GESCHICHTEN, GRAUEN UND GEFÜHLE
Die Zwillingshöhlen: Gegenstück
»Was wir erschaffen, ist Projektion unserer selbst und zugleich eine erschreckende, zu tiefst ehrliche Offenbarung an diejenigen, die mehr zu verstehen imstande sind als bloße, aneinandergereihte Worte.«
Tief im Inneren einer riesigen Tropfsteinhöhle, in einem
kleinen Schrein, kauerte ein menschenähnliches Wesen mit angezogenen
Knien. In seinen zu einer Halbkugel geformten Handflächen ruhte ein
magisches Licht, ein kugelförmiges Etwas ohne greifbare Konsistenz,
von dem ein mattes Leuchten aus ging. Es war anders als die Strahlen der
Sonne, es war viel weicher und hüllte das Wesen in einen samtenen
Mantel aus Wärme, der sich an seine Seele anschmiegte. Der Blick
des Wesens haftete dem direkt vor ihm schwebenden Leuchten an, verlor
sich in der runden Ansammlung gebündelter Helligkeit ohne jedoch
einen bestimmten Punkt zu fixieren.
Das Wesen war völlig unbehaart und besaß Haut von
blauer Färbung, die im Schein des magischen Lichtes einem wolkenlosen
Himmel an einem warmen Sommertag auf bezaubernde Weise ähnlich sah.
Die täglichen Streifzüge durch die nicht enden wollenden
Gänge des unterirdischen Höhlensystems hatten ihm straffe, keineswegs
übertrieben ausgeprägte Muskeln an Armen und Beinen verliehen,
seinem Körper zu einer schlanken, athletisch anmutenden Form verholfen.
Sein Name war Talib. Niemand hatte ihm ihn je gesagt, er wußte
es einfach, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Es war so wie
mit vielen Dingen: Sie waren auf die Tafel seines Gedächtnis gemeißelt,
ohne eine Antwort darauf zu geben woher sie stammten, ohne einen Hinweis
auf die zu enthalten, die sie dort hinterlassen hatten. Angeborene Gewissheiten,
die jedem Erleben vorausgingen, flackerten immer wieder unerwartet in
seinem Bewußtsein auf, stifteten immer neue Wirrnis. Er nahm sie
als winzig kleine, bruchstückhafte Fingerzeige, welche die Zusammenhänge
seines Lebens ein wenig verständlicher werden ließen. Ihnen
galt seine Dankbarkeit, erweiterten sie doch letztendlich sein Begreifen
und waren die geringe Hilfe, die ihm für den unabsehbaren Prozess
seiner eigenen Entwicklung gegeben waren.
In Augen, die sich zu schmalen Schlitzen verengt hatten und
einer ausdruckslosen Miene offenbarte sich die geistige Anstrengung des
Höhlenwesens, das gerade zum Ausgangspunkt seines ausholenden Gedankengangs
zurückgekehrt war.
Angeborene Gewissheiten. Sie deuteten auf etwas hin, so wie
Wegweiser, ohne jedoch das Ziel wirklich anzugeben. Es war ein Puzzle,
das er erst noch mit unermeßlicher Geduld zusammensetzen mußte,
wollte er es in seiner Gänze erfassen und begreifen.
Er spürte die Unruhe in seinem Inneren, plötzliche
Energien, die in ihm aufwallten und nach Bewegung drängten. Zeit
für einen Ausflug, überlegte er sich und streckte die Arme vor
sich aus, um seine Muskeln dem lagen Sitzen zu entwöhnen. Seine zur
Förderung der Blutzirkulation gespreizten Hände brachte ein
Schar von Sehnen zum Vorschein, eine der Anpassungserscheinung seines
Körpers an das knifflige, vorallem aber höllisch anstrengende
Klettern in den zerklüfteten Felswänden, deren glitschige Beschaffenheit
eine ständige Gefahr darstellte, die nur durch äußerste
Wachsamkeit zu bewältigen war.
Langsam, um sich nicht den Kopf an der schräg nach oben
verlaufenden Decke zu stoßen, richtete Talib sich auf und machte
ein paar Schritte zum vorderen Ende seiner Schlafkammer, die nicht mehr
war als ein Raum in kalten Fels, der gerade genug Platz bot, sich auszustrecken.
Geschöpfen, die eines warmen und geräumigen Zuhauses verwöhnt
waren, hätte dieses karge Heim jämmerlich angemutet. Aber für
das Höhlenwesen, das seiner Natur nach genügsam war, reichte
es völlig aus. Talib konnte auf Gemütlichkeit verzichten, wäre
sie ihm doch fehl am Platze vorgekommen.
Er zwängte sich in eine enge Spalte, die den einzigen
Ausgang aus seinem Gemach darstellte. An den kalten, feuchten Fels gepreßt
machte er ein paar Seitwärtsschritte. Als er seinen Kopf nicht mehr
zwischen zwei Wänden eingeengt vor fand, schwebte das magische Licht
bereits vor ihm in der Luft, zugleich in schwindelerregender Höhe
verharrend.
Er wand sich nach rechts, um von dem Vorsprung, auf dem er
stand, die hohe Halle einzusehen, so wie er es vor jedem bevorstehenden
Aufbruch in die verworrenen Gänge des Höhlensystems zu tun pflegte.
Farbe, Form...
Während er andächtig auf der Erhebung verweilte
gewann er eine majestätische Anmut, die jedoch nicht im Geringsten
das wiederspiegelte, was er wirklich war. Ja, es erfüllte ihn mit
einer gewissen Freudigkeit, auf sein unterirdisches Reich herab zu blicken,
obwohl auch dies eine mißverständliche Umschreibung für
das ihm inne wohnende Gefühl war. Es gründete sich auf der Erkenntnis,
in eine untrennbare Verbindung eingewoben zu sein.
Es gehört mir, aber ebenso gehöre ich ihm.
Mittlerweile konnte er mit diesem, sein Leben entscheident
beinflussenden, Paradoxon umgehen, auch wenn es ihm immer wieder die niederdrückende
Wahrheit seiner Gefangenschaft vor Augen führte.
Seine Überlegungen kehrten zu dem großen Saal zurück,
in dem er sich gerade aufhielt. Hier war der Anfang all seiner Expeditionen,
der Beginn jedes neuen Aufbruchs in die Weiten der Dunkelheit. Durch ein
rundes Loch in der Wand gelangte er in einer Art in den Stein gehauene
Rutsche, die ihn durch einige, glatt geschliffene Windungen zum Boden
der Halle beförderte. Mit seinen Beinen voran fing er den Schwung
auf...
Drei Gänge zweigten von diesem Punkt ab, je einer auf
jeder Seite des weitläufigen Gemäuers. Der am anderen Ende,
oberhalb einer Ansammlung von Felsen, führte zur Oberfläche.
Dorthin zu gehen war Talib verwehrt.
Das Licht der Sonne, welches immerwährend herab fiel,
war tödlich für die Höhlenwesen. Er hatte keine Ahnung,
was mit ihm geschehen würde, doch er wußte: wenn es auch nur
eine Sekunde auf seinen Körper treffen würde, wäre sein
Schicksal augenblicklich besiegelt. Sein Leben würde unter Qualen
versiegen, langsam und endgültig.
Schon vom ersten Tag an trug er dieses Wissen in sich. Er
war gefangen in dieser Welt der absoluten Dunkelheit. Er mochte zwar hier
unten die Freiheit besitzen, in einem nahezu unendlichen System herumzustreifen
doch zufriedenstellen konnte ihn das nicht.
Immer wieder zog es ihn an die Stelle, wo man das durch eine
schmale Öffnung einfallende Licht beobachten konnte. Es war ihm,
als zerrte eine unbekannte Magie an ihm und er fürchtete sich, ihr
einmal hilflos ausgeliefert zu sein. Aber er war so weit davon entfernt,
seinem Sein ein Ende zu bereiten, wie höhlenwesen es nur sein konnte.
Er war seinem Leben in einer eigentümlichen, unzertrennlichen Liebe
verbunden, auch wenn es ihm manchmal noch so arg zusetzte.
Willkürlich wählte er den rechten Weg. Mit leichten
Schritten betrat er einem unnatürlich geradlinigen Korridor mit niedriger
Decke, der nach einer langgezogenen Biegung zunehmend enger wurde. Der
modrige Geruch und das Tropfen von kalkhaltigem Wasser bestimmten seine
Eindrücke in der nächsten Zeit seines Marsches. Während
der Gang einen leichten Anstieg vollzog, gelangte er an eine Stelle, an
der sich eine uneinsehbarer Schacht nach oben befand. Die Wand, welche
sich vor ihm auftat, war rauh und von vielen kleinen Vorsprüngen
und Einbuchtungen übersät.
Mit sicheren Griffen und dem Wissen um die richtigen Halt,
erklomm er das vertikale Hindernis mit routinierter Leichtigkeit und konnte
sich nach kurzer Zeit auf den Gipfel ziehen. Trotz allem zwang er sich
zur ständigen Aufrechterhaltung der unnachgiebigen Konzentration,
welche die Selbsdiszipliniertheit seines Charakters widerspiegelte, die
körperliche Tätigkeiten ebenso wie seine Meditationen auszeichnneten.
Ihm war klar, das auch nur eine Sekunde unachtsamen Übermuts seinen
Tod nach sich führen konnte.
Er mochte diese körperlichen Verausgabungen, und das
von ihnen ausgehende Gefühl, völlig entkräftet in den Schlaf
zu sinken, geradezu zu fallen. Sie halfen ihm nicht unmittelbar bei seinen
Problemen, doch er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich
wesentlich leichter dachte, wenn er sich zuvor starken Anstrengungen ausgesetzt
hatte. Es kam ihm so vor, als könnte er all seine Aufmerksamkeit
viel besser auf den Geist konzentrieren, wenn der Körper seine Energien
verbraucht hatte. Außerdem glaubte er daran, dass der Zustand höchsten
Friedens, im Gleichgewicht von Leib und Seele auszumachen war, und so
lag ihm viel daran, die Konzentration auf beiden Seiten zu schulen. Dieses
Gleichgewicht zu finden verstand er als Ziel seiner Bemühungen, in
Harmonie mit dem Kosmos aufzublühen.
Mit gerunzelter Stirn mußte er daran denken, dass er
keine Ahnung davon hatte, wie alt er war. Sofort richtete er seine Aufmerksamkeit
wieder auf die vor ihm liegende Dunkelheit des Ganges, dessen gewölbte
Konturen nur durch den Schein des magischen Lichtes erhellt wurden. Wenige
Schritte vor ihm erwarte ihn schon das nächste Hinderniss, dass es
zur Erklettern galt.
Nach ein langen Reihe von abenteuerlichen Aufstiegen, Rutschpartien
und gelegentlichem Kriechen durch modrige Tunnel, und sicher auch dem
Ruf der inneren Uhr folgend, zog es ihn zurück in seine kleine Kammer,
der Ort, der sein gewähltes Zuhause in diesem großen Land der
ewigen Finsternis markierte.
Er schlief, begünstigt durch den kräftezehrenden
Verlauf des Tages, recht schnell ein. Doch war diese Nacht von beständiger
Ruhelosigkeit und sporadischem Aufwachen gekennzeichnet. Phasen von seichtem
Tiefschlaf und halbbewußtem Erleben wechselten einander übergangslos
ab, ohne im den erwünschten Frieden zu gestatten. Er hing zwischen
den Welten fest, keine war wirklich in der Lage, seine Seele für
diese Nacht an sich zu reißen, was ihm zu einem Gefangenen im Rhytmus
zweier Zustände machten, die achtlos an seiner Seele zerrten und
ihm so unerträglichen Schmerz zu fügten.
Es war keine gewöhnliche Schlafstörung, sondern
vielmehr das unterschwelliges Zeichen eines weitaus tiefergehenden Konflikts,
der sich in ihm in ihm anbahnte. Noch zeigte seine bewegenden Schwingen
nichts von ihren wahren Reichweite, die die Macht besaßen, Talib
in Stücke zu zerreißen.
Die Grenzen verwischten bis zur Unkenntlichkeit.
Als er die Augen aufschlug blickte er in das vor Freude strahlende
Gesicht einer Fee. Das vor ihm schwebende weibliche, höchstens fünfzig
Zentimeter große Wesen hatte lange blonde Haare, welche ihrem schmalen
Gesicht mit den weichen Zügen als Einfassung dienten und an ihren
Enden eine Welle nach außen vollzogen. Die Schönheit ihrer
zierlichen Silhouette wurde von dem bis über ihre schmalen Füßlein
reichenden grünen Kleid betont, dass ihre langgezogenen Beine nur
erahnen ließ. Die Niedlichkeit, die ihrer ganzem ganzen Erscheinung
anhaftete, ließ ihn erstarren. Ein zartes Lächeln lag auf ihrem
kleinen Mund mit den sinnlichen Lippen, die von einem unscheinbarem Rot
waren, welches die Natürlichkeit einer blühenden Rose ausstrahlte.
Ebenso war der Duft, der von dem Elfenwesen ausging, wie der einer Blumenwiese,
deren Lebenskraft mit jedem Atemzug seine Lungen zu füllen vermochte.
Das ungetrübte Blau ihrer großen Augen übte Faszination
auf ihn auf, der er sich nicht lösen konnte. Ihr Anblick ließ
den Wunsch in ihm entstehen, in den Ozeanen zu versinken, und auf einmal
war ihm so gewesen, als wäre die strahlende Freude der Fee auf ihn
über gesprungen. Etwas, dass er nicht beschreiben konnte, ließ
ihn glauben, viel tiefer blicken zu können und mehr zu erkennen als
eine Gestalt von wunderbar schöner Äußerlichkeit: Ein
reines Wesen, was die Schönheit von Leib und Seele in einzigartiger
Weise vereinte. Sie sprach kein Wort, fesselte ihn nur unentwegt mit ihrem
warmen Lächeln und einer Aura, die ihre Erscheinung umgab wie der
Schein einer Kerze. Mit geöffneten Händen brachte die Fee ein
Licht zum Vorschein, das sie mit friedlich glänzenden Augen in seine
Freiheit entließ. Und dann verschwand sie, plötzlich und unerwartet,
nur das magische Licht zurück lassend.
Schlagartig kam er zum Erwachen und richtete seinen Oberkörper
auf. Benebelt blickte er sich in sich um. Eine Erkenntnis bahnte sich
den Weg durch sein halbwaches Durcheinander, festigte sich. Sie ist nicht
hier, sagte er zu sich selbst, um sich davon überzeugen, dass die
Fee nicht mehr war als eine nächtliche Erscheinung. Die Zerstreuung
ließ sich nicht so leicht besänftigen. War es wirklich nur
ein Traum, der sich in ein geschicktes Gewand gekleidet hatte? Was war,
wenn er die Befähigung, zwischen dem Phantastischen und dem Realen
zu unterscheiden, verloren hatte? Die Unschlüssigkeit ließ
ihn nicht los, zunehmend genährt von dem Gedanken, verrückt
geworden zu sein. Langsam ließ er seinen Körper wieder auf
den Boden sinken, in den Versuch vertieft, seine innerlichen Anspannungen
und paronoiden Anwandlungen zu lösen. Ich habe geträumt.
Das war nicht die Wirklichkeit. Seine unausgesprochenen Worte beruhigten
ihn, ließen ihn zur alten Gelassenheit finden und zu dem, von dem
er hoffte, das es wirklich war. Dankbar spürte er, wie er wieder
physischen Halt zu greifen bekam, der ihm die Rückkehr ins Jetzt
ermöglichte. Es war der Beginn seines Lebens, der sich in seinem
Traum wiederholt hatte und ihn in diesen neuen Tag getragen hatte. Er
erinnerte sich mit unveränderlicher Klarheit an diesen Moment. Jedes
mal, wenn er sich diesem Abdruck seiner Vergangenheit öffnete, durchlebte
er die erste Zeit von neuem. Niemals würde er den Anblick der Fee
vergessen und manchmal träumte er mit offenen Augen von ihr, sah
Bilder von ihr vor sich schweben, die niemals etwas von ihrer Faszination
einbüßen würden. Immer wieder galten seine Gedanken ihr,
schweigend auf ein Wiedersehen hoffend. Doch außer ihr war zu dem
Zeitpunkt, als er zum Leben erwachte, niemand bei ihm gewesen.
Er wußte nicht, ob er Eltern besaß geschweige
denn wer sie wohl sein mochten. Diese Ungewißheit begleitete ihn
seit jeher und würde sich bis zu seinem Ende niemals verdrängen
lassen. Als Kind zweier Unbekannten, wenn es sie denn gab, fühlte
er sich allein gelassen, ungeliebt und hilflos. Sein einziger Begleiter
war das magische Licht, welches ihm die Fee bei seiner Geburt gegeben
hatte. Es folgte ihm auf all seinen Wegen, schenkte ihm Licht um seine
Welt zu sehen und ein wenig Wärme. Mehr vermochte es ihm, trotz allen
liebevollen Bemühens, nicht zu geben. Talib wurde erwachsen geboren
und ihm war von Beginn an ein Bewußtsein gegeben, das ihn oftmals
zum Verhängnis wurde. In fernen Gedankensphären suchte er nach
Erklärungen auf die Rätsel, die ihm mit dem Leben beschert wurden.
Immerzu erkundete er die Winkel seines selbst, ständig darum bemüht,
Licht in die Dunkelheit in seines eigenen Inneren zu bringen. Tagelang
verharrte er in tiefer Nachdenklichkeit, zog sich in eine unausschöpflichen
Welt zurück, die ihm weitaus lieber war als die ihn umgebende Wirklichkeit.
Doch zu oft endeten die Versuche, den Sinn hinter seiner Existenz zu verstehen,
mit Phasen von Niedergeschlagenheit, in denen er sich selbst verwünschte.
Sein Wesen wurde von der Traurigkeit eines hilflosen Jungen eingenommen,
der sich zu oft der Erkenntnis stellen mußte, völlig allein
auf der Welt zu sein. Er war ein einsames Wesen, allein gelassen mit all
den Problemen, die auf ein jedes Sein einhämmerten. Niemand war je
da gewesen, um ihm die Fragen zu beantworten, die er sich Tag für
Tag aufs Neue stellte. Niemand hatte ihm je zur Seite gestanden. Vom ersten
Moment an war er auf sich selbst und seinen niemals zu fragen aufhörenden
Verstand gestellt. Daran gewöhnt hatte er sich schon lange, doch
das änderte nichts an der Sehnsucht, die Zuneigung anderer zu erfahren
und selbst Liebe zu geben. Nie hätte er sich zu einem Vorwurf erhoben.
Manchmal malte er sich aus wie es wäre nicht allein zu sein, doch
schon nach kurzer Zeit spürte er den schmerzenden Stich einer Realität,
in der es nur ihn gab. Aber auch wenn er jeden noch so vagen Gedanken
an ein anderes verjagte, tief in seinem Inneren weilte die beständige
Hoffnung, eines Tages die dunkle Kammer der Einsamkeit, die mit steter
Depression einherging, verlassen zu können. Eines, auch wenn es angesichts
seiner Lage schwer zu glauben ist, ging ihm seit damals nie verloren:
Die Hoffnung, seine Suche, in die er all seine Kraft steckte, zu einem
Ende führen zu können. Nicht einmal er selbst verstand, woher
dieser unbezwingbare Wille stammte, der jeder der Enttäuschung trotzte,
die seinen müßigen Pfad säumten. Und doch...dieses seltsame
Licht am Ende des Korridors verlor nie etwas von seinem Glanz, blieb unangetastet
von den zahlreichen Niederungen, die er durchlief. Ein Licht mit sonderbarer
Anziehungskraft.
Er besann sich auf den Raum vor seinen Augen, erhob sich und begab sich in die große Halle. Heute entschied er sich für den linken Gang, nicht ahnend, welche neue Wendung er für sein Leben eingeschlagen hatte.
Diese Welt existierte auch in ihm. Obwohl er all die Gänge,
Hallen und Räume, die er schon einmal betreten hatte, in seinem Gedächtnis
kartographiert hatte, kehrte er niemals bewußt zu einem dieser Orte
zurück. Er ließ sich von der Eingebung leiten, der er in der
Sicherheit seiner unterirdischen Behausung uneingeschränktes Vertrauen
schenkte. Manchmal erschienen ihm selbst seine Gedanken wie eine riesige
Höhle, aus der es kein Entkommen gab. Und eben so verhielt es sich
mit diesem eigenartigen Gefühl, in zweifacher Hinsicht gefangen zu
sein: Auf der einen Seite war da sein unter der Erde liegender Lebensraum
und auf der anderen die ausweglosen Labyrinthe seiner inneren Welt, der
Behausung seiner nicht enden wollenden Gedankenströme. Dennoch stieß
er immer weiter vor, unaufhaltsam und mutig, auch wenn er sich dies niemals
eingestanden hätte. Stolz auf sich selbst war ihm so fernab wie Sterne
am Himmel, die er nie zur Sicht bekommen hatte Behausung. Welch unpassende
Bezeichnung! Eine dunkle Höhle: mein behaglicher Unterschlupf,
dachte er mit erstaunlicher Selbstironie.
Etwas brachte ihn dazu, abrupt halt zu machen. Einen Augenblick
sah er Schwärze, nichts als klaffende Schwärze, die ihre Klauen
nach ihm ausstreckte. Er drohte im Sumpf der unendliche Finsternis, die
ihn umgab, zu versinken. In einer sich aufdrängenden Vision sah er,
wie er in die Dunkelheit aufgesogen wurde und er selbst zu einem Teil
ihrer selbst verschmolz, zu einer willenlosen Kreatur, welche ohne jede
Lebenskraft dahin vegetierte. Ist es wirklich so aussichtslos? schoß
es ihm durch den Kopf. Beinahe hätte er sich über die Tragik
seiner eigen Lage amüsiert, doch der auf ihm lastende Schmerz wog
zu viel. Mit bitterer Miene machte er sich auf den Weg, um die trüben
Überlegungen, die seiner Angst entsprungen waren, hinter sich zu
lassen.
Der See. Ihm scheint so viel Lebenskraft inne zu wohnen. Der unterirdische See war der Ort in dem riesigen Gefilde, an dem er sich, abgesehen von seinem Schlaflager, am Wohlsten fühlte. Reglos hockte Talib am Rand, den Blick auf das kristallklare Wasser des Sees gerichtet. Gefesselt betrachtete er sein eigenes Antlitz, welches vom Glitzern des Wasser umrahmt wurde, unterzog es einer aufmerksamen Musterung. Seine eingefallenen Wangen und die kantigen Konturen bildeten einen starren, von Unbeweglichkeit gekennzeichneten Ausdruck, der nichts von dem offenbarte, was in Talib vorging. Sein zu einer unscheinbaren Linie geformter Mund wirkte kühl und gefühllos. Und dennoch: Eine unverkennbare, tiefschürfende Ernsthaftigkeit haftete dem an, was sein Spiegelbild auf der Oberfläche des unterirdischen Gewässers ihm zeigte. Eine Sekunde konnte man ungehindert auf den Grund blicken. Obwohl sich die Jugendlichkeit seiner selbst nicht verdecken ließ lag in diesem Gesicht noch etwas anderes, Undefinierbares, von Reife und Weisheit zeugendes. Die Art und Weise, in der Talib die Welt betrachtete unterschied sich gewalltig zu der eines naiven Jungen. In seinen Augen lag eine Tiefe, die der einzige Hinweis darauf war, dass all dies nur Fassade war. Dahinter befand sich ein empfindsames Wesen, welches ein verdecktes Dasein führte. Doch vermutlich hätten sich nur wenige nicht von der physischen Erscheinung täuschen lassen und das erkannt, was sich hinter dieser trügerischen Äußerlichkeit verbarg.V
Talib dachte an gar nichts. Einen Moment glaubte er, auf ein
Anderes zu schauen, so wahrhaftig erschien ihm die Spiegelung seiner selbst.
Er warf einen kleinen Kiesel ins Wasser, der die Illusion zerstörte.
Das bin nicht ich. Wieder mußte er sich selbst dazu zwingen, sich
von der Träumerei abzuwenden. Der Strom seiner Gedanken erfaßte
ihn erneut, zog ihn mit sich. Sein Körper tauchte in das kalte Wasser
ein. Während er das prickelnde Gefühl auf seiner Haut genoß,
erblickte Talib eine Öffnung , die sich hinter einem vorgeschobenen,
scharfkantigen Felsen verbarg und ihm zuvor nie aufgefallen war. Sofort
näherte er sich seiner Entdeckung, angetrieben von dem unstillbaren
Bedürfnis, alles zu erkunden, was sich dafür anbot. Durch ein
schmales Loch gelangte das Höhlenwesen in einen Durchgang, der sich
spiralförmig nach oben wand. Zügig schwamm er voran, was anhand
seiner Aufregung kein großes Problem darstellte. Nach einigen langgezogenen
Windungen konnte er die leicht wabernde Oberfläche des Wassers erkennen,
die das magische Licht gerade hinter sich gelassen hatte. Durch das nasse
Element hindurch dringend, brach sich das helle Leuchten seines Begleiters
zu Fasern glitzernden Lichtes. Wie er sich durch die Strahlen wand, kam
es ihm so vor, als ob er der Sonne selbst entgegen glitt. Etwas unerwartet
durchbrach sein Kopf den Wasserspiegel, der eben noch im beträchtlicher
Distanz gelegen zu haben schien. Das Licht war ihm durch die runde Nische,
in der er sich nun befand vorausgeeilt, so als wollte es auf eigene Faust
erkunden, was da vor ihm lag. Nachdem er einen niedrigen Zugang durchschritten
hatte mußte er schlagartig den Atem anhalten. In dem leicht gestreckten
Raum, der aus beigem Fels bestand und einer Kapelle glich, erstreckte
sich auf der linken Seite ein glitzernder Wandteppich aus herabhängenden
Stalaktiten. Einige der Tropfsteine berührten den Boden oder trafen
sich in der Mitte mit ihren vom Boden aufragenden Gegenteilen, den Stalakniten.
Es war nicht unbedingt die Höhe und die dadurch erzeugte Imposanz,
die ihn zum Staunen brachte. Nein, die Eigenheit dieser Kunstwerks war
die Widersprüchlichkeit, mit der es auf Talibs Bewußtsein einwirkte
und dessen Ordnung durcheinanderwirbelte. Der Eindruck, dass es einer
sorgfältigen, linearen Planung zu Grunde lag stand dem Wissen gegenüber,
dass diese Strukturen rein zufälligen Ursprungs waren. Es bereitete
ihm Schwierigkeiten, die als willkürliches Resultat zu akzeptieren.
Vor allem deshalb weil ihr Schöpfer niemand war, der mit Händen
daran gearbeitet hatte oder einen Meißel bei seiner Arbeit verwendete.
Zu dem war er ein Perfektionist. Der Konflikt in seinem Bewußtsein
war unausweichlich. Da war etwas, dass sich eindeutig nicht vereinbaren
ließ, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Es war ein bezeichnender
Beweis für die uneinsehbare Vorgehensweise des größten
aller Architekten: Der Natur. Hier gewann er Erkenntnis von der Endlichkeit,
der Begrenztheit seines Verstehens, dass immer unzureichend bleiben würde.
Ich war immer darum bemüht, Einsicht in meine Welt zu erlangen. Doch
was ich auch tun werde, dass Ganze werde ich nie begreifen können.
Während er sich dieser Einsicht stellte, traf ihn tiefe Niedergeschlagenheit,
der er sich nicht entziehen konnte. Er mußte sich damit abfinden,
dass die Tür zur letzten aller Antworten wohl immer geschlossen bleiben
würde. Warum hatte er auch diesen verlassenen, abseits gelegenen
Pfad einschlagen müssen? Aber das unbeschwerte Leben, welches er
aus freiem Willen abgelegt hatte, ließ sich nicht mehr zurück
holen. Und auch wenn er nichts davon bemerkte schwebte nun in seinen Augen
eine tiefe Weisheit, die weiter über das Alter seiner jungen Existenz
hinausging. Obwohl, oder gerade weil sie ihn jetzt schmerzlich berührte
würde sie ihm eines Tages zu einer Stärke verhelfen, die sich
auf wahrem inneren Gleichgewicht gründete. Vergiss die Fragen.
Ein Hauch eines anderen...Geschöpfes.
Das war nicht sein Gedanke, der in seinem Kopf erschienen
war. Aber was machte das schon. Einen Moment lang, in einem für ihn
reichlich ungewöhnlichen Akt schob Talib alle Erwägungen, Überlegungen
die seinen Geist übervölkerten, beiseite. Für eine gedankenlose
Sekunde sah er die Schöpfung der Natur ohne sich den Fragen hinzugeben,
und er war dankbar dafür, diesen Anblick in seiner unverfälschten
Vollendung erfahren zu können. Glitzernde Wassertropfen rannen an
den zylinderförmigen Kalkablagerungen herunter. Ein dumpfes Klopfen
riss ihn aus seiner Selbsverlorenheit und ließ ihn schlagartig wieder
in die Wirklichkeit zurückfinden. Überrascht drehte er sich
herum. Normalerweise waren die einzigen Geräusche, die nicht von
ihm ausgingen, das Geplätscher von Wasser oder das Flattern aufgeschreckter
Fledermäuse, die in einigen Bereichen des unterirdischen Systems
anzufinden waren. Es klopfte erneut. Er versuchte auszumachen woher das
Geräusch stammte. Die Wand gegenüber. Talib schritt zur anderen
Seite herüber und setzte sich auf einen Felsvorsprung, der wie ein
steinerner Sessel aus der Wand hervorragte. Während er sein Ohr anlegte
und mit aller Aufmerksamkeit lauschte vergingen Minuten völliger
Lautlosigkeit. Stille überlagerte seine Anspannung. Ohne bewußt
zu agieren klopfte er gegen den kalten Fels, der einen hohlen Klang von
sich gab. Er wartete. Anspannung lag auf seinem ganzen Körper, unbemerkter
Schweiß rann ihm von der Stirn, auf der sich eine einzige nachdenkliche
Falte zeigte. Von der anderen Seite drang ein Klopfen als Antwort. Obwohl
er nicht wußte warum, öffnete sich just in diesem Moment sein
Mund. Niemals zuvor hatte er seine Stimmbänder benutzt. Zum ersten
Mal hörte er den Laut der eigen Stimme, die scheinbar eigenmächtig,
von seinem am Verborgensten Wunsch geleitet, folgende Worte formulierte:
"Ist...ist da jemand auf der anderen Seite?"
"Ja." Es war ein Wort, dass auf den süßen Lauten
einer lieblichen Stimme getragen wurde. Sie gehörte eindeutig einem
weiblichen Wesen. Talib wurde von einem unbekannten Gefühl unbekannten
Ursprungs ergriffen. Es war ihm nicht möglich, diese Emotion einzuordnen.
Wärme, die nicht vollkommener als die der Sonne hätte sein können,
legte sich auf unbemerkt sein Herz. Tausend flüchtige Gedanken füllten
seinen Kopf aus, umhüllten ihn mit einem Schal aus Konfusion. Was
sich undeutlich und zögernd vor ihm abzeichnete, blieb ein unerkanntes
Land. Die Stimme mit ihrem weichen Klang drang erneut zu ihm hinüber,
flog ihm freudig entgegen.
"Wer bist du?" fragte sie auf eine Art und Weise, die ihn
fast zärtlich berührte. Selbst ihr Duft wurde in den Wogen ihrer
Worte herüber befördert. Sein ganzes Bemühen galt der eigenen
Beruhigung, die sich jedoch nicht einstellen wollte.
"Mein Name ist Talib." Seltsam, es war das erste Mal, das
das Höhlenwesen seinen eigenen Namen in Lauten gemalt von sich hörte.
Seine Stimme wollte so gar nicht zu dem passen, was er rein äußerlich
darstellte.
Mit einem Schimmer von Nervösität trällerte sie: "Ich bin
Siona." Siona. Ihr Name war ihm mehr als ein Wort, eher ein Bildnis voller
Feinheiten, die er noch nicht fassen konnte. Einen Moment lang herrschte
Stille, dann sammelte Talib sich zu einer erneuten Äußerung.
Nichts Sinnvolles fassen könnend, erkundigte er sich: "Warum hast
du geklopft?" Er spürte das beständige Pochen seines Herzen,
so deutlich, als wolle es jeden Augenblick durch seine Brust hüpfen.
"Ich saß schon eine Weile in der Nische und träumte
so vor mich her ohne meiner Umgebung wirklich große Beachtung zu
schenken. Auf einmal glaubte ich etwas gehört zu haben, das von der
anderen Seite zu mir herüber drang. Obwohl es von dann an still blieb,
konnte ich nicht diese Ahnung abschütteln, dass sich dort jemand
befand. Irgend etwas in mir ließ mich gegen die Wand klopfen, ohne
dass ich es hätte kontrollieren können." Nach einer kaum merklichen
Zögern fügte sie ernst hinzu: "Weißt du, eigentlich habe
ich nicht mehr damit gerechnet, auf jemand anderes wie dich zu stoßen.
Nach der langen Zeit in diesem finsteren Reich findet höhlenwesen
sich damit ab, sich selbst die einzige Gesellschaft zu sein." Er erkannte
die Aufrichtigkeit in ihren Worten und sah gleichsam sich selbst in ihnen.
Waren sie einander wirklich so ähnlich? Mit einem Ausdruck von Ungläubigigkeit
in den Augen sah er zu den gegenüberliegenden Tropfsteinen.
"Ich weiß nicht",entgegnete er, offenherzig und ernst,
"Natürlich wird die Enttäuschung mit jedem Tag, der vergeht
größer, aber wenn ich mein Herz eingesehen habe, war dort diese
beständige Hoffnung, die sich durch nichts trüben ließ."
"Ist das wirklich wahr?" sprudelte das Höhlenwesen auf
der anderen Seite prompt hervor.
"Ja. Ich habe mich so oft gefragt, ob es ein anderes da draußen
gibt." Wie sehr ich mich diesem Wesen öffne, ohne jegliche Angst
zu verspüren, bemerkte er beim Hören seiner eigenen Worte,
unschlüssig, ob er sich deshalb fürchten oder freuen sollte.
Immer noch kreiste seine Aufmerksamkeit um ihren Namen, dessen seltsamer
Attraktivität er sich nicht entziehen konnte.
"Ich kenne es. Obwohl die Vernunft es kaum für möglich
hält, bleibt ein Körnchen Glauben übrig, dass sich dagegen
wehrt, aufzugeben. Ich glaube, dieser Funke hat mich am Leben gehalten."
Beide von plötzlicher Müdigkeit befallen, verabschiedeten sie
sich voneinander, in dem Einverständnis, am folgenden Tag ihre Konversation
wieder auf zu nehmen.
"Es wäre schön, wenn Du morgen wieder kommst.",
hatte Siona ihm mit auf den Heimweg gegeben, und diese Bitte hatte sich
wie alles, was sie gesagt hatte, fest in sein Gedächtnis gebrannt,
an einer Stelle, wo sie unauslöschbar aufgehoben wurden wie ein wertvoller
Schatz. Diesen Schatz, obwohl nicht mehr als ein Wärme spendender
Gedanke, hütete er sorgfältig. Während er zurück wanderte
bemerkte er, dass sein Verständnis seit dem Moment stehen geblieben
war, als es das erste Mal geklopft hatte. Sein Bewußtsein schien
hinter den Geschehen hinterher zu hinken und erst langsam, sehr langsam
einzuholen. Noch etwas anderes bewirkte seine Beunruhigung. Die Vertrautheit,
die die Tunnel, welche er durchquerte, ihm sonst vermittelten, war gewichen.
Die Wände rings um ihn herum offenbarten eine völlig neue Facette
der Bedrohlichkeit, die noch dadurch gesteigert wurde, das all dies seine
gewohntes Umwelt war, oder zumindest gewesen war. Vorerst jedoch war es
ihm erlaubt, sich vom Nebel dieses eigenartigen Gefühl weiter tragen
zu lassen, ohne den Konsequenzen ausgesetzt zu sein. Ein Gedanke an Licht
streifte sein Bewußtsein, ein Licht von unvollendeter Beschaffenheit,
fast unmerklich getrübt durch...durch was? Als er am Abend in seiner
Kammer zurückkehrte, fühlte er, dass es viel später war
als sonst. Die Ermüdung in ihm war zu mächtig. Er ließ
sich bezwingen und schlief ein, während Sionas Worten in seinem Inneren
beständig weiter klangen, ihn sanft schaukelten. Friedlich ruhte
Talib auf seinem bescheidenden Schlaflager, einem aus ockerfarbenen Pflanzenfasern
geflochtenen Teppich, erhellt von dem magischen Leuchten, dass an seinem
Kopfende verharrte und einen nun einen seichten Schimmer auf das Wesen
legte. In seinen Träumen erschien eine Sternschnuppe mit glühend
weißem Schweif, doch jedes Mal, wenn er die Hand danach ausstreckte,
löste sie sich in ein beklemmendes Nichts auf.
Am nächsten Morgen wachte er mit dem Gefühl absoluter,
rückhaltloser Niedergeschlagenheit und Ernüchterung auf. Den
vorigen Tag als eine Silhouette vor sich schwebend, hielt er das Geschehene
für eine Illusion, zwanghafte Erfüllung eines Traums, den der
nie zu träumen aufgehört hatte und der doch so weit von ihm
lag. Alles war nichts, geschaffen von dem Wunsch nach einem anderen. Etwas
in ihm wehrte sich dagegen, daran zu glauben. Daran hätte sich sicher
nichts geändert, wenn er nicht an den Ort zurückgekehrt wäre,
an dem seine ständig suchende Seele fündig geworden war, ohne
es zu bemerken. Vor der Wand breitete er einen Flechtenteppich aus, den
er aus seinem Schlafraum mitgebracht hatte und machte es sich bequem.
"Ich habe schon lange auf dich gewartet", begrüßte
Siona ihn mit unterschwellig sehnsüchtigen Worten, die ihn reflexartig
herum wirbeln ließen um gleich darauf Gestein zu blicken. Und mit
einem mal war ihm klar, dass er diesmal nicht phantasiert hatte. Er hatte
sich nicht der Projektion seiner Wunschvorstellungen hingegeben, die zu
immer größeren Depression geführt hatten. Er gewann den
Eindruck, seine Vorstellung hätte sich in der Wirklichkeit manifestiert.
Ich träume, nur diesmal ist es ein wahrer Traum. Und doch...die Zerissenheit
wollte kein Ende nehmen. Während sein überfordertes Bewußtsein
raste, segelten Sionas Worte, beruhigend wie ein Kinderlied, besänftigend
wie eine Wiege, durch seinen Kopf. Ihr Klang erweckte in ihm Assoziation
an bunte Blumenwiesen im Frühling, an das Sprießen der ersten
zarten Blätter, obwohl er diese Erfahrung nie hatte machen dürfen.
Er war noch nicht in der Lage, das auszusprechen, was die Angst in ihm
zurückhielt, ihn selbst noch zu sehr beschäftigte. Obwohl ich
dich erst kaum kenne, empfinde ich doch Sehnsucht nach dir und deiner
Stimme, mehr als ich es mir je erträumt hätte. Eine Frage lag
im auf der Zunge.
"Wie sieht es da aus, wo du dich jetzt befindest?" Die Neugier
hinter seinen Worten erweckte den Anschein, etwas anderes zu verdecken.
Und während sie mit ihrer Gabe, die Dinge so unfaßbar zu beschreiben,
dass sie sich in Talibs Geist eröffneten, stellte er mit Erstaunen,
das irgendwo zwischen Konfusion und barem Erschrecken lag, fest, was es
war, das er da vor seinem inneren Auge erblickte. Es ist das Spiegelbild
meiner Welt, in Perfektion ausgearbeitet! Es war kaum zu glauben: Die
Wand mit dem kunstvollen Gebilde aus Tropfsteinen, der Zugang durch den
See, die vertrauten Bilder seiner Umgebung; es existierte alles genau
so wie in seiner Welt. Sonderbar. Vielleicht bin ich doch nicht allein,
dachte er. Doch dieser Gedanke verblaßte angesichts der unbezwingbaren
Zweifel, verlor sich in einer fernen Stätte seines Wesens, die es
um Verbleib ersuchte. Nach Erklärungen forschend durchstöberte
er sein Bewußtsein, jedoch ohne Erfolg. Talib spürte, dass
all dies einen viel größeren Zusammenhang ausmachte, den er
nicht einzusehen imstande war. Die Fäden, die sein Leben ausmachten
schienen nun, wie unterschiedlich sie auch sein mochten, auf ein einiges
Ziel zuzulaufen, das sich noch in Nebel gehüllt hielt. Vor Verzweiflung
war er geneigt, sich eigenhändig in Stücke zu reißen.
Fieberhaft war er darum bemüht, zu begreifen, was mit ihm geschah,
doch mit Siona war etwas in sein Leben getreten, dass sich nicht in Begriffe
fassen ließ oder durch Erklärungen gebändigt werden konnte.
Die Wurzeln, die die Phasen seiner geistigen Versunkenheit geschlagen
hatten waren zu tief, um sie einfach wieder auszureißen. Sie waren
zu etwas Eigenständigen herangewachsen, dem er sich manchmal ausgeliefert
fühlte, ohne das sich nicht immer seiner Kontrolle unterwerfen ließ.
Wenn sie nur wüßte, wie sehr sie in mich eindringt, auch wenn
eine Wand aus kaltem Fels zwischen uns steht.
"Warum sagst du nichts?" Wieder bemerkte er die Süße
in ihrer Stimme, die sie dahin gleiten ließ wie goldenen Honig.
"Das, was du mir beschrieben hast", er zögerte einen
Moment, bis er bereit war, "es ist genau so beschaffen wie auf meiner
Seite."
"Du meinst unsere Welten sind Spiegelbilder? Meine Welt ist
auch deine Welt?", mutmaßte sie mit abgehackten, ruckartigen Worten,
Ausdruck der gleichen Verwunderung, welche auch Talib befallen hatte.
"Vielleicht. Oder sie sind ein großes Ganzes, das aus
zwei gleichen Teilen besteht.", spekulierte er vorsichtig, auf eine merkwürdige
Weise zurückhaltend. Dieser Idee haftete mehr Wahrheit an, als ihm
zu glauben behagte. Ein Horizont tat sich vage auf...und blieb unbemerkt.
Mit einer überfallen wirkenden Nuance durch brach Siona den Moment
der Stille zwischen ihnen.
"Aber wie ist das möglich?"
"Ich weiß es nicht.", seufzte Talib ahnungslos, von
der Rätselhaftigkeit dieser Parallelen ebenso überlastet. Ein
anderer Gedanke schob sich ohne erkenntlichen Zusammenhang in den Vordergrund,
natürlich und unaufdringlich.
"Was ist mit deinen Eltern, hast du sieh je kennengelernt?"
"Nein." Ihre unterdrückte Bitterkeit, hervorgerufen durch tragische
Errinerungen an ein einsames Erwachen, blieb ihm nicht verborgen.
"Du
hast sie niemals zu Gesicht zu bekommen", sagte er mitfühlend, obwohl
er sich darüber wunderte, wie selbstverständlich er von alledem
redete.
"Bei deiner Geburt war da nur diese Fee mit diesem bezaubernden
Lächeln und dem magischen Licht." "
Ja. Aber woher weißt du
das alles? Es ist, als ob du meine Geschichte von Anfang an kennen würdest."
"Ich kenne deine Geschichte, weil ich sie selber erlebt habe. Mir ist
es genauso ergangen. Und ich habe nie verstanden, warum es so geschehen
mußte. Diese Ungewissheit und die Fragen zermürben mich, ohne
das eine Lösung des Rätsels abzusehen ist."
"Es ist schrecklich",
bestätigte Siona mit einem kaum zu verbergenden Schluchzen in ihrer
Stimme, der klagende Trauer zu entnehmen war. "Sie fehlen mir so sehr.
Ich fühle mich so allein gelassen." Sie versuchte ihre Tränen
zu unterdrücken.
"Sei nicht traurig, vermutlich hatten sie keine
andere Wahl. Und du bist nicht allein, da bin ich mir ganz sicher." Während
er sprach, überkam in ein Gefühl der Trübseeligkeit. Seine
Worte kamen ihm so unzureichend, so unnütz vor. Es war so wenig,
doch es war Talib verwehrt mehr zu tun. Er wünschte sich insgeheim,
sie in seine Arme nehmen zu können.
"Ich bin froh, dass es dich gibt."
gestand Siona, die in diesen Worten einen erschütternd offenen Beweis
ihres Vertrauens lieferte. Zuerst wollte er etwas erwidern, doch ein Teil
in ihm wehrte sich gegen diese Offenbarung. Dieser Teil hatte Angst vor
den Emotionen und dem Wunsch, sich ihnen hinzugeben. Waren sie sich wirklich
so nah? Weiter wagte er sich an die Bedeutung ihrer Beziehung heran zu
tasten, mehr ließ seine Angst, etwas vom seinem Selbst zu enthüllen,
nicht zu. Die Wand, die sie von einander trennte, maß er nun mit
verändertem Blick. Dieses unüberwindliche Hindernis beschwerte
sein Gemüt, schmerzte ihn zusehens. Ohne sich zu verabschieden ging
er fort.
Es fiel ihm schwer einzuschlafen. Die Ereignisse ließen sich nicht abschütteln und der Tag hatte noch zu sehr Besitz von ihm, als dass er sich der Nacht übergeben konnte. Eigentlich kannte er nur ihre Stimme und doch blieb es nicht aus, dass er vor seinem geistigen Auge ein Bild von ihr erschuf. Aber es war nur unvollkommen und verkümmert, was ihn noch mehr betrübte. Ihre Stimme ist so lieblich, so voller Wärme. Jedes Wort aus ihrem Mund umschlang ihn auf diese eigene Weise, für die er vordergründig keinerlei Erklärungen hatte. Tief in ihm lag bereits schon jetzt eine Antwort auf diese Frage, eine Antwort, die er sich nicht zu Tage fördern getraute. Er wünschte sich sie zu sehen. Er sehnte sich nach ihrer Anwesenheit. Mit Tränen senkte sich der Vorhang des Schlafes auf ihn herab. Ich bin auch froh, dass es dich gibt. Was soll ich nur tun?
Er befand sich an einem Ort, den er nie zuvor gesehen hatte:
Es war ein natürlicher, teilweise verwilderter Garten, der das gesamte
Spektrum grüner Töne in sich vereinte und von den bunten Blüten
der Blumen geschmückt wurde. Über all um ihn herum wucherten
die unterschiedlichsten Pflanzen, die er nie zuvor gesehen hatte. Von
irgendwo her drang das leise, konstante Geräusch eines in der Nähe
befindlichen Brunnens, den er jedoch nicht entdecken konnte. Einen Moment
lang genoß Talib die Natur und ihren unnachahmlichen Einklang. Mit
tiefen Atemzügen versuchte er, die von diesem Ort ausgehende Energien
einzusaugen. Dann folgte er intuitiv dem schmalen steinernen Pfad, der
sich durch das Dickicht schlängelte. Nach einiger Zeit zweigte ein
weiterer Weg von dem ursprünglichen ab, den er, einer unbestimmbaren
Eingebung folgend, einschlug. Auf den Seiten dieses Weges gesellten sich
nun Haselnußbäume und schlanke, hochgewachsene Nadelhölzer.
Einmal erhaschte er ein Blick auf ein Eichhörnchen mit einem buschigen
Schwanz, dass sich an den Nüssen zu schaffen machte. Als es ihn wahr
nahm, musterte es ihn kurz, zog es dann aber vor, in höheren Regionen
des dichten Grüns zu verschwinden. Durch ein mit blühenden Ranken
bewachsenem Törchen am Ende des Weges gelangte er auf eine kleine
Wiese, die von Apfelbäumen umsäumt wurde. Dort fand er sich
der Fee gegenüber, die ihm einst sein Leben geschenkt hatte. Er stand
vor ihr wie ein Block aus erkaltetem Blei, unfähig etwas zu sagen,
unfähig zu agieren. In ihren Händen hielt sie ein scheibenförmiges
Amulett, die aus einer weißen und einer schwarzen Hälfte gefertigt
war. Es hatte den Anschein, dass sie ihm irgend eine subtile Botschaft
vermitteln wollte. Einen Augenschlag später befand sich da, wo eben
noch die Fee geschwebt hatte nichts als Luft. Seine verwirrte Mine verstärkte
sich, als er nach unten sah.
Auf dem Boden zu seinen Füßen, inmitten von saftigen
Gras, lag die weiße Hälfte der Scheibe. Als er es in die Hand
nahm verschwamm die Umgebung zu dunklen Umrissen. Er wachte abrupt auf
und fand sich schweißgebadet vor, ohne zu wissen warum. Die Reminiszenz
an seinen Traum war zu einem winzigen, nichts sagenden Fragment geschrumpft.
Er stand zwischen sich selbst. Sein Vertrauen zu der lebendigen Welt seiner
Gedanken hatte einen Bruch erfahren. Mit diesem Mädchen waren die
Grenzen aufgehoben, die einst die verfeindeten Ländereien getrennt
hatten. Diese tiefe Schlucht zu überbrücken unfähig, drohte
Talib zu zerbrechen und gab sich selbst die Schuld dafür. Seine innere
Balance, der sichere Halt, war verloren gegangen und so verglich er sich
selbst mit einem Seiltänzer, der nichts unter sich hat als klaffende
Leere, falls er vom Seil stürzt. Als jemand, der sich auf keine Hoffnung
stützen konnte, die ihm bei einem Scheitern in ihren Armen auffing,
kam er sich unsagbar verloren vor.
Sie hatten ein langes Gespräch hinter sich, bei dem die
Zeit wider einmal in völlige Vergessenheit geriet und jegliche Bedeutung
verlor.
"Es ist seltsam. Wenn ich mit dir rede, habe ich das Gefühl,
auf einen Spiegel zu blicken. Wir sind und sehr ähnlich, auf eine
gewisse Weise. Doch leider mangelt es mir an Worten, um diese Ahnung beschreiben
zu können. Und an Verständnis." Ich liebe sie. Das Echo dieses
Satzes hallte durch sein Bewußtsein, so als wollten sie die frohe
Kunde seines plötzlichen Eingeständnis in jedem noch so abgelegen
Winkel seiner Selbst verbreiten. Mit einem mal waren all Ängste vergessen
gewesen, die ihn umzingelt hatten wie eine Horde ausgehungerter Kannibalen.
"Was denkst du gerade?", fragte Siona, und es hörte sich so an, als
ob sie ein Gespür dafür besaß, was in ihm vorgegangen
war. Ich liebe sie. Die Worte legten sich auf seine Zunge, schleichend
und zwingend, ohne dass er etwas dagegen tun hätte können. Ihm
war, als ob Hilflosigkeit und Ergebenheit zu gleich auf ein einwirkten,
woraus ein nie gekanntes, unbeschreibliches Gefühl ihn umsponn.
"Ich
liebe dich", offenbarte er in völligem Einklang mit seinen Empfindungen,
jeglicher Vernunft trotzend. Von seinen eigenen Worten benebelt stand
das Höhlenwesen da und wartete auf eine Antwort. Doch es folgte keine
Erwiderung, nur schwermütige Stille. Als sich ihr Schweigen immer
mehr in die Länge zog, dabei zu einer Unerträglichkeit heranwuchs,
erfüllte ihn eine unbehagsame Ahnung, die von jeder verstreichenden
Sekunde weiterhin genährt wurde.
"Was ist mit dir los, habe ich etwas
falsch gemacht?" fragte er unsicher, seine Hände waren plötzlichem,
ängstlichen Zittern anheim gefallen.
"Nein", erwiderte Siona mit
einer Stimme, aus der der Frohmut ihres Wesens völlig gewichen war.
Der Laut ihrer Worte schien mit unlösbarem Kummer belegt zu sein,
den sie verzweifelt zu ersticken versuchte - sie wollte ihm nicht weh
tun.
"Es ist so grausam. Ich verstehe dich, und mir geht es nicht anders.
Aber welchen Sinn hat es, wenn wir für immer getrennt sind? Welchen
Sinn hat eine Liebe ohne Gemeinschaft?" Sie rang nach Atem, ehe sie fort
fuhr: "Ich wünschte, du könntest bei mir sein. Jeder Tag der
verstreicht ohne dass ich dich in meine Arme nehmen kann läßt
mich bitterlich weinen." Sie hielt einen Moment inne. Talib, ergriffen
von dem Gesagten, sah betrübt und trostlos zu Boden.
"Wir können
uns nicht weiter sehen, es würde alles nur noch schlimmer machen."
Mit einem Schluchzen sagte sie, nun fast unhörbar leise: "Aber du
sollst wissen, dass ich dich ebenso liebe wie du mich." Dann fing sie
an, bitterlich zu weinen, ohne dass ihre Selbstdisziplin dem gewachsen
war. Aber... Ihre Worten brachten eine Unwiderruflichkeit zum Ausdruck,
die all seine Einwände zu Staub zerfallen ließ und seine Hoffnungen
darunter begrub. Er war nicht fähig, etwas zu sagen, sein Mund wurde
vom unsichtbarem Siegel der Überzeugung verschlossen, das Siona es
Ernst meine. Er spürte, das dies nicht das war, was sie sich zu sagen
wünschte, doch das es keinen Ausweg gab, der eine andere Entscheidung
zu ließ. Während er sich abwandte wünschte er sich, die
Vergangenheit an diesem Ort abzustreifen. Doch seine Aufrichtigkeit ließ
es nicht zu, sich dieser Selbsttäuschung hinzugeben. Das, was passiert
war, ließ sich weder leugnen noch vergessen. Ich werde nie mehr
so sein wie ich war. Mit einem unklaren Blick, der sich von nun an auf
den Boden heftete, trottete er mit Schritten davon, die nichts mehr von
ihrer gewohnten Stärke besaßen. Sie trugen ihn widerwillig,
aber nicht mehr. Wieder schleppte sich sein überfordertes Bewußtsein
hinter seinem Körper her, kam sich dem Leben ausgeliefert vor wie
jemand, den man für vogelfrei erklärt hat. Irgendwo in der Ferne
klangen Sionas Worte unerschüttlich wieder. Ich bin froh, dass es
Dich gibt.
Erst als er sich in seinem Schlafraum befand, erlebte er bewußt, was geschehen war. Er kehrte an den Ort ihrer Treffen zurück, sah das eben erlebte vor sich dahin laufen wie einen reißenden Sturzbach nach anhaltendem Regen und genauso empfand er es auch: Unaufhaltsam und niederschlagend. Die Reflexion, die nicht realer hätte sein können, löste die innere Barriere, die seine Angst aufgebaut hatte. Der Wasserfall seiner Traurigkeit stürzte auf ihn herab, riß die Last, und alles, was sich in ihm aufgestaut hatte mit sich. Erst jetzt konnte er das fühlen, was er in dem Moment des Abschieds von Siona hätte fühlen sollen. Tief in ihm verstand er ihr Vorgehen, doch auch das half nicht, seine Traurigkeit zu lindern. Unter Tränenströmen, die ebenso unerschöpflich flossen, ließ Talib sich auf seine Knie senken, den zum Boden gerichteten Kopf mit den Händen umschließend. Ich will das alles nicht mehr. Meine...ich bin zu schwach. Alles brach zusammen wie ein Kartenhaus, wie eine von Beginn an dazu bestimmte Illusion. Es mußte ja so kommen. Und dann war es vorbei. Der zeitweilige Frieden des Schlafes holte ihn zu sich.
Es vergingen viele Tage, die nur langsam voranschritten. Schon
nach dem Aufstehen, zu dem er sich ungewohnt zwingen mußte, sehnte
er sich danach, das es bald Abend würde, die Nacht war ihm nun die
Erlösung von seinen Gedanken. Die Zeit, der er früher nicht
zu sättigen war, schien sich in eine träge Masse verwandelt
zu haben, die ihm unerträglich geworden war. Talib war der Zeit müde,
wollte nicht länger diesem von anteilsloser Kälte bestimmten
Dahinströmen ausgesetzt sein. Sein Wunsch, alles möge bald in
Vergessenheit geraten, ging nicht in Erfüllung. Statt dessen präsentierte
sich das, was er am liebsten ausgelöscht hätte, immer wieder
vor seinen Augen, immer und immer wieder auf die gleiche Weise. Dabei
drängte sich ihm mal um mal die Frage auf, ob er etwas hätte
ändern können, wenn er sich anders verhalten hätte. Doch
damit legte er sich selbst nur noch mehr Leid auf, als eh schon auf im
lastete. Selbst während er schlief, suchten ihn Alpträume heim,
die ihn mit einer Vergangenheit qüalten, die nicht zu Schweigen gedachte.
Und so geschah es, dass er manchmal tagelang durch die Gänge
irrte und alles um ihn herum mit stillen Verwünschungen bedachte,
um sich vor dem Schlaf zu retten, welcher sich nun auch gegen ihn gestellt
hatte. Irgendwann fiel er dann kraftlos zu Boden und schlief grausame
Stunden. Er versuchte den Sitz seiner Sehnsucht zu meiden, versuchte jeden
Gedanken auszuschalten, doch sein verbittertes Rennen war vergebens. Es
gab jemanden, dem er nicht entkommen konnte, egal wie schnell einen die
eigen Füße auch tragen mochten.
Am Ende eine langen Tages lag Talib vor dem Höhlensee
und starrte ziellos nach oben. Zwanghaft war er danach bestrebt, seinen
Kopf mit Leere auszufüllen. Sein Leben war ein Käfig. Er konnte
den Gedanken letzten Endes nicht ausweichen, ganz gleich, wie er es auch
anstellte. Aber er konnte es wenigstens versuchen. Als es ihm danach war,
diesen Ort zu verlassen trat er an das Wasser heran, das mit einem seidigen
Schimmer belegt war. Er sah auf das Wasser. Siona! Er konnte ihr Gesicht
ganz deutlich auf der Oberfläche sehen, die den Charakter von Pergament
angenommen hatte. Ihr spitz zulaufendes Gesicht schenkte ihm ein unendlich
weiches Lächeln, dass jedes Unglück von ihm zerrte. Während
er das Grün ihrer glasklaren Augen bedachte, geriet sein Fuß
an das Wasser und zerstörte das sich ihm zeigende Bild. Die Niedergeschlagenheit,
die er für einen Moment vergessen hatte, bemächtigte sich wieder
seiner. Zu dem spürte er den Dolch der bitteren Enttäuschung,
auf eine Illusion hereingefallen zu sein, die er vermutlich selbst erdacht
hatte. Als er wieder aufblickte, traf er ihren Blick. Und ihm wurde klar,
dass die Augen, die ihn da anblickten, nur einem Wesen gehören konnte.
Etwas wie eine stille Botschaft kam in ihnen zum Ausdruck. Ohne zu Zögern,
ganz und gar seiner Eingebung vertrauend, deren Sicherheit mit das Höhlenwesen
einem mal wiedergefunden hatte stürzte er sich ins Wasser. Mit pochendem
Herzen schoß er der Öffnung entgegen, so schnell wie nie zuvor.
Der Strom des Erkennens durchfuhr ihn, er glaubte, das Gemälde seines Seins vor sich ausgebreitet zu sehen. Sein Verständnis erweiterte sich, so wie es schon ein paar Mal geschehen war. Es war die weithin sichtbare Markierung der Punkte, in dem sein Lebens eine Wandlung erfuhr. Hatte er nicht immer nach Harmonie gesucht? Ja. Und jedes mal, wenn er glaubte, dieser ein Stückchen näher gekommen zu sein, offenbarte sich nur noch größere Unzufriedenheit. Eine plötzliche Erkenntnis war in ihm geboren. In diesem Augenblick wurde ihm sein Fehler bewußt: Alles, was er hätte tun können, hätte ihn niemals dahin geführt, wo er sich hin sehnte. Er allein hätte den Einklang der Dinge niemals erreichen können, das letzte Stück des Puzzles hätte ihm immer gefehlt. Siona!, verlangte es ihm auszurufen.
Als er durch den kurzen Tunnel ging, der den Ausstieg aus dem
Wasser mit seinem Ziel verband, spürte er, wie die Aura dieses Ortes
ihn umfing. Die Erinnerungen, die er bisher von sich geschoben hatten,
lösten sich. Er erinnerte sich an ihre Gespräche, die erst dann
ihr Ende gefunden hatten, wenn sie beide unendlich müde waren, und
das so klar, als geschehe es gerade jetzt vor seinen Augen. Ein Lächeln
stahl sich unbemerkt auf sein Gesicht, als er Sionas Stimme und ihrer
bezaubernden Wirkung gedachte, die ihn seit dem ersten Moment an nicht
mehr los gelassen hatte. Er maß die Strukturen der Tropfsteine mit
einem durchdringenden Blick, aber eigentlich sah er sie nicht wirklich.
Hinter all dem stand ein Bild von ihr. Der zuckersüße Klang
ihrer Stimme schien wieder Gegenwärtig zu sein, so als hätten
sich sein Gedankengut zu etwas Wirklichem gefestigt. Talib glaubte in
einer Träumerei zu schwelgen, als er vernahm, wie sie zärtlich
zu ihm sprach: "Ich habe es gewußt. Vom ersten Moment an war mir
klar, das du kommen würdest." Wie ein plötzliches Erwachen ihn
ergriff, schüttelte er den Kopf. In den aufgerissen Augen glänzte
maßloses Erstaunen, dass von der einschneidenden Falte auf seiner
Stirn unterstrichen wurde.
"Siona!", schrie er erleichtert, mit vor Ungläubigkeit
zitternder Stimme. Darauf bedacht, seinen wild rasenden Herzschlag wieder
unter Kontrolle zu bringen, stützte er sich auf den Fels. Mit geschlossenem
Augen atmete er tief durch und verhaarrte in Schweigen, um Ruhe zu finden.
"Es ist wahr...oder? Du bist wirklich da, nicht nur Ergebnis meiner Einbildung?"
Entgegen all seinen Bemühungen, sein aufgewühltes Gemüt
abzukühlen, blieb sein Tonfall unvermindert gehetzt und erregt. Die
elektrisierte Spannung, die sich in fehlendem Atem niederschlug, wollte
nicht von ihm ablassen.
"Wenn ich in der Lage wäre, würde ich
dir jetzt ins Gesicht spucken, um dich von meiner Echtheit zu überzeugen.
Du brauschst nicht länger an Dir zu zweifeln.", brachte sie in dem
Bemühen hervor, ihn zu besänftigen. Antwort zeigte, wie sehr
sie ihn durchschaute. Nur durch ihre Unterhaltungen und Ohren, die auch
eine Wahrnehmung für das besaßen, was hinter dem Gesagten lag,
hatte sie es verstanden, sich Zugang zu seinem Inneren zu verschaffen.
Dieses Innere hatte sie mit einer seltenen Einfühlsamkeit durchleuchtet,
welche selbstständig Einlaß zu Talibs Herzen gefunden hatte.
Doch Talib war immer noch zu sehr damit beschäftigt, seinen wirren
Gedanken ein wenig Ordnung zu verleihen, als das er dies bemerkt hätte.
"Ich wehre mich dagegen, dass zu glauben.", sagte er, immer noch leicht
betaumelt, diesmal etwas beherschter, "Ich wünschte, du könntest
die Freude sehen, die sich gerade auf meinem Gesicht zeigt. Ich fühle
mich verdammt ausgelaugt." Am liebsten wäre er durch die Wand gerannt,
doch leider hinderte ihn seine physische Existenz daran, der Erfüllung
dieses Wunsches nachzukommen. Die Barrikade aus starrem Fels, der von
jeder Emotion unbeeindruckt blieb, zerriß ihm mehr als je zuvor.
Fast hätte er seiner aufsteigenden Aggression hingegeben und sich
die Fäuste an der Wand blutig geschlagen, doch die Sinnlosigkeit
in dieser Tat ließ sein friedliches Wesen nicht zu.
"Talib, laß
uns heute hier übernachten", bat sie ihn auf ihre völlig eigene
Art, die jeden nur erdenklichen Widerstand gebrochen hätte und seine
Anspannung fast vollständig lockerte.
"Ich möchte dass du so
nah bei mir bist wie möglich." Mit fast ironischem Unterton fügte
sie hinzu: "Oh, ich muß ziemlich irrsinnig klingen, schließlich
steht eine massive Wand aus kaltem Fels zwischen uns." Das Lächeln,
das in diesem Moment ihre Lippen umspielte konnte er vor sich sehen, so
als würde sein Blick das Gestein einfach durchdringen.
"Nein, Ich
verstehe das. Es ist eine schöne Vorstellung beim Einschlafen zu
wissen, dass du ganz in meiner Nähe bist." Er legte sich auf seine
geflochtene Unterlage, das Gesicht zur Wand gerichtet. In Dem Gesicht,
dass noch vor kurzem von zerstreuter Aufregung dominiert wurde, war nun
ein ungewohnter Ausdruck von Ruhe zu erkennen, der sich auf sein ganzes
Selbst übertrug. Eigentlich wollte er ihr von seinem Erlebnis am
See erzählen, doch etwas hielt ihn zurück. Ein Gespür verriet
ihm, dass er noch ein wenig Zeit benötigte, um das volle Verständnis
zu entfalten. Mit besonnener, fast gelassener Stimme säuselte er
nur: "Schlaf schön." Nur ein wenig Zeit, sagte er zu sich selbst,
und während dieses Gedankens hatte ihn auch schon der Schlummer überfallen.
In der Nacht wiederholte sich der Traum in dem Garten mit der liebevollen
Botanik. Alles geschah auf die gleiche Art und Weise. Doch als er diesmal
den weißen Teil des Talismans in den Händen hielt, zuckte eine
Erleuchtung durch sein unterbewußtes Empfinden. Die Teilstücke
des Puzzles fügten sich nun reibungslos ineinander. Im Moment seines
Augenaufschlags verstand er, was die Fee des Lebens ihm hatte sagen wollen.
Mit der Wucht eines Donnergrollens nach einem Blitz wurde ihm klar, dass
einzige Hinderniss zu Siona nicht der unbewegliche Fels zwischen ihren
Körpern war, sondern seine in ein alles überlagerndes Gefühl
ausufernde Angst, der er sich nicht gewachsen gefühlt hatte. Dieses
Mal schenkte er der Phantasie das gleiche Vertrauen, was er auch dem entgegen
brachte, was ihm seine Augen zeigten.
Nervös legte er eine Hand auf seinen Mund, wobei er überrascht
feststellen mußte, dass seine Wangen heiß waren wie Felsen
unter einer Sonne. Erbarmungslos überlagerte der rhythmisch hämmernde
Schlag seines Herzens all seine Versuche, ungetrübte Gedanken zu
fassen. Er griff ins Leere. Mit Hilfe seines wieder erneuerten Gleichgewichts
sammelte all seinen Mut, um das auszusprechen, was ihm die Entdeckungen,
welche einer Flut gleich über seinen Geist hereinbrachen, offenbart
hatten. Mit einem tiefen Atemzug füllte er seine Lungen mit Luft,
und sich selbst mit Hoffnung.
"Weißt du, bevor ich hier her kam,
saß ich am Höhlensee. Als ich aufstand, um mich am Wasser zu
erfrischen, sah ich dein Gesicht auf der Seeoberfläche. Als ich es
sah, wußte ich, worin meine Bestimmung lag. Ich alleine bin so wenig,
mein ganzes Leben erscheint mir nun als die Hälfte von etwas viel
Größerem, das ich nicht verstehe. Ich weiß nur, dass
du es bist, der den anderen Teil besitzt. Laß uns an die Oberfläche
gehen. Mein einziger Wunsch ist, dich einmal zu umarmen, mehr nicht. Mir
ist egal, was danach geschieht. Ich will nicht, dass du dies tust, um
mir deine Liebe zu beweisen, es wäre falsch. Aber wenn du so fühlst
wie ich, dann gehe jetzt zum Ausgang deiner Höhle. Vertraue dem Rat
deines Herzen und laß dich von ihm führen."
"Egal wie du dich
entscheidest, es wird nichts daran ändern, dass ich dich liebe."
fügte er hinzu, bevor er sich ohne jedes weitere Wort auf den Weg
begab. Ab jetzt erhielt jeder einzelne Schritt, den er machte, ein Gewicht
der Bedeutung. Seine Gedanken standen still. Er schwamm durch den Tunnel,
gelangte in den Höhlensee, wanderte durch unzählige Gänge.
Ohne Halt zu machen, ohne eine Sekunde von seinem fast schleichenden Tempo
abzuweichen und ohne auch nur einmal den Kopf zu heben näherte er
sich unaufhaltsam dem Ausgang. Ihm selbst war es gar nicht bewußt,
als er sich vor der Öffnung ins Freie befand, durch der tödliche
Schein der Sonne fiel. Andächtig stand er dort.
Er kletterte ins Freie. Der Schein der Sonne schien sich direkt in seine Haut zu bohren, so stechend war der Schmerz, den er empfand. Es war so, als wäre jeder einzelne Strahl, der das Höhlenwesen traf, ein Schwert, dass sein Fleisch mühelos und ohne Erbarmen durchdrang. Durch das gleißend helle Licht geblendet, sah er zuerst gar nichts, doch dann erkannte er Siona vor sich, eine kleine Gestalt ein paar Meter von ihm entfernt. Sie war so, wie er sie sich vorgestellt hatte, und ab nun sein einziger Halt im todbringenden Meer der Vernichtung. Doch dann legten sich all seine Gedanken schweigend zu Boden, unwideruflich verstummt. Was nun geschah, entzog sich der Einwirkung der Vernunft. Dem Leid ihrer von unermeßlicher Pein befallenen Körpers trotzend gingen sie aufeinander zu, nur noch angetrieben von der grenzenlosen Kraft der Liebe. Die Zeit stand still, während ihre Blicke miteinander verschmolzen, einander zärtlich streichelten und sich gegenseitig stützen, um sich vereint ein letztes Mal gegen die Klauen des Todes aufzubäumen. Und dann war da nur noch der Wunsch sie zu umarmen, nichts anderes in seinem Bewußtsein, und ihr erging es ebenso. Die Todesangst verblich zu einer Nichtigkeit in dem Moment, als Talib Siona in seine Arme schloß. Sie legte den Kopf an seine Schulter, während eine Träne des Glücks von ihrer Wange glitt. So fest, wie es seine entkräfteten Muskeln zu ließen, drückte er sie an sich, legte seinen Kopf an den ihren und ließ die Lider über seine Augen fallen. In ihrer Umarmungen verflossen ihre weichen Körper unter dem erbarmungslosen Licht der Sonne zu einem, ihre Seelen taten es ihnen gleich. In der Harmonie ihrer Herzen war jegliche Angst von ihnen genommen. Als sie starben waren ihre Gesichter frei von Spuren des Schmerzes, den sie erfahren hatten, sie spiegelten allein den Segen ihres Beisammenseins wieder, nichts weiter. Und dann war es vorbei.
Mit dem Verlust allen Halts fragte er sich, ob es wieder bloß ein Traum war, Käfig der eingepflanzten Sehnsüchte. Und hoffte auf ein Erwachen, dass ihm lieber war als jede Illusion.
Zwillingshöhlen aus der Retrospektive
Vom jetzigen Standpunkt bleibt ein widersprüchlicher, negativer Eindruck der Geschichte, die mir immer noch viel bedeutet - weil in ihr so viel von mir steckt. Die zweifache Gefangenschaft - im Höhlensystem und ihm selbst - bringt zum Ausdruck, wie ich mich und meine Umwelt zu jenem Zeitpunkt wahrgenommen habe: Eingeschlossen, bedrängt, isoliert. In Talib, der in Einsamkeit geboren wird, ohne jemals seinen Eltern oder andere Höhlenwesen zu begegnen wird offenbar, welches Verhältnis ich zur Einsamkeit hatte. Talib - wie ich selbst - denkt sie sich als naturhaft Gegebenes, als unantastbare Bestimmung, der er nicht entkommen kann. Was ich mir als Unabänderliches hin stellte diente nur als Rechtfertigung dafür, gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, diese zu durchbrechen. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung... Die Angst davor, mich anderen zu öffnen und die Hilflosigkeit ließ mich Einsamkeit in Natur zu verwandeln, in einen Teil meines Wesens, mit dem ich mich zwanghaft zu identifizieren trachtete. Dennoch ist all das keine totale Abfindung mit dem Bestehenden, mit dem Alleinsein: In der Geschichte schimmert immer wieder die Hoffnung auf, ohne die sie selbst nicht zu denken ist. Aber wie auch schon Talibs Blick auf Einsamkeit verklärt ist, ist es die aus Hoffnung erwachsende Utopie erst recht. Der Titel Zwillingshöhlen deutet dies schon an. Siona mitsamt ihrer Welt ist nur sein eigenes Spiegelbild, das abgespalten und dann als Gegenstück verklärt wird. Gegenstück ist sie - nicht nur, aber vorrangig - als weibliches Wesen, von dem ich damals abhängig war, um mich als heterosexueller Junge zu definieren. Eigentlich ist sie mehr eine Projektionsfläche für meine Wünsche als eine konkrete Person - auch so ein typisches Muster, inmitten einer beschissenen Welt alle Sehnsüchte auf eine Person zu projezieren - und sie darunter zu begraben. Auch die romantisch-verklärte Vorstellung von Liebe teile ich heute nicht mehr ...
Ohne Schloss ist der Schlüssel nicht das, was er ist. In mir war die Sehnsucht, der Einsamkeit zu entkommen und auf der anderen Seite die Angst vor der (Selbst-)Öffnung, ohne die es nicht geht. Siona ist das Resultat dieses unaufgelösten Konfliktes: Sie ist das Fremde, welches gar keines ist; das scheinbar Fremde, welches nur das Althergebrachte darstellt. Die Begegnung mit Siona, dem anderen, ist in Wirklichkeit die Begegnung mit dem abgespaltenen Selbst, der Blick in den Spiegel, bei dem Einsamkeit bestehen bleibt. Einsamkeit aufzuheben bedeutet sich dem Fremden zu öffnen - und weil es nichts Fremdes im Spiegelbild - in Siona! - gibt, wird dies zur Unmöglichkeit. Zur sinnleeren Paradoxie. Siona und Talib sind schon eins, bevor sie sich vereinen, weil sie beide nur zwei Seiten der selben Gleichung sind, kann es niemals zur "wahren" Verbindung kommen. Weil nichts Fremdes an Siona ist, kann Talib sie auch nicht kennen lernen. Weil Talib nur sich selbst sucht kann er das Andere nicht finden. Das Licht, das Talib und Siona tötet enthält einen wahren Kern: Der Weg aus der Einsamkeit tut weh. Wie verzweifelt, verkümmert mein Sein war - und ist - wird am Ende unübersehbar: Die Sehnsucht nach dem anderen, dem Fremden wird durch die Angst vor diesem und vor der erforderlichen Öffnung ins Gegenteil verkehrt, dem Wunsch nach dem Bekannten, Althergebrachten. Das Aufeinandertreffen von Siona und Talib hat eigentlich keinen Sinn - beide könnten genau so gut in ihren Höhlen verharren. Hinwendung zum anderen, dem anderen Menschen ist immer auch die Hinwendung zum Unbekannten. Indem Talib nur sich selbst sucht, kann er dieses andere nicht finden - und so bleibt am Ende Einsamkeit als unentrinnbares Gefängnis, als das Unaufhebare. Der Schein trügt. Vielleicht gibt "Zwillingshöhlen" dir doch etwas. Talib und Siona sind zwei Teile eines Ganzen. Es ist widersprüchlich. Da ist ein so ungeheuer schönes Moment: Das Glück darüber, das das andere da ist. Das Ende mutet mir nun wie eine Vorausdeutung an. Die Überwindung der Gefangenschaft in sich selbst, das Hinwenden zum anderen ist schmerzhaft.
Talib fühlt sich nicht ganz; ihm fehlt etwas. Menschen brauchen Menschen.
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