte, nur einen unscheinbaren Zipfel von dieser entfernt.
 Es hatte aufgehört. Es hat aufgehört. Ihre Hand senkte sich in den Sandhügel, welcher für einen neuen Sandkasten ausgereicht hätte, und zog eine Katzenmuschel und das kleine Stück eines Puzzles hervor. Wieder zwei Bruchstücke mehr...und noch mehr Fragen. So viel Sand, dachte sie staunend. Er verleiht meinen Schlafzimmer eine ganz neue Atmosphäre. Nun wusste sie auch, woher das anhaltende Jucken ihres Rückens her rührte.
 Unter der Dusche kehrte das wohlige Gefühl der Erregung, mit welchem sie aufgewacht war, zurück – oder war es gar nicht erst gewichen? Es gefiel ihr ausgesprochen gut und so fing Len an, ihren Körper zu berühren. Beim zarten Streicheln ihres Bauches glaubte sie, das sanfte Rauschen des Meeres zu vernehmen. Den unmittelbaren Gedanken an den zurückliegenden Traum strich sie – ebenso wie eine feuchte, ihr ins Gesicht hängende Strähne – beiseite. Während des Abtrocknens fiel ihr Blick auf einen Aufkleber an der Wand. Ein nichts sagender, schwarzer Seestern. Oder war auch das eine eindeutig uneindeutige Andeutung der Erzählenden?


 

Vanilleeis, Bonobos und der Weg zum Unterbewusstsein

Len trat ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein einzelner Brief, auf dem sie als Adressatin stand. Aber eine bzw. ein AbsenderIn war nirgends zu erkennen und dort, wo dieseR überlicherweise zu finden war, stand mit Schreibmaschine getippt:

VORSICHT! DIESER BRIEF IST TRANSSEXUELL UND VERSCHLINGT KLEINE KINDER. KEIN SCHERZ.

Auf dem Umschlag zeigte sich ihr eine malerische Wüstenlandschaft. Vor ihren geweiteten Augen schienen sich die Dünen zu regen, der Sand zum Leben zu erwachen. Sand. Mit der nötigen Vorsicht, um das Papier nicht zu zerstören, öffnete sie den Umschlag. Aus dem Inneren holte sie ein rabenschwarzes Blatt hervor, in dessen Mitte ein einzelner Schriftzug stand. Doch selbst für ihre ausgezeichneten Augen war dieser zu klein, weshalb sie erst eine Lupe zur Hand nehmen musste, um das Geschriebene für sich lesbar zu machen.
 Selbstbefreiung ist schmerzhaft, weil sie das Widerstrebende zu verbinden hat. Mit diesen Worten konnte sie in diesem Moment so gar nichts anfangen, nicht möglich war es ihr, einen Bezug zu ihrer eigenen Wirklichkeit herzustellen. Wo sollte sie ansetzen? Sie steckte den Brief in den Umschlag zurück, den sie umsichtig in ihrem Nachttisch unter brachte, bevor sie sich zur Bushaltestelle begab. Und der unverstandene Satz ging in ihre Erinnerung ein, setzte sich fest.

Kurz nachdem Len das Haus verlassen hatte, um mit dem Bus in die Stadt – sie war mit einer Freundin verabredet – zu fahren, klingelte es an der Tür. Während ihr Zeuger, Johndoe, die Treppen hinunter stieg überlegte er, wer da vor der Tür stehen mochte. Der Postbote konnte es nicht sein, der war schon vor einer halben Stunde bei ihnen gewesen. Als er die Tür geöffnet hatte, fand das anstrengende Grübeln ein Ende und wurde durch heftiges Erstaunen abgelöst, welches für die nächste Zeit auch nicht weichen sollte.
 Auf dem Weg stand eine Frau mit sehr knappem, blondem Haar, welches die Kopfhaut noch durchschimmern ließ. Das einzige Kleidungsstück, das ihren Körper in Ansätzen bedeckte, war eine olivgrüne Winterjacke, welche von zahlreichen Taschen und Reisverschlüssen überzogen wurde, deren Funktion ihm ein Rätsel war und blieb. Sie reichte eben über den Bauchnabel. Aus einem Grund, den er selbst nicht kannte, begann Johndoe als erstes damit, ihre platten Füße zu studieren. Der Verlauf von Venen zeichnete sich dort ab. Noch nie war ihm derart aufgefallen, wie viel Besonderes in Füßen steckte, wie viel Schönes an ihnen war. (Es erforderte nur, die Augen auf zu machen, sich von der von Fernsehen, Werbung und anderen Medien ankonditionierten Verhaftung auf Po und Busen zu lösen und damit ein Stück der eigenen Wahrnehmung wieder herzustellen. Nur.)
 Dann wanderten seine Augen über ihre nackten, recht kurzen Beine. Über dem linken Knöchel bemerkte er einen moosgrünen, gemalten Ring, welcher ihn entfernt an den von Brieftauben errinerte. Sein Blick endete vor wallenden Schamhaaren, die wie ein schwarzer Vorhang wirkten, und verweilte dort noch für einen langen Augenblick. Aber es war ein abwesender Blick, einer, der nach innen gerichtet war und für den die Welt um sich herum zur Bedeutungslosigkeit verkam.
 Neben ihr stand ein farbiger Mann, der eine weite Hose trug, welche verbüffende Ähnlichkeit mit dem Unterteil eines Eisbären aufwies – oder die es wirklich war. Nur den roten Hosenträgern, die auf Brusthöhe mit schwarzen Sternen versehen waren, war es zu verdanken, dass die spektakuläre Eisbärhose sich an ihrem Platz hielt und nicht einfach zu Boden fiel. Sein schmaler, schmächtiger Oberkörper mit dem dem unscheinbarem, rundem Bauch stand in Widerspruch zu dieser. Rastas rahmten sein Gesicht ein und hingen bis knapp zu den Schultern hinunter. Eine kantige Nase stand zwischen dunklen Augen, von denen ein gutmütiger Blick seinen Anfang nahm, der an seine gesamte Umwelt etwas seiner eigenen Glückseeligkeit zu verteilen schien. Es war einer der seltenen Blicke, die mehr von sich gaben als sie Eindrücke des Umgebenden in sich aufnahmen, sich einverleibten.
 Immer noch verlor Johndoe sich in der Begeisterung für die Eisbärhose, die noch genug Platz für einen weiteren Menschen geboten hätte. Durch das weiße Fell baumelte der Penis mit der voluminösen Eichel hindurch.
  “Hast du rein zufällig eine Horde Affen gesehen, die kreischend durch die Gegend rennen?” erkundigte sich die weibliche Person, womit sie bewirkte, dass Johndoe sie ein wenig verlegen ansah. “Es handelt sich dabei um Schimpansen, Bonobos, um genau zu sein, welche eigentlich in der Phantasie wohnhaft sind...nun, eher noch in den unterbewussten Regionen der meisten Menschen. Nur sind in der Mauer, welche jene von der Wirklichkeit abtrennt, Löcher entstanden, sehr klein, aber unwahrscheinlich viele von ihnen. Die altbewährten Grenzen sind aufgehoben, jedenfalls an machen Stellen in Raum und Zeit. Und durch eines dieser Schlupflöcher müssen die Bonobos den Weg in de Wirklichkeit gefunden haben. Und, um zur eigentlichen Frage zurück zu kehren, hast du sie gesehen?”
  “Nein, sollte ich?” antwortete Johndoe verwirrt und runzelte die Stirn um ein weiteres Mal. Affen, Schimpansen und Bonobos, die aus der Phantasie stammen, was haben die hier zu suchen? schoss ihm durch den Kopf. Oder wollen die mich nur auf den Arm nehmen?
  Nachdem der Zeuger Lens nichts Weiteres von sich gab, berichtete der Mann mit warmer Stimme: “Eine deiner NachbarInnen hat bei der Polizei angerufen, weil sie gesehen hatte, wie ein paar Bonobos die Straße bei Rot überquerten – mit Verkehrsregeln haben sie es nicht so. Andere AnruferInnen erzählten davon, wie die Affen ihre Gärten besucht und sich mit frischem Obst beworfen haben. Ach übrigens...dein Penis ist so eben im Begriff zu errigieren, wenn ich mich nicht täusche. Oh ja. Nun, das soll schon mal vorkommen. Hey, was schaust du so – du brauchst deswegen nicht zum Arzt, das ist ganz natürlich. Hat er einen Namen?”
  “Oh ja, natürlich.” stimmte Johndoe geistesabwesend und einsilbig zu und versuchte, zu Boden zu sehen, obgleich seinem Blick ein gewisses Hinderniss im Weg stand, welches sich langsam aber sicher in die Horizontale aufrichtete. Als der Inhalt der letzten Frage zu ihm vorgedrungen war und er diesen verstand, haspelte er mit verstörter Stimme: “Äh...Nein!“
  “Nun, ich konnte noch nie verstehen, warum Menschen so einen Kult um...bestimmte Körperteile machen und personifizieren – hallo Dödel. Und doch werden die Menschen bei euch nur noch auf jene reduziert. Wenn ich mir die Frauen auf den Plakatwänden betrachte, deren Gesichter längst in der sie bedeckenden Schminke untergegangen sind, dann sind sie nicht mehr als leblose Hüllen mit entsprechendem Brustumfang, ein toter Gegenstand. Verkauft werden kann nur das Stereotyp. Es scheint, als hätte diese Gesellschaft die Idee der Seele nur abgeschafft, um den Körper umso hemmungsloser zur vermarktbaren Ware machen zu können.“ Sie wechselte ohne großangelegten Übergang das Thema: “Das mit deinem – liegt es an meinem unbekleideten Beinen?” vermutete die Frau, “also um ehrlich zu sein: ich habe ein sich widersprechendes Verhältniss zu Kleidung. Manchmal mag ich es, mich mit ihr zu umhüllen, zu schmücken oder zu tarnen und sicher hat sie auch praktischen Nutzen, ohne Frage. Aber ich sehe in Kleidung keinen Teil meiner Identität, der mir ein Leben ohne diese unmöglich gemacht hätte. Denn es gibt immer einfach Situationen, in denen ich Kleidung verabscheue, von Grund auf hasse, wo ich mich einfach so durch die Welt bewegen möchte, wie ich bin. Ohne jede Hülle. Ohne diese unterschwellige Grenzziehung zwischen meiner Umwelt und mir. Immer wenn ich nackt bin, spüre ich so ein ursprüngliches, angenehmes Gefühl. Eine besondere Art von Freiheit. Die schönste Errungenschaft der Kleidung ist das Ausziehen.“ Mit einem Lächeln sah sie auf seinen steifen Penis. “Also mich stört es nicht im Geringsten, dass du erregt bist – das ist doch was Angenehmes? Und außerdem fördert es die Blutzirkulation.”
  “Ernsthaft? Äh, können wir nicht doch über Bonobos reden?“ schlug er verzweifelt vor. und sah sich um. “Ich nehme an, ihr stammt auch aus dem Reich der Phantasie.”
  “Nicht aus deinem.” sagten die Menschen synchron, womit sich seine Verwirrung um ein Weiteres erneuerte.

Aus einem unscheinbaren Riss in der Wand war in der Nacht ein milchiges Sekret in die Badewanne geflossen, das diese nun bis zum obersten Rand ausfüllte. Es verbreitete den Geruch von Hering, welchen der eintretende Mensch nicht wahrnahm, da seine Nase stark verschnupft war. Er zog sich bis auf seinen schwarzen Tanga mit dem Bärengesicht auf der Vorderseite aus, dabei summend. Mit einem erleichterten Seufzer setzte er sich in die Badewanne. Dann machte er seine Augen auf. Wenigstens ist es kein Leim, dachte die Mensch, nachdem es von der klebrigen Flüssigkeit gekostet hatte. Wer auch immer dass produziert hatte, besaß einen anstrengenden Tagesablauf und chronische Sehnscheidenentzündung.

Sie saßen schon eine Weile auf einer Mauer in der Nähe des Bahnhofs, veganes Eis schlürfend und die Straße beobachtend. Menschen zogen an ihnen vorbei, SchülerInnen, die ihren Zug nicht verpassen wollten. Ihre jede menschlichen Regung entbehrenden Gesichter drückten Leere aus und ihre starr geradeaus blickenden Augen erweckten für sie den Eindruck, mit Scheuklappen darauf konditioniert worden zu sein: nur nicht den eigenen Weg aus dem Blick verlieren, abgeschirmt gegen das Andere. Gesichter der Gleichgültigkeit.
 Gedankenverloren sah Len zu Jesse, unter deren engen, olivgrünen T-Shirt sich ein wohlgerundeter Körper abzeichnete, von welchem das Versprechen von Geborgenheit auszugehen schien. Len war fasziniert von ihr und einen Augenblick versuchte sie sich vorzustellen, wie Jesse ohne es aussehen würde. Doch als ihr dies ins Bewusstsein trat, schüttelte sie nur den Kopf. Ein Abschütteln dessen, was nicht ins bewährte Schema sich zwängen liess. Als sie an ihrem Vanilleeis leckte, ihrer eindeutigen Lieblingssorte, setzte in ihrer Bauchregion ein leichtes Kribbeln ein, so als würde eine Feder sanft über ihre Haut streichen. Der Traum. Ein rasches Aufblitzen in ihren Gedanken: aber welche Verbindung mochte da bestehen?
 An Jesse war nicht vorüber gegangen, dass sie große, fragende Augen bekommen hatte, in denen sich angestrengtes, von der Umwelt abgewandtes Nachsinnen spiegelte. “Was ist mit dir?” erkundigte sich Jesse nach einiger Zeit, sie aus dem fernen Strom reissend.
  “Keine Ahnung, ich war irgendwie weg.” erwiderte sie, den Traum wieder abstreifend. Aber ihre Freundin, der diese Antwort zu wenig war, wollte sich nicht so zufrieden geben, spürend, dass hinter ihrer Abwesenheit mehr steckte. “Ziemlich weit weg, findest du nicht? Fast so, als wärst du in einen Traum versunken.”
 Len zuckte mit den Schultern und versuchte, Anschluss zu finden an das vorangehende Gespräch, und es gelang ihr kaum, ihr überaschtes Entsetzen zu verbergen, wie ihrer Freundin nicht entging. “Was du über Schule gesagt hast, dieses Gefühl, jeden Tag an einen Ort zu müssen, der dir nicht gefällt, einfach nur mit Anderen in einem Raum sitzen zu müssen bis es klingelt – ist das schon länger so? Du hast jedenfalls nie etwas davon erzählt.”
 Jesse, die stumme Zeichen zu verstehen imstande war, nahm Lens Abblocken an, über das sie Beschäftigende zu reden, und doch fiel es ihr schwerer als angenommen, wieder zurück ins Gespräch zu finden: “Es hat so verdammt lange gedauert, bis ich mir selbst eingestand, was Schule wirklich ist – viel zu lange.“ In ihrem Blick wurden die Erinnerungen an Schule lebendig, vor ihren Augen zogen die vertrauten Bilder an den heutigen Schultag auf. “Wie sie Menschen einzwängt. Wie sie mich einzwängt. Und dabei bleibt es ja nicht: es bedeutet, sich jeden Tag klar zu machen, welche Gewalt von Schule ausgeht. Jeden Morgen in dem ungemilderten Bewusstsein aufzuwachen, wieder einen Tag zu verlieren...das ist hart. Aber ich bin ziemlich glücklich, dass wir heute darüber geredet haben. Ich hätte das schon viel früher tun sollen. Weil du der einzige Mensch bist, dem ich dies anvertrauen kann, ohne mir anhören zu müssen, dass ich mich in etwas hineinsteigern, dass ich alles viel zu pessimistisch sehen würde. Die Anderen wollen nicht hinter die Kulissen sehen, wollen sich nicht ihrer Selbsttäuschungen entäußern, wollen sich nicht meinen Gedanken und Gefühlen öffnen, die auch ihre hätten sein können. Nur deshalb stempeln sich mich als Spinnerin ab und werfen mir vor, ich würde mir zu viele Gedanken machen – als ob mensch sich in dieser gedankenlosen, blinden Welt überhaupt genug Gedanken machen könnte. Nun, du verstehst mich und nimmst meine Probleme ernst.” Sie seufzte und rieb sich die Augen, ein Ausdruck der Anstrengung, die hinter ihren Worten und aller sprachlichen Präzision steckte.
 Ein unausgesprochener Gedanke stellte sie vor ein langes inneres Schwanken, ob sie ihn ausprechen sollte oder nicht. Angst spielte dabei eine auschlaggebende Rolle. “Du bedeutest mir etwas.” offenbarte sie mit leiser Stimme, in der ein schwaches Zittern enthalten war.
 Die Antwort der anderen war ein zögerndes, distanziertes Lächeln, welches sich so gar nicht mit dem deckte, was Len wirklich empfand. Von der totalen Freude in ihrem Inneren, dem Berührtsein, dessen einzig angemessener Ausdruck lautes Aufschreien und das zarte Umarmen der Freundin gewesen wäre, vermittelte ihr Gesichtsausdruck nichts: statt nächster Nähe gab sie Ferne vor, Distanz. Gegen sich selbst ging sie dabei vor und brachte so jenes dialektische Verhängnis in Gang, welches darin besteht, dass eben das, was unterdrückt wurde, dadurch seine Macht noch verfielfachte. Und erst mit der volkommenen Unterdrückung und Verdrängung, die es abgespalten, wurde das nicht Zugelassene erst zu dem Fremden, Eigenständigen, das nur um so heftiger und unvermittelter zurück schlug. Das blind Unterdrückte schlug um in die Herrschaft, welche ihm angetan: die Macht kehrte sich gegen den bzw. die sie Ausübenden.
  “Nun, ich werde mich langsam mal verdrücken“, sagte Jesse dann unsicher, um der unangenehme Stille aus dem Weg zu gehen, “Mich erwartet noch ein Berg von Hausaufgaben...und eine Menge Ärger, wenn ich sie nicht mache.” Jesse streckte ihr den Kopf entgegen, um sie auf den Mund zu küssen, wie sie es als Verabschiedung zu tun gewohnt waren. Aber Len drehte ihr Gesicht zur Seite. Sie konnte es nicht. Verunsichert sah Jesse zu Boden, öffnete den Mund. “Also bis dann,“ sagte ihre Freundin und zog davon.
 Len hob den Kopf und sah ihr nach, die Mundwinkel nach unten gezogen. Ihre Stimme hatte geknickt gewirkt. Aber es war doch nur eine leere Formel gewesen, hinter der kein Gefühl steckte. Oder? Augenblicklich erfasste sie Unwohlsein, ein starkes Gefühl der Niedergeschlagenheit, das sie traf wie ein Schlag aus dem Nichts. Sie konnte es nicht zuordnen, wusste nicht, woher es kam. Und dann fing sie an, hemmungslos zu weinen, ohne etwas von dem empfundenen Schmerz zurück zu halten. Menschen gingen zügig an ihr vorbei, schenkten dem traurigen Mädchen, welches im Schneidersitz auf der Mauer saß, keinerlei Beachtung, verständlich, da keineR ja nicht seinen bzw. ihren Zug verpassen wollte. Noch lange saß sie da, erstarrt und doch zu tiefst bewegt, ohne jeden Gedanken in diese Traurigkeit versunken, für die sie keine Erklärung fand...finden wollte.

Um noch ein wenig von der Abendsonne zu haben, hatte Len sich entschlossen, den Weg nach Hause zu Fuß zurück zu legen. Aus einer Laune heraus war Len einfach geradeaus gegangen, den Blick stets auf den Asphalt unter ihr gerichtet. Nach einer Stunde, als sie stoppte und ihren Kopf in Erwartung der vertrauten Umgebung hob fand sie sich auf einer menschenleeren Straße inmitten einer Wüste wieder. Was war geschehen? Unvorstellbar war ihr, von der Straße abgekommen zu sein, welche direkt in ihren Stadtteil führte. Die Wüste, welche sich zu beiden Seiten bis zum Horizont erstreckte, vermittelte ihr den Eindruck, auf einer unscheinbaren Linie durch einen riesigen Sandkasten zu wandeln. Nur einige größere Felsen und Kakteen hoben sich von der kargen Landschaft ab, so dass sich nach kurzer Zeit das Gefühl in ihr ausbreitete, überhaupt nicht voran zu kommen, auf der Stelle zu stehen.
 Nach einer Viertelstunde erkannte sie in der Ferne einen Laden mit blauem Dach am Straßenrand, der wie eine Kugel aussah. Nachdem sie diesen nach weiteren fünf Minuten erreicht hatte, atmete sie durch, versuchte sich mit der ebenso feuchten Hand den Schweiß von der Stirn zu streichen und trat ins langezogene Innere, welches einen zweigeteilten Eindruck erweckte. Eine schwarze Linie zog sich gerade über den Boden. An den Wänden befanden sich schmächtige, bis zur Decke reichende Holzregale: In denen der linken Seite drängten sich tausende Schallplatten mit feinster Musik aneinander, deren Durchstöbern mehrere Tage erfordert hätte. Auf der anderen Seite befanden sich verschiedenartigste Dosen in den Regalen, von denen es hunderte gab, jede mit anderem Aussehen und Form.
 Len blieb vor dem Plattenregal stehen und staunte angesichts des für sie überwältigenden Anblicks. So viel schöne Musik. Nach einiger Zeit des stummen Anhimmelns zog sie willkürlich eine Platte hervor, da alles ernsthafte Auswählen mindestens die nächste Woche überdauert hätte. DOSE-ONE – HEMISPERES LP.
 Am Ende des Ladens tat sich eine kleine Theke auf, hinter der eine Frau in einem grauen Ohrensessel saß. Das einzige, an das sich Len später errinern konnte war die blaue Wollmütze, welche die Ladenbesitzerin auf dem Kopf trug und in deren Mitte sich ein kleiner, brauner Goldhamster eingerollt hatte. “Guten Tag”, sagte sie freundlich, als sie das in ihre Richtung schreitende Mädchen bemerkte und erhob sich aus ihrer gepolsterten Sitzgelegenheit.
  “Was befindet sich da drin” fragte Len durch den Raum und deutete auf eine der Dosen, welche mit sich abwechselnden, schwarz-weißen Karos überzogen war. Ein eigenartiger Laden, befand sie, sich im Raum umsehend und auf die Antwort der Ladeninhaberin wartend. Die Luft war angenehm kühl und leicht, so dass sie jeden Atemzug genoss. Ungewöhnlich.
  “Kekse. In dieser sind Schockocookies,“ sagte die Frau mit feuchten Augen, um sogleich das Angebot hinzu zu fügen: “Möchtest du einen probieren – wie wär's?”
  “Eigentlich nicht, ich bin viel zu durstig, um noch trockenes Gebäck in mich hinein zu stopfen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie entgeistert, ein wenig schräg fort: “Warum Kekse? An diesem Ort? Kekse und Schallplatten? Warum?”
 In dem Nebenzimmer, ein schwarzer Vorhang trennte es vom Verkaufsraum, stand mR. burNz an den Plattentellern und versuchte sich an der Kreation neuer Scratches und anderer Tricks, welche mensch mit diesen technischen Wunderdingern produzieren konnte. Hier konnte er in aller Ruhe proben und experimentieren. Mist. Wieder einmal ward sein beliebtestes Arbeitswerkzeug eine zerkratzte Ruine. Woher kam das nur? Egal. Wer ist die Nächste?
  “Also, was führt dich hier her?” fragte die Frau neugierig und Len war fast schon erfreut, dass sie ihren eigentlichen Fragen ausgewichen war, die ihr nun nicht mehr so wichtig erschienen.
  “Ja, dass ist die Frage. Nun ich habe ihren Laden gesehen”, stammelte das Mädchen, “und ich dachte mir, dass sie mir vielleicht eine Auskunft geben könnten: Wer ist ich? und Kennen sie den Weg zum Unterbewusstsein? Ach so...und ich möchte diese LP erwerben. Habt ihr eigentlich auch rare Battleplatten mit Zeugs zum Mixen und Scratchen?”
  “Ja zu deiner letzten Frage, nein zur ersten.” antwortete die Ladeninhaberin freundlich und ernst. Nachdem sie Len einen eindringlichen Blick geschenkt hatte, liess sie einige Sekunden verstreichen und fügte, unmerklich gesetzter, hinzu: “Es gibt nicht den einen Weg, so wie es nicht die eine Battleplatte gibt...äh? Nur deinen Weg. Und den musst du schon selber finden. Tut mir leid”, sagte die Frau, dabei mit ihren Händen gestikulierend. Wer hat eigentlich diese bescheuerten, nervig belehrenden Dialoge für mich erfunden?, dachte sie bei sich, nicht nur um den Beweis anzutreten, dass Charaktere in Büchern ein Eigenleben besitzen, welches sich dem bzw. der Schreibenden auf seltsame Weise entzieht. “Die Platte soll dir geschenkt sein. Eine gute Wahl.”
 Während ihres zustimmenden Nickens konnte Len schon nicht mehr verstehen, aus welchem Grund sie all diese Fragen gestellt hatte. War es Hilfslosigkeit? Eine vertraute Musik drang in ihr Ohr, riss ihre keinen Widerstand leistende Aufmerksamkeit mit zarten Krallen an sich. Sie sah aus dem kleinen Fenster auf der linken Seite: vier farbige Männer in Boxershorts liefen rückwärts durch die Wüste und erweckten dabei für sie einen sehr ulkigen Eindruck. Als sie aus dem Sichtfeld verschwunden waren, schüttelte sie den Kopf. Sind das nicht die Menschen von Pharcyde? Aber das war nicht möglich. Unmöglich. Sie verabschiedete sich hastig von der Frau und ging. Als sie aus dem Laden in die schwellende Hitze getreten war, drehte sie sich um und sah auf das Schild über dem Eingang, welches ein reges Stirnrunzeln bei ihr hervor rief:

DIE SIEDLER VON KATSAN: SCHALLPLATTEN UND ANDERE KEKSE

Und ich wusste gar nicht, dass die eine Mutter haben, rannte durch ihren Sinn und verschwand, ohne großes Aufsehen zu hinterlassen. Verwirrung war in ihr. Dennoch spürte sie neuen Mut in sich, und so ließ sie den Laden hinter sich und ging los, an den sie fast jede Erinerung verlor. Schon nach ein paar Schritten blieb sie am Straßenrand stehen. Das Gesagte drängte sich in ihr Bewusstsein. In Gedanken wiederholte sie das, was die Frau in dem Laden von sich gegeben hatte. Nur deinen Weg. Nur deinen Weg. Nur deinen...
 Sie befreite ihre Füße von den Schuhen. Und dann riss Len sich die kurze Hose vom Leib, unter der ihre nackten Oberschenkel und ihr Po zum Vorschein kamen. Warum tue ich das? Das Mädchen legte die Schallplatte zu ihrer Kleidung, verließ die Straße und drang in die Wütse ein, mit nichts als einem grünen Shirt bekleidet und ohne jedes Schamgefühl. Sie spürte den heißen Sand, der ihre Fußsohlen kitzelte und die Luft, welche sich an ihre Beine schmiegte, und ihr einen Eindruck von Freiheit vermittelte, den sie so nie erlebt hatte. Trotz der Ödnis aus Sand und Dünen, deren Endlosigkeit jeder Hoffnung ein Ende bereiten sollte, war in ihr die instinktive Sicherheit, auf dem richtigen Weg zu sein, aus der sie die Kraft zum beständigen Voranschreiten zog. Sich selbst verstand sie nicht: was hatte sie zu diesem Verhalten bewogen?
 Auf einem umgefallenen Wegweiser, welcher irgendwo im Sand lag und in die entgegengesetzte Richtung deutete, stand mit schwarzer Farbe geschrieben: PHAT FARM. Auch das ist eine andere Geschichte, die hoffentlich nie mehr erzählt werden wird. Nein, ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit, rein gar nicht...oder?

Ihr Leib schwitze aus allen Poren. Len war schon eine ganze Weile durch die Wüste gewandert, als ihre Augen in der Ferne einen Maschendrahtzaun entdeckten, der ein weites Gelände absperrte. Noch konnte sie nicht erkennen, wer oder was sich dort aufhielt. Mitten in der Wüste? Während des Weitergehens fragte sie sich, was das sein sollte und was sie in diesem Sperrgebiet erwarten würde. Plötzlich blieb sie, etwa zwanzig Meter vom Zaun entfernt, stehen, in der Bewegung erstarrend: auf der anderen Seite waren zwei Bonobos, welche sich hinter einer niedrigen Düne versteckt hatten. Die weiblichen Affen rieben ihre Geschlechtsteile aneinander, was ihnen sichtliches Vergnügen bereite. Aber das hatte bestimmt nichts zu sagen und wer würde schon der Erzählerin nahe legen, mit dem Einbringen solcher und anderer Anspielungen eine tiefere Absicht zu verfolgen?
 Plötzlich stand der farbige Mann mit der Eisbärhose vor Len, welcher ihr den Blick auf das umzäunte Gelände versperrte, so als wäre er einfach vor ihren Augen materialisiert.
  “Was ist das?” erbat sie von ihm zu wissen, während sie auf sein Glied starrte, welches aus dem Fell der eigenwilligen Hose heraus ragte. Nach einem Moment antworte er trocken: “Dein Unterbewusstsein.”
 Ein vielsagendes “Oh!” war alles, was sie zu antworten imstande war. Und dann rannte sie in die andere Richtung davon, ohne sich noch einmal umzudrehen, ohne sich zu fragen, was sie mehr geschockt hatte: der steife Penis mit der einprägsamen Eichel oder seine direkte, des Merkens würdige Antwort. Beides.

Vor dem Haus hielt sie inne und versuchte sich in einer knappen Rekapitulation. Ihre Beine schmerzten sehr, der völligen Erschöpfung nah. Weg nach hause, auf den Boden sehen, und dann überall Wüste, Schweiß, meinen Weg finden, ich mich ausziehen, nur mit T-shirt durch die Wüste, wow, Sperrgebiet, Bonobos, sich aneinander reiben, aber es sind doch Mädchen, Mann mit Eisbärhose, steifes Glied, wo was ist das, ist der riesig, eine Antwort, panische Flucht...
 Nun, das war noch ein wenig unstrukturiert. Nachdem sie von dem Sperrgebiet bzw. vor dem Mann mit der Eisbärhose weg gerannt war, war es ihr wie durch ein Wunder gelungen, aus der Wüste zu der Stelle an der Straße zurück zu finden, an der sie ihre Sachen abgelegt hatte. Wieder hatte sie ihren Blick auf dem Boden ruhen lassen und war los gegangen. Und es hatte noch einmal geklappt – sonst wäre sie nun nicht hier.
 Wenige Augenblicke nachdem sie geklingelt hatte, öffnete El Provital, ihr mikrophongebundener Partner in der gemeinsamen Hip Hop Gruppe (deren Name der Erzählerin gerade nicht einfällt) die Tür. “Wir können uns in den Garten setzen.” schlug er vor. Als sie den Minidisc-Spieler unter seinen Arm bemerkte fragte sie nur trocken: “Was hast du diesmal für abgedrehtes Zeug kreirt?”
  “Kannst du dir vorstellen, dass sich Bonobos in meinem Unterbewusstsein herum treiben?” fragte sie El-p dann, während sie in Richtung Garten schlenderten. Er stoppte schlagartig. Der konfuse Ausdruck in seinen geweiteten Augen sollte anhaltende Wirkung besitzen und ihr gesamtes Gespräch begleiten, welches sich bis tief in die Nacht zog.
  “Was ist das?”

Als Len sich um ein Uhr wieder in ihrem Zimmer befand, war sie todmüde. Sie war zu fertig, um sich die Sachen auszuziehen und ließ sich, völlig entkräftet ins Bett fallen. In der sehnlichen Erwartung des Schlafes schmiegte sie sich an ihr Kopfkissen und einen Augenblick später war es um sie geschehen. Nur zur erhofften Ruhe finden, dass würde sie nicht. He, He...


 

Materialisierte Metaphern, bissige Schatten und andere Verdrängungsmechanismen

Traumrealität. – Auf den Punkt gebrachte Metaphern materialisierten, nahmen allmählich Form an, Bildhaftes erwachte zum Leben. Bald gelangten sie zu ihrer vollen Entfaltung, schlossen ein Mädchen in sich ein.
 Das Licht des Vollmondes erhellte das sanft wogende Meer, das sich in die Bucht einschmiegte, verlieh seiner Oberfläche ein feines Glitzern. Eine halbherzige Welle schlug aufschäumend gegen den hohen Felsen, auf dem Len ausharrte. Im Schneidersitz saß sie auf der fransigen Decke und ließ ihren Blick über das offene Meer wandern. In dem ihr dargebotenen Panorama schien sie selbst unterzugehen.
 Beim selbstvergessenen Ausblick fragte sie sich, was sich unter der Oberfläche befinden mochte, die vom Mondlicht mit einem schönen Funkeln überzogen wurde. Ihre Gedanken schwebten über den geheimnisvollen Tiefen, welche die Oberfläche bestimmten. Ihnen fehlte der Mut, den Sprung zu wagen, einzutauschen ins ungewisse Nass.
 Weit, weit vom Ufer entfernt durchbrach der schuppige, purpurne Arm eines Menschen die Oberfläche. Das in der Tiefe Liegende zeigte sich hastig an der Oberfläche, aber es blieb bruchstückhaft, nur eine Ahnung des Ganzen.
 An der Oberfläche stehen zu bleiben, das war Len zu wenig – ihr verlangte es danach, weiter zu gehen. Entschlossen richtete sie sich auf, aber der Gedanke an das kalte Wasser brachte den Widerwillen zum Vorschein, der schon viel länger in ihr lauerte, nun die Gelegenheit ergriff. Auf einmal gewann das fast schwarze Meer, die ungewissen Tiefen einen bedrohlichen Eindruck auf sie. Der riesenhafte Ozean ängstigte sie, machte er ihr doch ihre Winzigkeit bewusst. Aber das war selbst nur die Oberfläche einer Angst, die viel tiefer in ihr drin steckte – und sie wusste darum.
 Einen Schritt zurück, einen Schritt nach vorn. Ein ungelöster Konflikt lag in ihrem Inneren, Widersprüche, die auf eine Versöhnung warteten, die es erforderten, ganz in sie einzutauchen. Einzutauchen. Springen?

Sie stand am Ende eine hell erleuchteten Flurs, vor einer Tür, mit nichts mehr bekleidet als einem hellblauen T-Shirt. Ihre nackten Füße spürten den warmen Sand, der den Boden bedeckte. Wie in Zeitlupe näherte sich ihre Hand dem Türgriff, umschloss diesen. Die Knöchel der angespannten Hand traten hervor, ihre Zehen bohrten sich in den Sand. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Mit einem Zittern in der Hand, das sich bald auf ihren gesamten Leib ausweitete. In ihrem Bewusstsein taten sich kleine Risse auf, aus denen kurz darauf klaffende Spalten werden sollten.
 Ein unerwarteter Widerstand stellte sich ihr entgegen, so dass Len alle Mühe hatte, nicht zurück gestoßen zu werden. Mit beiden Armen stemmte sie sich gegen die Tür und verwünschte den Sand unter ihr. Ständig waren ihre Füße bedroht, den Halt zu verlieren, wegzurutschen und sie zum Hinfallen zu bringen. Selbst unter Aufwendung ihrer gebündelten Energien gelang es ihr nur, die Tür einen schmalen Spalt weit zu öffnen.
 Aufgelöst, ohne Kraft stand sie da. Ihre schmerzgelähmten Arme baumelten schlapp an ihr herunter. Unter dem schweißnassen T-Shirt zeichneten sich ihre Brüste ab, ein kleiner Bauch schimmerte hindurch. Len sah nicht hin. Kronkronkronk. Eine Stimme in ihrem Kopf oder von anderswo. Sie drehte sich um. Der Flur schien sich in der Endlosigkeit zu verlieren. Die Seitenwände waren überzogen mit farbintensiven Malereien von Eishörnchen, bunten Eiskugeln. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich der Ablenkung hingegeben hatte. Und es standen Zweifel in ihr auf und fingen an, am Scheinbaren zu kratzen. War der Widerstand, den sie beim Öffnen der Tür so deutlich gespürt hatte ein äußerer oder vielmehr ein innerer, ein Impuls in ihrem Inneren, den sie in ihre Umwelt verlegt hatte? Ja, die gute alte Projektion.
 Dann wagte sie es doch, sah in den Spalt. Aus dem Inneren des Zimmers quoll Dunkelheit hervor, nichts als Finsternis, die sie mit schattenhaften Fängen gefangen zu nehmen schien. Aber sie erblickte noch etwas anderes.
 Ein Zurückzucken. Sie knallte die Tür zu. Eine fast panische Angst, die ihr Herz zum Rasen brachte, füllte sie aus und brachte sie dazu, sich augenblicklich von der Tür abzuwenden und den Wunsch zu fassen, nie mehr zu dieser zurück zu kehren. Never.
 Erst nach ein paar Momenten realisierte Len, dass sie pinkelte. Selbstbeherrschung verlor den Sinn. Schon lange hatte es ihr nicht mehr solche Lust bereitet, zu urinieren. Sie ließ sie sich auf die Knie in den Sand nieder sinken, in den warmen Urin. Ihre Augen weiten sich beim Anblick des Bodens unter ihr: Der Sand war gelb, nicht nur hier – sie musste an Curryreis denken. Und da waren noch andere Spuren als die, welche ihre nackten Füße hinterlassen hatten. Hey. Nicht weit von ihr entfernt lag eine Möhre. Immer diese Phallussymbole.
 Aus einem spontanen Verlangen heraus fing sie an, über ihren Arm zu lecken. Ihre Zunge schmeckte Meersalz. Ihre – immer noch zitternde – Hand legte sich auf ihr feuchtes T-Shirt. Ihr sich heben und senkender Brustkorb glühte förmlich, spürbar war Len ihr sich überschlagender Herzschlag. Ihre Brustwarzen waren steif geworden, eindeutiger Ausdruck ihrer Erregung, die sie nicht mehr länger vor sich verleugnen, von sich weisen konnte. In Gedanken kehrte sie zurück, um den Versuch anzugehen, das Geschehene nachzuzeichnen: In dem kurzen und doch so intensiven Augenblick, als sie in das dunkle Zimmer gesehen hatte...da war etwas gewesen, etwas ihr Vertrautes und Fremdes in einem. Das, was sie gesehen hatte, hatte sie erregt. Und einem Teil von ihr hatte das nicht gefallen, er wehrte sich dagegen.
 Sie war kurz davor, die Bruchstücke der Vase zusammen zu setzen, es fehlte nicht mehr fiel. Aber das Geräusch heran nahender Schritte zwang sie dazu, sich von ihrem Inneren abzuwenden. Erinnerungen erwachten und mit ihnen die Angst. Als sie ihren Kopf wieder nach oben hob stellte sie mit Erstaunen fest, das sie sich in dem bekannten Abteil eines Zuges befand. Die Schaffnerin hatte sich vor ihr aufgebaut, nahm ihr gesamtes Sichtfeld ein. Die riesenhafte Gestalt wurde zu ihrer Welt, einem unüberwindlichen Hindernis, hinter dem es nichts anderes zu geben schien. Auf herab lassende Weise senkte sie ihren Kopf und starrte Len an, der es das Gefühl vermittelte, von dem Blick wie ein Hitzestrahl durchdrungen zu werden. Einblick?
 Und dann fiel Len auf, dass die Schaffnerin kein Gesicht hatte, so wie eine dieser primitiven Puppen, welche sie im Kunstunterricht verwendeten. Da waren keine Augen, die sie ansahen und dass erzeugte in ihr mehr Angst, als der tödlichste Blick es je getan hätte.
  “Kannst du mir mal deinen Personalausweis zeigen?” fragte die schwarze Frau mit kalter Sachlichkeit.
  “Nein.” antworte das Mädchen geladen und Len war selbst überrascht darüber, dass es ihr gelungen war. Es war nur ein Wort, aber dahinter steckte so viel, so viel, wie es ihren Mut erfordert hatte, jenes Wort mit ihren Lippen zu formen. Als sie dies sagte erschien es für sie selbst so, als hätte eine Andere aus ihr gesprochen – welche sie noch nicht kannte. Sie konnte nicht glauben, der riesenhaften Schaffnerin mit der schattenahaften Gestalt ein “Nein” entgegen geschleudert zu haben – welche Anstrengung.
  “Nein,” wiederholte sie, nicht ohne traurigen Unterton, “ich habe meine Identität verloren.” Len sah zu Boden – niedergeschlagen. Als nach langer Stille keine Erwiderung folgte hob sie ihren Kopf. Die schwarze Schaffnerin war in sich zusammen gefallen und war nun nicht mehr als ein Anzug, aus dem die Trägerin gewichen zu sein schien.
 Sie sah ein Gesicht vor Augen. Das Gesicht. Sie kannte es. Und es gefiel ihr nicht, diese vertrauten Züge so nah vor sich zu sehen. So nah...zu nah. “Nein, ich will das nicht”, rief sie in das lautlose Nichts, welches das Gesagte unverzüglich in sich aufsog. So oft sie diese Worte auch wierholte, blieb nichts von ihnen. Verschluckt durch die Wahrheit. You never knew.
 Zerbrochen.

Die Basketballhalle hatte sich schon wieder in einen Urwald verwandelt. Menschen mit blauen Trikots schlichen durch das feuchte Dickicht, auf der Suche nach dem verlorenen Ball. In ihrer Nähe klingelte das Telefon. Der Hörer wurde abgenommen. “Ja?” sagte eine heisere Stimme erwartungsvoll.
  “Hallo ich bin Hip Hop.”
Schlagartig flog der Hörer flog auf die Gabel. Ein kollektiver Selbstmord folgte, dessen Sinn nicht einmal der Erzählerin dieser Geschichte bewusst ist. Wow. Das nennt mensch wohl Eigendynamik des Geschehens. Nochmal wow.

Sie öffnete die Augen, aber ohne das Gefühl zu haben, in die Wirklichkeit zurück gekehrt zu sein. Aufgewacht, ohne aufgewacht zu sein. Im Hintergrund ihres Bewusstseins lauerte ein dumpfer Schmerz, welcher almählich lauter wurde. Die arrogannte Sicherheit, mit der sie Realität und Phantasie voneinander getrennt hatte, war ihr verloren gegangen – aber nicht nur das.
 Die Illusion, die eine Len zu sein, zerschellte an der Wirklichkeit, an der Erfahrung, aus welcher der Widerspruch nicht ausgeblendet werden konnte. Sie war nicht mehr länger dazu in der Lage, zu verdrängen, dass es eine Illusion war, sich selbst als die eine, geschlossene Persönlichkeit zu sehen. Diese Illusion, an welche sie so lange geglaubt hatte, konnte nur dadurch aufrecht erhalten werden, indem so viele Wünsche unterdrückt wurden, indem das Ich – sie selbst – Emotionen von sich abschnitt, die sich nicht in das einheitliche Bild fügten: indem das Widersprechende aus dem Bewusstsein getilgt wurde.
 Um diesen Trug vor sich halten zu können, bedurfte es so viel Gewallt gegen sich selbst. Gegen mich. Unterdrückt werden musste jede nicht genormte Regung. Und das alles, um vor sich und anderen den Schein wahren können, in sich eins zu sein. Aber sie war widersprüchlich.
 Widersprüche in sich zu tragen bedeutete nicht, in von einander Abgeschnittenes aufgeteilt zu sein. Erst durch die ständige Gewallt gegen sich selbst, welche das Ich zerstückelte, wurden die Widersprüche, die sich das Selbst nicht eingestehen mochte, ins Unvereinbare gespalten. Das gespaltene Ich war erst das Produkt von dessen Versuch, das Widerstrebende durch Unterdrückung ausulöschen. Die Widersprüche wurden im Bewusstsein ausradiert, anstatt sie als solche anzuerkennen.
 Im Einzelnen wiederholte sich dass, was die Gesellschaft als Ganzes ständig tat. Das Vertreiben der Armen, der Obdachlosen und AlkoholikerInnen war ein Ausdruck des Versuchs, die Widersprüche in dieser Gesellschaft unsichtbar zu machen. Jene trügerische Einheit zu schaffen war das Ziel der Gesellschaft, welches diese im einzelen Menschen mit aller Gewallt durchsetzte. Aber weil Einheit in der antagonistischen Gesellschaft nur dadurch zu bewerkstelligen war, alles sich Widersprechende zu verdrängen, spaltete diese sich selbst und mit sich ihre MitgliederInnen.

“Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zu viel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt.”

(Theodor W. Adorno, Minima Moralia)

In sich war sie zerissen, aber sie bildete dennoch ein Ganzes. Identisch und nicht identisch. Und zu tiefst widersprüchlich. Sie verspürte den Wunsch, ihrer neuen Platte zu lauschen, welchem sie ohne Zögern nach kam. Schöne Musik erwartete sie, die es wert war, Musik genannt zu werden.

Aufgebrachte LeserInnen drangen in ihre Wohnung ein und versuchten, die Erzählerin mit Messern umzubringen, da deren Literatur ihre Kinder auf unzüchtige Gedanken bringe. Die wütendene Meute erwischte sie beim Liebesspiel mit einer minderjährigen Banane. Hey, das bin ja ich. Aber wie der Zufall es wollte hatte die Erzählerin jene LeserInnen kurze Zeit zuvor einfach aus den Unterlagen gestrichen. So einfach geht das.

keine Vorwürfe Ausrufezeichen

fliessende zweifel sind weg ontologisch verifiziertes Gut mit Mageninhalt. umarmung wollend keine Angst alle nicht allein ohne zu haben, anders nicht. gelähmte Ruhe, lustlos wandelnd und doch stehen niemals Zwang brechen mein wohin raus, weg von hier, gib mich frei, ketten sprengen. zurück geworfen eins und doch nicht. leck meine keine ahnung. fesselloses tun, zukünftige utopie – realität hats raus gehauen, stein ohne bewegung, unklares, nebel, der die Sicht nach vorn versperrt, eingesperrt im ganzen, das die verneint, sein auslöscht und nichtz behält. haben und streicheln, liebevolle Umarmung. liebe die zwei meint umschließend und. doch treffend. raus aus mir, angst mich zu verlieren. muss erst verloren sein um zu finden, gefunden zu werden. Fragt nun nicht, was das bedeuten soll.


 

Ein aufgeschobenes Eingeständnis, dezentrale Gehirne und sich wiederholende Träume

Am Vormittag war sie in der Bücherei gewesen, um sich ein Buch über Bonobos zu besorgen. BONOBOS: FREIE LIEBE IM TIERREICH? war der neugierig machende Titel auf dem Umschlag. Auf dem Weg nach Hause begegnete sie einem Jungen mit strubbeligen Haaren, dem kleinen Philosophen, der schlurfend an ihr vorbei ging und dabei einen gedankenverlorenen Eindruck erweckte. Der Ausspruch auf seinem schwarzen T-Shirt brannte sich – zisch! – in ihr Gedächtnis. kaiNe anGSt, hetERoSeXualitäT iSt hEilbA. Len blickte dem Jungen mit der breiten Jeans staunend nach, zu sehr mitgenommen, um ihm etwas hinterher zu rufen.

Alle Macht den Räten. – In einem Raum in den Randbereichen ihres Gehirns, unweit vom Büro für Wahsinn und selbstmörderische Reaktionen, tagte der Rat der TraumgestalterInnen. Um dies zu verstehen ist es vielleicht sinnvoll, an dieser Stelle ein wenig zur organisatorischen Struktur ihres Denkorgans zu erzählen. Lens Gehirn zeichnete sich dadurch von anderen aus, dass es a) “benutzt” wurde und b) basisdemokratisch geführt wurde: es gab dort keine Zentrale, von der aus regiert wurden, ebensowenig wie Hierarchien. Enscheidungen wurden von den einzelnen Räten nach dem Konsensprinzip gefällt. Die Willensbildung verlief von unten nach oben. Wie es dazu kam? Nun, bei einer Anarchistin, wie Len es war, stellte sich diese Veränderung nach einiger Zeit zwangsläufig ein. Herrschaftslosigkeit hatte den Anfang zu machen bei sich selbst, in einem bzw. einer drin.
 Die Frage, mit der sich die TraumgestalterInnen abmühten, war die gleiche, um die es jeden Abend ging: wie soll das heutige Traumprogramm aussehen? unter dem besonderen Gesichtspunkt, so wenig Arbeit wie möglich zu haben. Jede Arbeit war verlorene Zeit, die sich auch für Angenehmeres hätte einsetzen lassen können.
  “Wie wäre es mit einer Wiederholung?” schlug eine mit abgedämpfter und ein wenig Unsicherheit offenbarender Stimme vor.
 Ein anderer räusperte sich und fragte, um Höflichkeit bemüht: “Was spricht alles dafür?”
  “Wir haben weniger Arbeit...im Grunde genommen keine Arbeit“, erklärte ein anderer, der in diesem Moment das Sprachrohr aller darzustellen schien. Ein stummes Raunen ging durch den Raum. “Reicht das als durchschlagendes Argument?”
 Im Saal breitete sich die zustimmende Stille von arbeitsabgeneigten TraumgestalterInnen aus, eine eindeutige Antwort der Anwesenden.
  “Aha, dann haben wir hier also einen Konsens – ja? Gut,dann mal ran an die...ähem...nicht vorhandene Arbeit.“ sagte der andere mit verschmitztem Lächeln, welches von den Gesichtern um ihn herum ausnahmslos erwidert wurde. “Welchen Traum werden wir zeigen?” Den, der sich immer noch im Traumrecorder befindet, dachte der Rat der TraumgestalterInnen einstimmig, weil es den geringsten Aufwand für sie bedeutete. Was sind wir doch für eine tolle, harmonische Gruppe. Ja, dies traf schon zu...jedenfalls wenn es nur um Arbeit ging. Nur.

Die Dunkelheit hatte den Abend für sich eingenommen. Im Lichtkegel einer altmodischen Straßenlaterne stand der personifizierte Sex und studierte einen Stadtplan, mit argen Problemen, den Überblick zu behalten. Diese Pause kam ihr recht gelegen, da sie schon einen weiten Weg hinter sich hatte. Ah. Nach der Bushaltestelle die nächste Straße links einbiegen. Dann kramte sie in einer ihrer Hosentaschen herum, brachte einen zerknitterten Zettel zum Vorschein, den sie sich nun bereits zum zehnten Mal seit ihres Aufbruchs ansah. Ihr Gedächtnis gehörte nicht zu ihren Stärken, aber es würde bei ihrer Aufgabe auch nicht gefragt sein, die darin bestand, viel zu lange Eingesperrtes aus seinem bzw. ihrem Käfig zu befreien. Wird bestimmt lustig, sagte sich der personifizierte Sex, faltete den Plan zusammen und wollte sich gerade in Bewegung setzen als sich ein alter Bekannter vor ihr aufbaute. Der muskulöse Mensch mit den schwarzen, zurückgegelten Haaren steckte in einem blauen, hautengen Anzug und trug einen roten Umhang. In dem kreisrunden Emblem auf seiner vorragenden Brust war ein dickes H einbeschrieben. Heteroman. Der Wärter des Käfigs. Nach einem tiefen Blick in die Augen gingen sie aufeinander los. Mortal Kombat.

Auf dem Boden des Zimmers, nur durch dämmriges Licht erhellt, saß ein kleines, nacktes Mädchen vor einen riesigen Puzzle. Len stand genau hinter ihr. Sie ging in die Hocke, griff mit der Hand in die linke Tasche und zog etwas hervor, das im Halbdunkel des Raumes nicht zu erkennen war. Die andere legte sie auf die Schulter des Mädchens, welches ihr sogleich den Kopf zu wand. Ein fragender, neugieriger Ausdruck weilte in ihrem kindlichen Gesicht. Len nahm ihre kleine Hand und drückte ihre eigene auf diese, sah das Mädchen eindringlich an und hob diese wieder. Als das Mädchen ihre Handinnenfläche ins schwache Licht hob, blickte sie auf das fehlende Stück, um sogleich den Versuch zu machen, dieses einzusetzen. Es passte. Nochmals drehte sich das Mädchen um, um sich mit einem strahlenden Lächeln bei ihr zu bedanken, welches sie ob seiner Einzigartigkeit nicht mehr vergessen würde.
 Gemeinsam sahen sie auf das fertige Puzzle. Vor dem Hintergrund einer grünen Oase, die aus Obstbäumen und faarbenprächtigen Orchideen bestand, waren zwei nackte Mädchen zu sehen, welche in einer engen Umarmung umschlungen waren. Ihre Gesichter waren so dicht beeinander, dass sich ihre der Nasenspitzen berührten. Und ihre Blicke schienen ineinander versunken zu sein. “Du, das ist ein schönes Bild“, sagte das Mädchen leise und betont.
  “Ja.” stimmte Len abwesend zu, die sich ganz in dem Bild befand. Sie kannte die Mädchen, welche sich in jenem so nah waren. Und in Gedanken malte sich sich aus, wie es sein würde, das kleine Mädchen zu streicheln.

Zwischen den Welpen...äh, Welten. Warum passiert das schon wieder? Nun, klare Grenzen waren aufgehoben – diesen Satz kennen wir doch schon...
 An dem abgelegenen Strand herrschte eine außerordentliche Stille. Im beständigen Rauschen des Meeres, welches mit jedem Wellengang neue Muscheln, Schneckenhäuser und Steine an Land spülte, lag etwas ungemein Besänftigendes. Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu, obgleich die Sonne ungebrochen strahlte, eine angenehme Wärme und Stimmung verbreitete.
 Auch Len fühlte das. Sie lag im molligen Sand, am Hang einer Düne, nur mit einem schwarzen Slip bekleidet. In ihrem zum wolkenlosen Himmel gerichteten Blick war ein besonderer Ausdruck von Frieden enthalten, der daran errinerte, dass sich Mensch und Tier viel mehr ähnelten, als erstere sich eingestehen mochten. Einfach nur da liegen und sich von den Strahlen der Sonne wärmen lassen, das sanfte Meeresrauschen im Ohr: darin ähnelten sich alle lebenden Wesen. So wie die zwei schneeweissen, ineinander verschlungenen Katzen, die ganz in ihrer Nähe im Dünengras ruhten und vor sich her dösten.
 Vom Ufer her kam Jesse in ihre Richtung, ein Eis in der Hand haltend, welches sich aus zwei großen Kugeln Vanille zusammensetzte. Sie hatte sich ihre Schlaghose hoch gekrämpelt und ihre nassen Schenkel erinnerten daran, dass sie gerade noch durch das niedrige Wasser gewatet war. Ein schwarzer, unbedeutender Stern zierte die Brust ihres olivgrünen Shirts.
 Dicht neben Len setzte sie sich in den warmen Sand der Düne. Das ruhende Mädchen hatte die Augen geschlossen und erweckte so für sie den Eindruck, in den Schlaf gesunken zu sein. Mit einem intensiven, sich an das andere Mädchen anschmiegenden Blick betrachte sie ihre langen Beine, ihre Hände. Sehnsucht trat in ihre Augen und in ihr erhob sich der Wunsch nach zärtlicher Berührung, welcher nicht von dem Menschen Len zu trennen war. Sie spürte das Kribbeln in ihrer Hand, welcher es danach drängte, sich auf den Bauch der anderen zu legen, dieses innige Bedürfniss, das Mädchen neben ihr zu streicheln. Als ihre Augen ihren Kopf erreichten und Len sie plötzlich zu ihrem Überraschen ansah, fühlte sich Jesse seltsam ertappt. Angst. Aber das Lächeln des Mädchens entzog ihrer aufkeimenden Angst sogleich den Nährboden.
  “Ich möchte auch ein Eis haben.”
  “Tut mir leid...es war das letzte.” sagte Jesse, beugte sich zu ihr hinüber und führte das Eis ganz nah an ihren Mund, um sie lecken zu lassen. “Mmmh.” Vanilleeis tropfte oberhalb des Nabels auf ihren Bauch. Kalt.
 Jesse fühlte, wie alles in ihr danach drängte, dieses Mädchen zu berühren. Und dann nahm Len ihre Hand, um diese auf die Stelle zu legen, auf die eben das Eis getropft war. Vorsichtig berührte Jesse ihre warme Haut, dabei unglaublich zart. Sie konnte nicht fassen, was ihre Freundin getan hatte, so als hätte sie ihre Sensucht gespürt. Konnte es nicht fassen – weil sie mitten drin steckte. Alles Zögern, all ihre Angst war vergessen, als Len ihr ein Lächeln zuwarf. Mit einem ihrer Finger strich sie über Lens Bauch und zeichnete dabei einen Stern. Und Len sah sie an und lächelte. Als sie diesen mit dem obersten Zacken vollendet hatte, setzten sie sich auf.
 Sie saßen sich direkt gegenüber und blickten sich an. Dann riss Len ihr das Eishörnchen aus der Hand und hielt es in ihre Mitte. Ihre Münder näherten sich einander und im gleichen Augenblick fingen die Mädchen an, am Eis zu lecken, wobei sich nicht vermeiden ließ, dass sie miteinander in Kontakt gerieten. Das Eis fiel mit dem Hörnchen voran in den Sand unter ihnen, während sie einander mit Armen umschlungen und küssten. Einen Augenblick, der beiden wie ein Stück Unendlichkeit war, drückte sich Len ganz nah an Jesse, welche sie mit den Armen fest umschloss. Sie spürten das aufgeregte Schlagen ihrer Herzen, die wechselseitige Wärme, die sich nicht nur auf ihre Körper beschränkte. Es war genau die Wärme und Geborgenheit, nach der sie sich schon so lange sehnten. Auch so ein eingelöstes Versprechen.
 Lens Hände glitten über ihr olivgrünes Shirt, ihren runden Bauch und ihren Busen. “Zieh mich aus”, bat Jesse sie mit leiser Stimme und hob ihre Arme. Leicht gelang es dem Mädchen, das Shirt mit dem schwArzen Stern abzustreifen.

Len erwachte mit einem unbekannten, neuem Wohlgefühl in ihrem Inneren. Ihr Erleben war hellwach und nebelig zu gleich, rauschhaft: sie war in dem Erlebten drin, sie und jenes Gefühl waren eins. Ihre Hand verschwand unter der Bettdecke. Ich bin feucht. Mit dieser Erkenntnis stellte sich ein Lächeln ein, dass in der Erinnerung an den Traum gedieh und zu seiner vollen Schönheit sich entfaltete. Vor ihren Augen kehrte der Traum zurück und während ihre Finger ihre Scheide streichelten, konnte sie die Bilder vor ihren Augen sehen, nebelhaft klar. Wieder schienen Phantasie und Wirklichkeit so nah beieinander zu liegen, Hand in Hand zu gehen. Hand in Hand.
 Nackt begab sie sich von ihrem ausgedehnten Bett. Ihre grünen Augen funkelten, erzählten von geheimen Wünschen, Phantasien, welche sie sich noch vor kurzer Zeit nicht einmal zu denken gestattet hätte. So vieles lief in ihrem Inneren zusammen, so viele Gedanken, Bilder, Ideen und Verbindungen, als wäre dieser Augenblick ein Knotenpunkt. Len wurde sich dessen bewusst, einen Sprung gemacht zu haben, den selbst sie immer noch nicht nachvollzogen hatte, denn dazu fehlte ihr der Abstand.
 Friedlich verweilte sie am Fenster, während Tränen über ihre Wangen glitten. Nach einiger Zeit schob sie sich durch den Vorhang aus Kordeln in das Nebenzimmer, in welchem sich ihr Musikanlage befand. Ohne langes Suchen zog sie ihre Lieblingsplatte aus der üppigen Plattenkiste. Und nachdem sie Things Fall Apart von den Roots aufgelegt hatte, machte sie es sich auf dem Sofa bequem, der Musik lauschend.
 Zeit für eine Reflexion, dachte sie sich. Der Traum. Es war mehr als ein Traum: da war eine Len in ihr, welche ein Mädchen liebte. Nun verstand sie auch die Bedeutung der Worte, die auf dem schwarzen Zettel geschrieben standen: Selbsbefreiung ist schmerzhaft, weil sie das Widerstrebende zu verbinden hat. Wie wahr.
 In diesem Augenblick kehrte in ihr Bewusstsein kehrte das zurück, was sie über ihre eigene Widersprüchlichkeit heraus gefunden hatte. Und mit ihnen die Erkenntnis der engen Verbindung, welche zwischen dieser und dem bestand, was diese Gesellschaft als Sexualität zu bezeichnen pflegte. Und sie verstand, was es wirklich bedeute sich in die sexuelle Kategorien dieser Gesellschaft zu zwängen: denn ob Homo, Hetero oder Bi – es musste nur normierbar sein, um “akkzeptiert” zu werden. Nicht geduldet wurde nur das, was sich nicht einordnen ließ in ihre Schubladen, das Fremde. Einordnung war schon ein Stück der Integration ins Bestehende, in die Welt, wie sie war. Denn was sich nicht einordnen lassen wollte, konnte nicht beherrscht werden. Und um jeder dieser Norm zu entsprechen, bedurfte es eben jener Gewallt, welche sie an sich selbst erfahren hatte und die sie sich viel zu lange angetan hatte. Nur Männer lieben. Und jede Zuneigung für ein Mädchen, die über das gesellschaftliche Erlaubte hinaus ging, ausblenden. Verdrängung. Etwas in mir selbst einsperren, was ich bin. Einen Teil von mir abschneiden, welcher sich dadurch erst recht verselbstständigt.
 Warum musste mensch sich überhaupt einordnen? Warum sich selbst in Schubladen stecken? Und sich damit verbieten, dass es anders sei. Warum all diese Grenzziehungen? Keine Angst, Heterosexualität ist heilbar. Homosexualität auch.
 Zuneigung und Sexualität sind nicht an “Geschlechter” gebunden sondern an Menschen, Personen. Gedanken eines mehr als einschneidenden Wandels, welcher nicht nur ihre Beziehung zu Jesse verändern würde. Ich liebe Menschen, keine Geschlechter.

Der personifizierte Sex gähnte und stand auf. Nachdem sie ihr blaues Auge mit einer Heilsalbe versorgt hatte, packte sie ihre Sachen ein und klopfte sich selbst für die erfüllte Aufgabe auf die Schulter. Mit einer Zufriedenheit, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, begab sie sich auf den langen Rückweg. Auf diesem begenete sie nochmals Heteroman, den es in den Straßengaben “verschlagen” hatte und dessen Mantel ein wenig ramponiert war. Komisch. Es stand 1:0 für den personifizierten Sex.

Len war in die Stadt gefahren, um das ausgeliehene Buch über Bonobos in der Bücherei abzugeben, die nicht noch einmal in ihrem Hintergarten aufgetaucht waren. Als sie durch die leere FußgängerInnenzone wandelte, traf sie zum zweiten Mal auf den kleinen Philosophen. Er hockte auf dem Boden und malte mit Kreide einen Stern auf das Pflaster. So vertieft in sein Malen war er, dass er sie nicht bemerkte, als sie hinter ihm stehen blieb. Eine Weile stand sie einfach nur da und beobachtete ihn, wie er mit schwungvollen, sicheren Handbewegungen ein abstraktes Gebilde aus Linien und Figuren schuf, welches sich über den Boden zog.
  ”Du hattest recht damit”, sagte sie dann ohne großen Aufhebens.
Der überraschende Wortfetzen traf den sich zu oft in Einsamkeit Zurückziehenden, der es nicht gewohnt war, angesprochen zu werden. Er wand seinen Kopf nach hinten und starrte sie an. Als er sich ganz umgedreht hatte, fragte er etwas verwirrt: “Womit?”
 Ihr ausgestreckter Finger deutete auf den Schriftzug auf seinem T-Shirt. “Heterosexualität ist heilbar.”
 Während sich sein Gesicht ein wenig klärte, nahm Len ihm die Kreide aus der Hand und fing an, damit einen weißen Schriftzug auf die Straße zu zeichnen. Wache Augen verfolgten ihr schöpferisches Tun. Keine Angst, keineR muss ewig Hetero sein! Ein Lächeln zeigte sich in seinem Gesicht, erhellte die viel zu verbissenen Züge – etwas, dass viel zu selten geschah. “Oh, sehr einfallsreich”, sagte er anerkennend. “Könnte von mir sein.”
 Sie reichte ihm die Kreide und erhob sich. “Du solltest öfter lachen.”
  “War das ein Befehl?” fragte er mit einem ironiebeladenem Lächeln.
 Ihre Antwort folgte prompt. “Nein, keineswegs. Ich bin Anarchistin.”
  “Oh, ich auch...so ein Zufall.” murmelte er. Ja, was für außergewöhnliche Zufälle es in solchen Geschichten gibt. “Warte mal, liest du gern?” fragte er und fuhr mit seiner Hand in das Innere seines grünen Rucksacks.
  “Ja.”   “Hier.” sagte der kleine Philosoph und reichte ihr ein kleines Büchlein. Len las den Titel. “Der Traum vom befreiten Leben. Hmm, das hört sich interessant an – von wem ist das?”
  “Nun ja, von einem schwArzen passagier...nehme ich an.” erklärte er verschmitzt, um nach einem tiefen Durchatmen hinzu zu fügen: “übrigens, er empfindet spontane Attraktion für dich.”
  “Ich auch.” Ein unausgesprochenes, jedoch von beiden gespürtes Knistern lag zwischen ihnen.
  “Du kennst ihn doch gar nicht.” sagte er.
  “Vielleicht doch.” sagte sie ein wenig geheimnisvoll und ging davon.

Er rieb sich die Augen, sich fragend, was ihn zu dieser Zeit aufgeweckt hatte. Im Rahmen der Schlafzimmertür stand eine ihm suspekte Gestalt. “Wer sind sie?” grummelte Johndoe müde und reckte sich.
  “Ich bin Heteroman”, stellte er sich vor, “Ich denke, dass wir uns einmal unterhalten müssen: ihre Tochter hat einige Verkehrsregeln missachtet.”

»Zuneigung und Sexualität sind nicht an Geschlechter gebunden sondern an Menschen, Personen.« Solche Worte sind es wert, zwei mal geschrieben zu werden...mehr als das noch.


Wohin soll dich der nun Traum führen?


Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert. Er darf frei verwendet, kopiert und verändert werden unter folgenden Bedingungen: Alle darauf aufbauenden Inhalte müssen auch in diesem Sinne frei sind, d.h. unter der gleichen Lizenz weiter gegeben werden. Zudem sollte der Name der jeweiligen Autorin genannt werden. Alles für alle!