KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN   



BEZIEHUNGSWEISE frei

Beziehungen, Schubladen und Brüche in der Matrix

Auch wenn alles irgendwie lockerer geworden ist: Fast alle Menschen organisieren sich in der Zweierbeziehung mit zweigeschlechtlichem Vorzeichen - auch in Kreisen, die mal ganz anders leben wollten. Ausbruchsversuche aus der Norm-Beziehung enden oft in Frustration, weil Eifersucht und der Drang nach geordneten Verhältnissen stärker ist, als mensch sich eingestehen will. Nicht zuletzt führt die Anonymität und Mackerigkeit in politischen Zusammenhängen selbst dazu, dass das Zwischenmenschliche "ausgelagert" und Nähe in die Paarbeziehung gedrängt werden. Und nach einigen Jahren radikaler Politik ebnet für viele die Zweierbeziehung den Rückzug ins Private. Diskrimierungsfreie Räume und eine offene Atmosphäre finden sich in der linksradikalen Szene selten.
Aber warum müssen zwischenmenschliche Begegnungen überhaupt in Freundschaft/Beziehung eingeteilt werden? Warum ist es so wichtig, dass ich keinen Sex mit meinem besten Freund habe? Bin ich ohne eindeutige, sexuelle Orientierung überlebensfähig? Welches Gen regelt, dass ich nur einfach verknallt sein kann? Ist es schlimm, zu fünft zu kuscheln? In diesem Workshop würde ich gerne der Frage nachgehen, ob Zuneigung jenseits von Schubladen wie Zweigeschlechtlichkeit, Beziehung-Freundschaft und heterosexueller Norm gelebt werden könnte. In der Hoffnung auf viel mehr alltäglichen Widerstand gegen Normen - her mit den Experimentierflächen für buntes Leben ... zurück zum Text ...

Freie Liebe - mehr Schubladen?

Befreiung von Herrschaftsverhältnissen ist nur denkbar als ein Prozess, der alle Lebensbereiche umfasst. Daher gehört zu emanzipatorischen* Bewegungen immer auch der Versuch, eine Beziehungspraxis jenseits gesellschaftlicher Vorgaben zu entwickeln. Im Zuge der 68er-Revolte wurde "Freie Liebe" als Lösungsmodell verklärt: Die Begrenzung von Sexualität auf eine Person wurde dadurch in Frage gestellt. Das war's aber auch schon. Zweigeschlechtlichkeit, patriarchale Verhältnisse und die heterosexuelle Norm blieben unangetastet - kein Wunder ist es daher, dass Freie Liebe durchaus mit Mackertum, Homophobie und der Ausdehnung von warenförmiger Sexualität kompatibel war.

Dekonstruktion der "Matrix" - alle Schubladen kaputt kuscheln!

Wenn es nicht nur darum geht, mit möglichst vielen Leuten gevögelt zu haben, wird die Angelegenheit viel schwieriger - aber auch spannender: Die schrittweise Befreiung von Normen, Zwängen und Konstruktionen, die Zuneigung in geordnete Bahnen lenken und das Leben in binäre Codes* zu pressen versuchen, ist ganz schön komplex.
Ein größeres Problem dabei ist die Matrix. "Matrix" ist dabei eine Metapher für ein System, in dem Diskurse* und Zurichtung* so subtil und perfekt wirken, dass die Menschen das Bestehende "wie von selbst" reproduzieren und sich dabei frei fühlen. Herrschaftsdurchgriffe sind kaum noch nötig, weil die Menschen verinnerlicht haben, dass Zweigeschlechtlichkeit, Paarbeziehungen, Arbeit und Verwertung ganz "natürlich" sind.
Verbote, die bestimmte Lebensweisen oder Formen von Sexualität untersagen, sind schrecklich unmodern - Herrschaft ist hier viel zu offensichtlich. Repression allein bleibt äußerlich und lässt Freiräume für Nischen und Szenen, die sich anders organisieren. Unter Zwang bleibt immer ein Widerwille übrig. In der Matrix gibt es keine Räume mehr, die nicht von ihr erfasst würden. Diskursive Herrschaft wirkt über ein Geflecht von Normen und Setzungen, die selbst das "individuellste" Verhalten und intimste Bedürfnisse durchdringen. Der äußere Zwang wird überflüssig gemacht, indem die Bedürfnisse selbst so vorgeformt werden, dass das gewünschte Verhalten entsteht. Der Widerwille soll ausgelöscht werden. Die Matrix anzugreifen ist daher etwas anderes als die Polizei oder "den" Staat. Die Matrix kann mensch nicht erobern oder per Knopfdruck ausschalten.
Ein paar Aspekte der Matrix und die Welt jenseits ihrer Vorgaben können aber dennoch benannt werden ...

Let's have a look inside the matrix

Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität

Die Logik der Zweigeschlechtlichkeit bestimmt unser Leben und unsere Beziehungen bis ins letzte Detail - mit absurdesten Folgen: Es wird von vornherein ausgeschlossen, Menschen nah zu sein, weil sie zu Mann oder Frau gemacht wurden. Wir können gar nicht mehr personenorientiert wahrnehmen oder auf konkrete Menschen zugehen. Jeder Blick ist bestimmt von dem Versuch, Menschen einzusortieren und auf ein Geschlecht zu vereindeutigen. Was nicht binären Codes entsprechen will, hinterlässt Unsicherheit. Warum ist "Geschlecht" überhaupt relevant für die Entscheidung, in wen du dich verknallst? Zu glauben, männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell zu sein zu sein, ist bereits das Produkt der gnadenlosen Zurichtung auf Zweigeschlechtlichkeit und patriarchale Rollen, die mit unserer Geburt beginnt. Ohne die Einteilung in Männer und Frauen gäbe es keine sexuelle Orientierung - es gäbe "nur" noch Menschen. Zuneigung wäre nicht an das Geschlecht, sondern konkrete Menschen gebunden - was nicht ausschliesst, z.B. auf Menschen mit Schwänzen "abzufahren" oder eben nicht.

Freundschaft-Beziehung und andere Ausschließlichkeiten

Die Einteilung in Freundschaft, Beziehung oder Affäre ist ein diskursives Ordnungsprinzip, das regeln soll, wie und wo Zuneigung gezeigt werden darf. Es wirkt bis tief in unsere Köpfe und durchzieht alle Bereiche von Gesellschaft. Unzählige Bücher und Filme über das Scheitern von Dreierbeziehung sollen uns von der Unmöglichkeit überzeugen, eine andere Beziehungspraxis zu entwickeln. Und wer daran glaubt, dass nur entweder Beziehung oder Freundschaft möglich ist, dass mensch entweder "zusammen" ist oder nicht, wird das auch umsetzen! So bestätigt sich die binäre Logik, das Denken in zwei Farbtönen selbst. Wie oft haben dich diese Einteilung daran gehindert, spontane Zuneigung zu zeigen oder mehr Nähe aufzubauen als gesellschaftlich verordnet war? Sich davon zu lösen schafft die Möglichkeit für buntes Leben, wo nicht alles klar, sondern völlig offen ist, welches Verhältnis du zu jeder einzelnen Person entwickelst. Statt schematischen Einteilungen wäre jede Begegnung ein offenes "Experiment", bei dem Beteiligten selbst bestimmen und frei vereinbaren, womit sie sich wohl fühlen.

Sexualität

Vom Kuss bis zum Orgasmus - vom Betrieb wird bis ins kleinste Detail definiert und vorgebeben, wie wir uns verhalten sollen, was sexuell ist und was nicht. Es gibt "wissenschaftliche" Bücher, in denen die Abfolge von Vorspiel zum Sex, Steckkontakt oder Genitalfixierung in unhinterfragbare Natur verwandelt werden. Sexualität wird feinsäuberlich vom übrigen Menschsein abgetrennt, zum Ding, zur tauschbaren Ware gemacht. Abweichung werden nicht verboten, sondern normiert und kategorisiert, um sie beherrschbar zu machen. Und für fast ale Menschen ist das so selbstverständlich, dass nur wenige diese Normierungen als Unterdrückung erleben. Die Matrix ist grausam, Beherrschung so perfekt, dass sie als Freiheit wahrgenommen wird. Wer sich nicht an die Regeln, an die fremdbestimmte Reihenfolge hält, sondern den eigenen Wünschen vertraut, muß ständig Angst haben, auf Ablehnung zu treffen. Und sei's, weil du einen Menschen schon beim ersten Treffen streicheln möchte und nicht erst knutschen. Solche Erlebnisse, machen klar, wie weit gesellschaftliche Konstruktionen in unser Leben eingreifen und in absurdeste Situationen erzeugen. Gäbe es keine festgesetze, hierarchische Reihenfolge der Berührungen, wäre es egal, wo wir anfangen oder aufhören, uns gern zu haben.

Normen

Normierung ist wichtig zur Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen, ansonsten aber ziemlicher Unsinn. Zu den "berühmtesten" Normen gehört, nur eine Person lieben zu können, dass Dreiecksbeziehungen immer scheitern müssen oder die normierte Abfolge sexueller Handlungen, wobei der "Steckkontakt" die Spitze der Hierarchie markiert usw. Die Absage an Beziehungsnormen bedeutet, es zu einer offenen Frage zu machen, mit wie vielen Menschen du wie und wo was anstellen willst. Und für die anderen Menschen gilt das natürlich auch ...

Brüche in der Matrix

Die Tiefen der Matrix sind mit den genannten Aspekten nur knapp umrissen - aber es soll ja noch Raum sein für ein paar utopische Anwandlungen: Mein Traum wären Verhältnisse, in denen Menschen individuell "aushandeln" und frei vereinbaren, was sie miteinander anstellen wollen. Es gibt keine Vorgaben mehr, die Sexualität, Beziehungen, Nähe usw. definieren. Zuneigung würde nicht mehr von Kategorien und Normen bestimmt, sondern entlang konkreter Wünsche, Bedürfnisse und Ängste gelebt. An Stelle von konstruierten Einteilungen würde ein offener Prozess treten, der nach den aktuellen Bedürfnissen gestaltet ist und sich ständig verändern kann. Beziehungsformen wären so vielfältig wie die Menschen selbst - Pärchenkonstellationen, Jahre überdauernde Viererbeziehungen, spontane Zuneigungsbekundungen, kuschelnden WGs, enthaltsame Kommunen usw. Der Weg dahin ist ein endloser Prozess, zu dem praktische Experimente genauso wie die ständige Reflexion gehören.

Für herrschaftsförmig zugerichtete Leute wie uns ist das sicher nahezu unvorstellbar. Allerdings ... Herrschaft verläuft nie bruchlos, es gelingt nie, jede Eigenwilligkeit einzueben. Die Matrix ist zwar verdammt gut, aber nicht perfekt. Das bedeutet: Trotz der Zurichtung auf Zweigeschlechtlichkeit und normierte Beziehungen wird es Punkte geben, an denen deine Bedürfnisse, Erfahrungen und Träume nicht mit den Vorgaben der Normalität übereinstimmen. Diese Brüche zu entdecken und auszudehnen kann ein Ausgangspunkt für Veränderungen sein.
Auch der Workshop könnte eine Möglichkeit sein, Brüche zu entdecken, Erfahrungen auszutauschen, zu reflektieren und zu überlegen, wie eine emanzipatorische Beziehungspraxis aussehen könnte. Und wie wir die ganze Matrix zerlegen können.

Das Dr. Sommer-Team zum Mond schicken! Smash all categories!

PS: Diesen Text gibt es auch als .pdf (lesbar mit Acrobat Reader).

*Erklärungen zu ein paar "Poser"-Begriffen ...

Dieses Papier ist enstanden für einen Workshop über Beziehungspraxis auf dem anarchistischen Sommercamp 2004, das in der ersten August-Woche bei Berlin statt fand.

  espi


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