GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE
und raus aus dem klotz
Nichts wie. Im Inneren eines Klotzes, der selbst von aussen nicht versucht, sein Wesen zu verbergen. Tische in geordneten Reihen, mit zu kleinen Holzstühlen dahinter. Schritte kommen durch den Gang, durch die Tür - und mit ihnen eine hochgezogene Gestalt. Und die Tür wird geschlossen. Die Stimmung verändert sich schlagartig. Ein auswegsloser Klotz nun. Nun, alle hasten auf ihre Plätze, von denen sie längst wissen, dass sie auf ihnen fest kleben werden für gestohlene Stunden. Während sie sich noch bewegen, verwischen ihre Gesichter. Spätestens jetzt wird...oh, wurde jede Gegenwart zur Vergangenheit. Weg - genommene - Zeit.
Ein Blick schweifte wie der eines Adlers umher, schwung weiter,
hielt an, fixierte, veränderte sich dann. Vorweggenommene Anklage
im Ausdruck, der selbstredend Worte folgten: »Willst du dich nicht auf
deinen Platz setzen?!« fragte und forderte ein Zeigefinger zu einem, der
immer noch auf der Fensterbank hockte.
Er antwortete nicht sofort, sondern wartete, wartete und wartete.
Ganz viel Zeit nahm sich kraulbärchen, dabei pure Ruhe austrahlend.
So vollkommen unberührt von jener Auforderung, und so unantastbar.
Die anderen saßen längst unbewegt auf ihren Stühlen, den
Kopf auf eine Weise nach vorn gerichtet, die nicht nur im Genick Starre
verursachte.
»Es ist schön hier«, erklärte er dann. In sanften Wogen
strich seine Stimme über jede einzelne Silbe. »Ich kann aus dem Fenster
sehen, kann die Wolken mit ihren lustigen Formen bestaunen und ihren Wegen
folgen.«
Zu viele ich kann, zu wenig du musst aber. Hinter dem Pult, wo
der wachende Adlerblick irgendwo in zwei leeren Augenhöhlen endete,
wurde dies nur zu deutlich registriert. Aha. So ging es aber nicht. Hinter
dem Pult, wo der Adlerblick irgendwo in zwei leeren Augenhöhlen endete,
drückte ein vorheriger Zeigefinger genüsslich einen schwarzen
Knopf...
Die Fensterscheibe wandelte sich, und es sah so aus, als liefe
eine bunte Farbe nach unten. Veränderung kam zum Stillstand - was
war geschehen? An Stelle der Fensterscheibe war eine Panoramatapete getreten,
die perfekt abbildete, was eben noch der Blick nach außen zeigte.
kraulbärchen verstand sofort, was ihm damit und für alle sichtbar
vermittelt wurde. Er setzte nicht einmal an, zum Pult zu sehen, ihm reichte
sein Gedächtnis, um den Gesichtsausdruck des Hochgezogenen zu wissen.
Statt dessen wand er sich dem flachen Panorama zu. Während sein Blick
über die zweidimensionale Landschaft wanderte, traten Tränen
aus seinen Augen hervor. Voller Wut und Hass bohrte er seine Fingernägel
in die Tapete, riss Fetzen von ihr herunter, bis eine riesige Lücke
aufklaffte. Hinter der Tapete nichts als Schwärze. Als er seine Arme
austreckte, um gegen die Wand zu schlagen, blieb er an der Schwärze
hängen. So als klebten seine Hände vollkommen fest...wirklich?
Langsam ging die Schwärze in seine Finger über, und drohte ihm
damit, ihn bald ganz zu überziehen. Zu viele du musst, zu wenig ich
will aber. kraulbärchen weinte. Ein auswegsloser Klotz nun.
Es klingelte. Festgeklebte erhoben sich, um sich in einen anderen
Teil des Klotzes zu bewegen. Den Blick zu Boden gerichtet, zurückgezogen...so
schlurfte kraulbärchen ihnen hinterher. Von einem Klotz im Klotz
zum anderen. Schön ist die Welt.
Als einziger begann er den Malblock erst auszupacken, als die Hochgezogene
in den Klotz eingetreten war. Sie redete viel und es war nicht drin, es
zu überhören, doch kraulbärchen verstand es, sich nicht
davon berühren zu lassen.
»Nach dieser Stunde ist Abgabe eures Werkes.« wies die Hochgezogene
in ihrem vorerst letzten Satz hin, um sich danach einem Stapel mit menschenleeren
Heftem auf dem Pult zu widmen. Wie jedes mal, so fertigte er auch dieses
mal das gleiche Bild an: ein auswegsloser Klotz nun. Und eine krickelige
Bildunterschrift: Kunst = kontrollierte, gebändigte Phantasie. Auch
das ging schnell vorbei. Den Rest der eingesperrten Zeit verbrachte er
damit, betrübt auf das Blatt zu starren. Eine Hochezogene schritt
durch die Gänge, blieb hinter ihm stehen und sägte über
seine Schulter.
»Das war nicht die Aufgabe« sagte der Zeigefinger persönlich.
»Sehen sie nicht«, setzte er bewegt an, »es ist ein schreiendes
Kind, das sich fürchtet, von einem Klotz verschluckt zu werden. Hochgezogene
wollen ihm sagen, was es zu tun hat. Was es zu tun hat - und damit machen
sie ihn kaputt.«
»Ich kann das nicht erkennen...und das ist einfach nicht die Aufgabe.«
»Weil das nicht ich bin.« flüsterte kraulbärchen, stand
auf, schritt zur Tafel, nahm sich ein Stück Kreide und schrieb. Alle
Aufmerksamkeit verschob sich auf ihn. Die Festklebenden lasen mit verlorenen
Augen: »Ich hatte einmal Spaß am Malen.« Mehr konnte er nicht schreiben,
weil ihm die Hochgezogene die Kreide aus den Fingern riss. kraulbärchen
sagte nichts, sondern stand ganz einfach da und blickte in die Gesichter
der Festgeklebten, obgleich eines genügt hätte. Er tat dies
mit verdammter Intensität und Wucht. Nachdem er sich auch nach weiderholter
Aufforderung nicht hinsetze, wurde er raus geschickt. Und dann rannte
er raus aus dem Klotz, dem dies gar nicht behagte.
Am nächsten Tag fehlte kraulbärchen und alle taten
so, als hätte er nie existiert. Insgeheim waren sie alle froh, weil
nichts mehr an das errinnerte, was sein könnte. Wenn mensch selbst
schon Teil eines Klotz, dann. Sie hatten ihn in die Klotzatrie ein - bzw.
ausgeliefert. Von einem Klotz im Klotz zum anderen, denn sie waren untereinander
verbunden, arbeiteten zusammen. Alle Menschen dort und alles um ihn herum
schien unentwegt zu sagen: Du bist ein Problem, du bist gestört,
du bist krank. Für sie war er schon deshalb ein Problem, weil er
sich nicht als solches sah. Im Inneren eines Klotzes. Ein Bett, ein karger
Schrank, ein viel zu kleines Fenster. Noch ein Buch und ein Teller mit
Obst, die sie ihm gewährten.
Er nahm das Buch zu Hand. Als sie sahen, wie seine Phantasie von
den vorgegebenen Handlungsträngen abwich und sich ins Ungewisse der
eigenen Vorstellung purzeln ließ, nahmen sie es ihm weg. Nun, er
war nicht hungrig. So kam es, dass er die Obststücke so auf dem Boden
auslegte, dass sie unverkennbar an ein lächelndes Gesicht erinnerten.
Es verblüffte ihn selbst, wie leicht es ihm fiel, sich zu den anderen
hinzuträumen, denen er nur zu gerne zulächelte. Bis an ihre
Nasenspitzen heran. Nur ihre Umarmungen und ihre gemeinsamen Zärtlichkeitem,
die konnte er nicht spüren, was ihm wirklich weh tat. Sie nahmen
ihm das Obst weg und tauschten es gegen eine Schüssel mit halbwarmen
Haferschleim, den sie wohl für langweilig hielten. Doch es gab nichts,
was ihn nicht reichte, für einen Augenblick zu erblühen.
»Ich hatte einmal Spaß dabei, zu malen, mit einem Bleistift Tiere und Phantasiefiguren zu zeichnen«, erklärte kraulbärchen einem geprüften Hochgezogenen, der seinen Klotz zum Gespräch betreten hatte. »Seit ich in dem Klotz zu festgelegten Zeiten vor einem Malblock sitzen muss, um von anderen Festgelegtes zu malen, kann ich nicht mehr. Der Klotz hat mir jeden Antrieb genommen, mich auszudrücken, weil es durch ihn immer mit Zwang belegt ist. Ich soll so malen, wie Hochgezogene es wollen und mich dabei noch so fühlen, als würde ich selber handeln...Hochgezogene, die meinen mich bewerten zu können. Jedes Bild wird ihnen zur erbrachten Leistung. Sie und der Klotz haben mir meine Hände abgeschnitten.« Nach einer längeren Pause sagte er unvermittelt: »Und Du bist ein Teil des Klotzes, der mir einreden soll, ich wäre gestört. Nur denke ich, dass du deine Aufgabe nicht lösen wirst.« Ohne ein weiteres Wort ging ein Hochgezogener, um sich mit Hochgezogenen zu besprechen.
Den Rest des Tages kauerte kraulbärchen in der Ecke des Klotzes. Er fühlte sich einsam, unruhig und ihm war kalt. Seine Blicke verloren sich, alle Vorstellungskraft schien ihm genommen. Er fragte sich immer wieder, was oder wer wohl jenseits der Wand sein mochte - aber es gelang ihm nicht, sich auf die andere Seite zu träumen. Der Klotz, in dem er gefangen war, schien ihn und seine Gefühle davon abzuschirmen...keine Ahnung. Fast glaubte er zu vernehmen, wie der Klotz immerzu leise flüsterte: Nur du allein...nur du allein. Irgendwann stand er auf, drückte seine Unterarme, zwischen denen er den Kopf barg, an die farblose Mauer. Und plötzlich riss sein Hass ein Loch in die Wand, in den Klotz, ein Loch in die Welt eines anderen. Dieser andere hatte bis zu diesem Augenblick flach auf seinem Bett gelegen und nach oben gestarrt. Kurz bevor die Wand geöffnet wurde, war er unruhig geworden und aufgestanden, so als hätte streichel gespürt, was geschehen würde.
streichel und kraulbärchen sahen sich an. Einen Augenblick lang wirkte es so, als würden sich ihre Blicke verschlingen. Dann, ganz langsam, gingen sie aufeinander zu und fielen sich in die Arme, während Tränen ihre Augen ausfüllten. streichel und kraulbärchen streichelten sich. Nachdem einige Zeit verstrichen war, von der sie nichts bemerkten, setzen sie sich auf den Boden und kraulbärchen fing an, streichel auszuziehen, bis er nackt war. Der andere, der dies schön fand, schmiegte sich ganz fest und nah an ihn, biss es für beide richtig kuschelig war. Lange sassen sie so verschlungen einfach nur da, es war einfach nicht notwendig, etwas zu sagen. Doch irgendwann fragte kraulbärchen ernst: »Warum haben sich dich hier hin gebracht?«
»Ich habe Gefühle.« antwortete streichel. »Sie sagen, ich sei ein Junge - und Jungen weinen nicht. Ein Klotz soll ich sein.«
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