GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE   



denn es muß weiter gehen

 

Vgl. die Weise, in der die Gesellschaft die übliche Trauerzeit codiert: Nach ein paar Wochen tritt die Gesellschaft wieder in ihre Rechte ein, erkennt die Trauer nicht mehr als Ausnahmezu­stand an: Die sozialen Anforderungen gelten wieder, so als wäre es unvorstellbar, sie abzuweisen: um so schlimmer für Sie, wenn die Trauer Sie länger aus der Bahn wirft, als der Code es zuläßt.

Roland Barthes (2005): Das Neutrum. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 50

Montag, früh morgens. Wie immer las er die Zeitung rückwärts, den spannendsten Teil zu erst, in welchem er sich selbst noch am ehesten vermutete. Unter den Todesanzeigen, die er schnell hinter sich hatte, stach ihm eine ins Auge, die sich in der Rubrik verirrt zu haben schien.

»Suche professionelle Trauergemeinde mit langer Erfahrung: um Niedergeschlagenheit wird gebeten, Weinen und schwarze Kleidung erwünscht. Bitte um zahlreiches Erscheinen zur Beerdingung. Anschließend Totenschmaus. (call 0 190 666 666«)

Vor den Toren des Friedhofs hatten sich die in schwarz vermummten Trauernden versammelt. Schon jetzt übten sie sich darin, den Kopf krampfhaft nach unten hängen zu lassen, aber es hinderte sie nicht daran, sich wie gewohnt über familiäre Streitigkeiten auszulassen. Bei Überschreiten der Schwelle verstummte alles Sprechen. Ab jetzt wurde getrauert. Nachdem auch die letzen ins Innere des Gebäudes, dass direkt hinter dem Eingang des Friedhofs lag, entschwunden waren, wurde die Flügeltür geschlossen. An der Außenseite hing ein gelb eingerahmtes, warnendes Schild.

ACHTUNG! SIE BETRETEN SPERRGELÄNDE. FREUDIGEN IST DER EINTRITT UNTERSAGT.

Stickige Luft füllte die Kapelle aus, und fast hundert Trauernde die hölzernen Reihen. Stumm und starr blickten sie nach vorn, so wie immer, in Richtung des festlich gekleideten Gottesmannes. Unter zahlreichen Kränzen mit ihren stereotypen Widmungen und Blumensträßen wurde der Leichensarg begraben. Und da war noch so ein kleines Bild, das eine gelbe Sonne mit bunten, zackigen Strahlen abbildete. In einer krakeligen Schrift stand dort: »Schön, das du tot.« Als eine Trauernde in der vordersten Reihe dies bemerkte, stand sie auf und versuchte, das Bild möglichst unauffällig unter ihrem Mantel verschwinden zu lassen.

»Ja, ihr sollt weinen, sage ich.« forderte der Gottesmann die Trauergemeinde gegen Ende der unausgewogenen Lobesrede auf die Leiche auf.
  »Warum sollen wir weinen«, fragte plötzlich ein kleines, glatzköpfiges Mädchen in die Stille. Und fuhr fort: »Warum weinen, wo es Opa doch jetzt gut geht?« Als einzige war sie nicht in schwarz gekleidet, zog nun die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich, die aus ihrer erprobten Trauer aufgeschreckt wurden. Überall empörte mensch sich darüber, wie sie nur den irdischen Vertreter Gottes unterbrechen konnte und was das denn für eine Erziehung sei.
  »Du ungezogenes Kind« fuhr sie ihre Verwandschaft an, zwischen der sie eingezwängt war, um sie zum Schweigen zu bringen. »Der Pastor gibt sich doch so viel Mühe und du machst alles kaputt.« wiederholten mehrere Stimmen leise und anschuldigend. Jetzt konnte es weiter gehen.
Doch dann erhob sich das Mädchen, kroch blitzschnell durch die Beine der Trauernden und hüpfte fröhlich in Richtung des Sarges, um es sich wenig später auf dem Deckel gemütlich zu machen, die Menschen angrinsend. Es wurde nicht zurück gelächelt.
  »Lasst uns den Verstorbenen nun zu Grabe gleiten...geleiten«, versuchte der Gottesmann die Situation zu retten und deutete den Sargträgern an, das Mädchen zu entfernen.
  »Früher durfte ich immer auf seinem Bauch sitzen.« sagte es zu den Männern, die sie wieder auf den Boden setzten. »Opa hat sicher nichts dagegen, dass ich auf ihm hocke.« Und wie der Sarg aufgenommen war, setze sich der Trauerzug in Bewegung.Sie waren schnell da angekommen, wo die Leiche unter die Erde gebracht werden sollte. Ab jetzt konnte geweint und mit tröstenden Worten wieder aufgemuntert werden. Es fehlte bloß an Taschentüchern. Und als der Sarg hastig hinunter gelassen wurde, fing das Mädchen an, um das Grab zu tanzen und zu singen. Die Trauernden schüttelten den Kopf und nickten sich bestätigend zu.
  »Sie ist noch ein Kind...sie kann das noch nicht verstehen«, sagte einer und die Trauergemeinde beruhigte sich. Irgendwann hatte jede der Anwesenden ihre symbolische Schüppe Erde in das Grab geworfen. Nun konnte es weiter gehen. Auf der Schleife des Kranzes, der ganz oben auf dem Sarg thronte, stand die Widmung »immer werden wir Deiner gedenken«.

In dem Raum, in welchem der Leichenschmaus statt fand, stank es, noch bevor alle Platz genommen hatten. Der langgezogene Tisch, um den sich nun alles drehte, war mit Essen unerträglich gefüllt. Ab jetzt wurde gefeiert. Und in den Fersehnachrichten wurde über einen Luftangriff der NATO berichtet, bei dem ein Flüchtlingskonvoi vernichtet wurde. Das Mädchen, das lange still da gesessen und die Menschen beobachtet hatte, fing irgendwann an, hemmungslos zu schluchzen.
  »Aber du sollst doch nicht weinen«, sagten die Feiernden und schickten sie auf ihr Zimmer. Nun konnte es weiter gehen. Und das war das wirklich Traurige.

 

zwölf Jahre später

Vor den Toren des Friedhofs hatten sich die in schwarz vermummten Trauernden versammelt. Schon jetzt übten sie sich darin, den Kopf krampfhaft nach unten hängen zu lassen, aber es hinderte sie nicht daran, sich wie gewohnt über familiäre Streitigkeiten auszulassen. Bei Überschreiten der Schwelle verstummte alles Sprechen. Ab jetzt wurde getrauert. Nachdem auch die letzen ins Innere des Gebäudes, dass direkt hinter dem Eingang des Friedhofs lag, entschwunden waren, wurde die Flügeltür geschlossen. An der Außenseite hing ein gelb eingerahmtes, warnendes Schild.

ACHTUNG! SIE BETRETEN SPERRGELÄNDE. FREUDIGEN IST DER EINTRITT UNTERSAGT.

Stickige Luft füllte die Kapelle aus, und fast hundert Trauernde die hölzernen Reihen. Stumm und starr blickten sie nach vorn, so wie immer, in Richtung des festlich gekleideten Gottesmannes. Unter zahlreichen Kränzen mit ihren stereotypen Widmungen und Blumensträßen wurde der Leichensarg begraben. Während der Gottesmann dazu überging, die unglaublichen Leistungen der Leiche zu loben, von denen in ihrem Leben nie die Rede war, öffnete sich die Flügeltur und aus den Lautsprechern eines alten Kassettenrecorders ertönte das Lieblingslied der Leiche: Alles Lüge von Ton Steine Scherben. Menschen in roten, gelben, grünen und blauen Anzügen traten ins Innere. Zwei von ihnen blieben an der Rückwand stehen und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift:

nicht der Tod, eure uniformierte Trauer ist zum Weinen.

Andere verteilten Flugblätter, die vermutlich nie gelesen wurden. Und ein Mädchen besetzte den Sarg mit sich und ihrem Lächeln, das schon bald darauf einem todernsten Ausdruck wich. »Was euch sonst so verhasst ist und was euch immer verboten wurde, wird hier strengstens gefordert: das Weinen. Diese Tränen lügen - eine kurze Trauerpause einschieben, denn es muß weitergehen, nichts soll sich ändern.«
  »Denn es muß weitergehen« wiederholte sie leise, und während sie sprach, weinte sie bitter.

 

  espi


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