DER TRAUM VOM BEFREITEN LEBEN
Schlafstörung
Ich wache auf. Der Wecker. Dieses Klingeln, der erste Arm des Systems. Vermittler des Zwanges. Steh auf! Du musst aufhören zu schlafen. Steh auf! Das ist, was er sagt, wenn er morgens um sechs Uhr beginnt, jenes ohrenbetäubende Piepsen von sich zu geben, dieses Klingeln mit seiner unerträglichen Penetranz, das mensch nie vergisst und das jedes Weiterschlafen unmöglich macht. Jeden Morgen um sechs. Das Bedürfniss nach Schlaf...jeden Tag wird es in dieser Gesellschaft gebrochen. Gebrochene Menschen, das ist es, was der Wecker hinterlässt. Der Wecker, die technische Appartur, behandelt die Menschen wie sein Ebenbild: wie leblose Maschinen. Aufstehen, Anziehen, Frühstücken, in den Bus einsteigen, Arbeiten, Mittagspause, Arbeiten, in den Bus einsteigen, Heimkehren, zwei Butterbrote mit Erdnussbutter, nach Möglichkeit mit dem Freund bzw. der Freundin ficken, erschöpft Einschlafen. Wie ein Roboter. Mit jedem Klingeln des Weckers werden Menschen zum Ebenbild der riesigen Maschine gemacht, zu toten Rädchen im alles beherrschenden Uhrwerk. Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Menschen gleichen sich an die Technik an, die sie umgibt, werden so wie Wecker: leblos und kalt. Ich will kein Wecker sein, schiesst es mir durch den Kopf.
Das Klingeln des Weckers löst die Stimme der Mutter ab, das konkret Menschliche wird ganz durch den kalten Vertreter der anonymen Mächte ersetzt, die um und in uns walten. Der Wecker ist ehrlich: keine Züge des Menschlichen mehr an ihm, welche in der Arbeitsmaschine eh immer mehr als unwirkliche Maskerade erscheinen. Maschine an Stelle der Menschen. So erscheint die Mutter selbst wie ein längst überholtes Modell, ein Relikt aus vergangenen Zeiten, dem mensch am liebsten die Haut vom Gesicht reissen möchte um beim Anblick der flackernden Dioden und Drähte sicher zu sein: doch nur ein Roboter. Anstelle der Stimme tritt das monotone Piepen, dessen Wiederholungen erst Ruhe geben wenn mensch wirklich wach genug ist, um ihn auszuschalten. “Nur noch fünf Minuten”, meine liebste Ausrede zählt nicht mehr. Vor der maschinellen, unbeugsamen Härte des Wecker gilt keine Ausrede mehr. Die Nachgiebigkeit der Mutter steht noch für die Hoffnung, das Menschliche möge gegen die Sachzwänge der schlechten Wirklichkeit bestehen. Widerstand. Der Wecker hingegen repräsentiert nur noch das System, dem er entsprang. Er steht für den Befehl, das Kommando, das keiner Worte bedarf. Immer gleich. Immer zur selben Zeit. Bis mensch das Klingeln verinnerlicht hat, bis der Wecker in einer bzw. einem drin ist. Der Wecker steht für die völlige Fremdbestimmung, in der sich Menschen in der Welt, wie sie ist, befinden. Und doch kann sich der bzw. die, welche am Abend die Weckzeit einstellt der Illusion hingeben, diese selber festgelegt zuhaben. So kann der Schein des souveränen, unabhängigen Individuums gewahrt werden, während mensch real nicht mal mehr eine Marionette ist...nur noch einer von Milliarden Fäden. Und dabei ist es kein Trost, dass auch die MarionettenspielerInnen ausgestorben sind...
Jeder Tag, der mit dem Wecker anfängt ist verflucht, da das Klingeln sich unweigerlich mit alten Erinnerungen an Schule, Arbeit verbindet. Aber der Terror des Weckers geht auch ohne ihn selbst weiter. So gibt es noch Tage wo ich aufwache, auf die Anzeige blicke, mein Herz klopft und ich denke: ich muss los, sonst komme ich zur spät zur Schule. Wie ein nie endender Alptraum. So tief in mir drin hat sich die Welt verankert, die ich überwinden will. Und dann muss ich mich selbst damit beruhigen, dass es vorbei ist, dass ich seit einem Monat aus jener Zwangsanstalt heraus bin.
Ich blicke aus dem Fenster und in Gedanken sehe ich den Wecker hinunter fallen, auf den Asphalt der Strasse prallen und zerschellen. Einer weniger. Und male mir aus wie es wäre, wenn alle Menschen in unserer Strasse es mir gleich täten.
Wohin soll dich der nun Traum führen?
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