KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN   



Wurmlöcher im Delta-Quadranten

oder: Wie werde ich populär?

Heute ist Demo. Aber niemand geht hin. Ich auch nicht. Doch, es ist eine hochsinnvolle Sache. Man hat wirklich ein schlechtes Gewissen. Aber es funktioniert nicht. Es wird viele politisch "richtige" Reden geben. Womöglich spielt wieder mal die Samba-Gruppe. Kein Kick. Kein Grund, warum nicht jemand anders hingehen sollte.
  Eine Bekannte, die von einer zweimonatigen Tour durch die Schwulen- und Lesben-Szene in San Francisco zurückgekommen ist, erzählt mir, dass dort kein Mensch nach hochsinnvollen Sachen fragt. Das Design der Aktion muss stimmen. Ist es originell? Eine Sache, bei der man dabeisein muss? Theorie und Inhalte gelten eher als Nebensache. Im örtlichen Club steigt die Aktion "Strippen für Chiapas". Auf gar keinen Fall ist das politisch korrekt. Aber es funktioniert. Zumindest in San Francisco.

Das KdW-Prinzip

Ob es "funktioniert", ist dem traditionell-linken Umgang mit Kultur lange nicht so wichtig, wie ob es "richtig" ist. Das traditionelle kulturelle Leitbild der Linken ist die KdW, die "Kultur des Widerstands". Die KdW ist eine homogene, bestimmten unterdrückten sozialen Gruppen (oder gar "Völkern") fest zugeordnete "Kultur", die per se "links" ist und immer auf der richtigen Seite steht. Ähnlich wie den Yeti, findet man dieses sagenumwobene Wesen nicht vor der eigenen Haustür, sondern am besten weit weg: irgendwo in der Dritten Welt, wo die Völker noch im Kontakt mit ihren KdWs stehen und gegen Coca-Cola und Warner Brothers kämpfen.
  So bejammerte der 13. BUKO, 1989 in Hamburg, den mit der "Unterwerfung der Völker (!) der drei Kontinente untrennbar verbundenen Prozess der fortschreitenden Zerstörung der jeweiligen Kulturen. An die Stelle ihrer Vielfalt rückt zunehmend die nivellierende Einheitskultur der westlichen kapitalistischen 'Zivilisation'." In AGs konnte man sich eine "Einführung in die Kultur der Unterdrückten" verpassen lassen, sich vom "Festhalten der mexikanischen EmigrantInnen an ihren kulturellen Gepflogenheiten" unterrichten lassen, kurzum: "die für die Menschen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas viel selbstverständlichere Einheit von Kultur und Widerstand" zu Gemüte führen.
  Nur schade, dass die Betroffenen nicht mitspielen. Die Feststellung der EZLN, in Chiapas gebe es zu wenige Fernseher, wurde mit Irritation zur Kenntnis genommen. Afrikanische Feministinnen, jedenfalls viele von ihnen, wollen auf gar keinen Fall "authentisch" sein und an dem "festhalten", was die eigene autoritäre Gesellschaftsordnung als "afrikanische Kultur" verkauft. In Ägypten sind vor kurzem über hundert Jugendliche verhaftet worden, weil sie in ihren Zimmern (!) Plakate und Platten von Heavy-Metal-Gruppen hatten, was "von den Traditionen der ägyptischen Gesellschaft abweicht". (Soweit weg ist das im "Norden" auch nicht: Großbritannien hat seit 1994 eine Art Anti-Techno-Gesetz; der criminal justice act stellt das öffentliche Abspielen "repetitiver Musik" als Verstoss gegen das Versammlungsgesetz unter Strafe.) Ob die Internat-Bewegung die Protestresolution US-amerikanischer Bands dagegen, von Sonic Youth bis zu Soundgarden, wohl unterschrieben hätte? Kultur als Identität, als verpflichtender Ausdruck einer sozialen Gruppe, wenn nicht gar Gesellschaft, ist ein autoritäres, reaktionäres Prinzip. Das Märchen von den "Kulturen des Widerstands" versucht in der politisch-sozialen Geographie dasselbe, was Huntington in der räumlichen Geographie unternimmt: Zuschreiben, Ordnung schaffen. Wo soziale Bewegungen sich eine "Kultur des Widerstands" stilisierten, war damit ein Dominanzanspruch nach innen verbunden, vorwiegend gegenüber der Jugend und den Frauen, so in der Arbeiterbewegung, der schwarzen Bewegung, den nationalen Befreiungsbewegungen - aber auch in der feministischen Bewegung funktionierte die Vorstellung einer bestimmbaren, "immer richtigen" Frauenkultur als Disziplinierungs- und Dominanzinstrument nach innen.

Postkoloniale Bastarde

Der Gegenspieler von Huntingtons Ordnungsmodell sind keine KdWs, sondern der Postkolonialismus. Die Postkolonialismus-Debatte, deren Konjunktur unter KünstlerInnen und Intellektuellen der Dritten Welt wie auch der schwarzen US-Community noch immer ungebrochen scheint, dreht sich um die Position: "Kultur ist kein Argument". Es gebe keinen Menschen auf der Welt, der nicht gleichzeitig in seinem lokalen sozialen Umfeld und in der Weltgesellschaft lebt, und der logische Ausdruck dessen ist der Mix, die Kultur des Hybriden, nach der keine definierte "Kultur" beanspruchen könne, eine bestimmte soziale Gruppe vollgültig zu repräsentieren. Die "Mythen der Eigentümlichkeit" sind Konstrukt, die Wirklichkeit der ehemals Kolonisierten ist die Mehrdeutigkeit, der Bruch, die Migration und die Diaspora.
  Wem die Ausführungen der postkolonialen In-Theoretiker Bhabha und Spivak zu kompliziert sind, greift derweil zum Klassiker, dem 1961 verstorbenen und seit Beginn der Postkolonialismus-Debatte vielgehypten algerischen Befreiungstheoretiker Frantz Fanon. Fanon hatte bereits in "Schwarze Haut, weiße Masken" geklärt, dass es eine authentische, mit sich im Reinen befindliche Kultur des Widerstands nicht geben kann. Der Kolonisierte lebt mit einer Identität, die ihm zugewiesen wird, einer aufgezwungenen Rolle, einem rassistischen Konstrukt, das sein Leben bestimmt. Der antikoloniale Befreiungskampf oder die persönliche Emanzipation, der Bruch mit der zugewiesenen Identität, führt zu einer Umwertung der Werte, einer Umkehrung der Identität: das Gegenbild dessen anzunehmen, was man gezwungen war zu sein. Dieses Gegenbild bleibt jedoch durch unsichtbare Ketten an die koloniale Vergangenheit gebunden: indem es "Spiegel" ist, bleibt es abhängig. Ob der Kolonisierte sich bemüht, nicht faul, nicht passiv, nicht primitiv zu sein, oder ob er versucht, bewusst anders zu sein, er entkommt nicht der rassistischen Falle: dass er sich so verhält, weil er ein Kolonisierter war, und dass auch die Anderen sein Verhalten vor dieser Folie wahrnehmen, er also ein Kolonisierter bleibt. Die Frau in der Bundeswehr bleibt eine Karikatur, ein Fast-Mann; die "friedfertige Frau" bleibt ein Klischee, ein bloß aufgewertetes Stereotyp. Es gibt keinen Weg nach draußen.
  Der Kolonisierte, so Fanon, muss sich darüber klar werden, dass er ein Bastard ist. Sobald er sich befreit, ist er eine absurde Kreuzung aus Rollenbildern und Identitäten, und er verliert, sobald er Eindeutigkeit versucht. Er muss die alte Ordnung zerschlagen, aber alles was er dafür benutzt, entstammt der alten Ordnung, und seine einzige Chance liegt in der Geschwindigkeit, im Wechsel. Er muss mixen: mal Klischees durchkreuzen, mal Stereotype annehmen und umwerten; er muss widersprüchlich bleiben. Das ist seine Kultur. Seine Identität: die "nervous condition", von der Fanon schreibt. Was er am wenigsten brauchen kann, sind Interpreten, die ihn festschreiben, positiv oder negativ; desto schneller muss er wechseln, um ungreifbar zu bleiben.

Popkultur und Kontrollgesellschaft

Die Unfähigkeit der traditionellen Linken, in kulturellen Auseinandersetzungen auf der richtigen Seite zu stehen (vom Proletkult bis zur sozialdemokratischen Stadtteilkultur, von den KdWs bis zur Propagierung "weiblicher Werte"), war das Thema der "poplinken" Debatte der 90er. Traditionelle Linke bewertet Kultur ungefähr nach folgenden Kriterien: 1. Sind die Inhalte "politisch korrekt", d.h. entsprechen sie explizit linkem Gedankengut? 2. Sind die ProduzentInnen "authentisch", d.h. entstammen sie unterdrückten Gruppen? 3. Sind die Produkte "nicht-kommerziell", d.h. können die ProduzentInnen nicht davon leben und bleiben sie auf ein marginales Publikum beschränkt? Dann ist es gut!
  Gemäß der poplinken Debatte sind alle diese Kriterien falsch. Kulturelle Produktion bildet Inhalte nicht ab, sondern "repräsentiert" Haltungen und Erfahrungen; was sie jeweils repräsentiert, sieht man ihr nicht an, sondern hängt davon ab, was diejenigen damit verbinden, die Teil dieser kulturellen Produktion sind. Repräsentation ist "frei". Ein Musikstil, eine Jeans, ein Turnschuh kann für alles Mögliche stehen. Beauvoirs Feststellung, dass die Befreiung der Frau mit flachen Schuhen anfängt, ist nicht notwendig falsch; aber genausogut ist es möglich, dass flache Schuhe für brave Selbstbeschränkung stehen und Absätze für selbstbewusstes Rollenspiel oder was immer. Man sieht es den Dingen nicht an, es kommt darauf an, welche Bedeutung eine bestimmte Community, eine bestimmte Gruppe oder eine Reihe durch eine Haltung verbundener Einzelpersonen ihnen gerade zuweist; und morgen kann es schon wieder anders sein. Die Idee der "Authentizität" hat enge Grenzen, weil die kulturelle Bedeutung eben nur zum Teil Sache der "Ausführenden" ist, zum allergrößten Teil aber Sache des "Publikums" bzw. derer, die sich darauf beziehen. Der Anti-Kommerz-Wahn wiederum geht in falscher Weise davon aus, das "Business" könne die Bedeutungen bestimmen; aber dies kann es eben nicht. Moderne Massenkultur hat mit Macht zu tun, aber sie bleibt Kultur der "Massen", nicht einfach Manipulation.
  Das Projekt der poplinken Debatte, Vorerkundungen für das Gefühl für eine Kulturrevolution zu betreiben und als Dolmetscher zwischen linken Debatten und den nicht-theoretischen, kulturellen Ausdrucksformen anderer Bastarde zu wirken, hat zur Zeit mit Frustgefühlen zu kämpfen. Das Wort von der "Kontrollgesellschaft" macht die Runde: die gesellschaftliche Tendenz, eine Fülle von (kommerziell aufbereiteten) kulturellen Nischen zur Verfügung zu stellen, in denen sich die Menschen zu Tode amüsieren, bzw. in denen ihr Verhalten auf gruppenspezifische Weise angepasst, kulturell entschärft wird. Auch Pop- und Jugendkultur ist keine KdW, keine sichere Bank, und auch wenn die politische Bedeutung von Kultur nicht von der oberflächlich-expliziten message abhängt, funktioniert sie trotzdem nicht immer.

Revolution und Bedeutung

Dass populäre Kultur nicht progressiv ist, sondern ein Feld, auf dem progressive, bislang nicht-hegemoniale Kräfte Einfluss gewinnen können, wusste man aus antirassistischer und feministischer Perspektive eigentlich immer schon. Für antirassistische und feministische Bestrebungen war und ist das Feld der Kultur wichtiger als das der Ökonomie. Beide sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass eine grundlegende Veränderung der bestehenden Gesellschaft mit "normalen" Mitteln nicht möglich ist. Juristische und ökonomische Gleichstellungspolitik reicht nicht aus, solange die kulturellen Leitbilder, die Vorstellungen von "Normalität", die alten bleiben. Wenn Quotierung durchgesetzt wird, aber der patriarchale Arbeitsbegriff, Leistungsbegriff, Führungsstil und Effizienzzwang intakt bleibt, führt der Weg nur in die "patriarchale Gleichberechtigungsgesellschaft" (Bernhard). Wenn der common sense nicht erschüttert wird, führt gerade die "freie" Presse und die demokratische Auseinandersetzung über rassistische "Skandale" nur zu einem reibungsloseren, "sauberen" Rassismus (Hall).
  Antirassismus und Feminismus kommen deshalb nicht ohne kulturrevolutionäre Praxis aus. Im angelsächsischen Sprachraum wird die antirassistische und/oder feministische Diskussion um Kultur und Politik unter dem Label "cultural studies" geführt. In Großbritannien wirkten schon in den 60ern die New Left Review und das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), an dem u.a. Stuart Hall arbeitete, als motherships der cultural studies. In den USA leistete u.a. bell hooks frühe Pionierarbeiten in cultural politics; heute sind cultural studies an einer Reihe amerikanischer Unis vertreten. In ihren neueren, "postmodernen" Spielarten bewegt sich die Diskussion der cultural studies auf die Position zu, die Ebene des Theoretisch-Rationalen ("Politik") und die Ebene des Emotional-Assoziativen ("Kultur") als gleichberechtigte Formen anzuerkennen, deren Erkenntnisse nicht aufeinander reduzierbar sind (Jordan/Weedon). Kulturelle wie politische Praxis muss sich dann damit auseinandersetzen, wie Verbindung zwischen der Sphäre des Politischen und des Kulturellen zustandekommt, d.h. wie Bedeutung (meaning) hergestellt wird. Eine verändernde Praxis gibt sich nicht damit zufrieden, dass jede soziale Gruppe oder Richtung in irgendwelchen Nischen "ihre" Bedeutungen bekommt, sondern sie will erschüttern und beiseite räumen, was herrschende Bedeutung ist.
  Dafür muss sie die Ebenen von Politik und Kultur, von Theorie und Erfahrung immer wieder zusammenbringen ("We need an electric revitalization of our life force; a reconnection to the world; a heightened conviction that we can change life"; Juno/Vale). Die herrschende Politik ist heute dagegen bestrebt, Kultur und Politik auseinander zu treiben. Offenbar schaffen es Bürgertum, Westen und Patriarchat in der postkolonialen Welt nicht mehr ohne weiteres, kulturell hegemonial zu sein (McClary). Entweder man baut nicht-westliche, aber wenigstens autoritär-patriarchale kulturelle Gefängnisvorsteher in China und Iran auf - wie es Huntington vorschlägt. Oder man versucht die nichtkontrollierbaren kulturellen Unterströmungen als "unpolitisch" einzuhegen, als bloße Lebensart.
  Dagegen von links anzugehen, heißt Kultur und Politik wieder zusammenbringen, heißt Bedeutungen schaffen. Eine solche Praxis muss gemäß der cultural studies zugrundelegen, dass Bedeutung zwar frei, aber nicht willkürlich ist. Wir würden einander sonst überhaupt nicht verstehen können. Dass ein Bild, ein Stil, eine Aktion etwas bedeutet, wird nicht über einen willkürlichen Akt festgelegt, sondern hat einen historisch-materiellen Untergrund. Der Panther des Anti-Rassismus-Büros hat Bedeutung, weil er auf den Panther der "Black Panthers" verweist; und beide Panther funktionieren nur, weil sie eine Verbindung herstelen zwischen einer politischen Vorstellung und den halb- oder unterbewussten Assoziationen zu dem, was ein Panther oder seine üblichen kulturellen Bedeutungen sind. Eine Schildkröte würde nicht funktionieren. Wer Neues ausdrücken möchte, muss mixen; aber er kann nicht irgendetwas zusammenschütten: nur eine bestimmte Mischung funktioniert.

Wurmlöcher im Delta-Quadranten

Dieses "Funktionieren" ist ein Phänomen, das in der Science Fiction als "Wurmlöcher" bekannt ist. Wurmlöcher sind Super-Highways im gekrümmten Raum-Zeit-Kontinuum. Die Voyager wird durch ein solches Wurmloch aus ihrem eigentlichen Operationsgebiet, dem Alpha-Quadranten, in den riesigen, nahezu unbekannten Delta-Quadranten geschleudert. Die Entfernung ist so groß, dass die Rückkehr nach Hause auf normalem Weg mindestens siebzig Jahre dauern würde. Es sei denn, die Voyager findet wiederum ein Wurmloch, das vielleicht zurückführt. Wurmlöcher sind instabil. Sie tauchen auf und schließen sich nach einer Weile wieder. Und man sieht dem Wurmloch am einen Ende nicht an, wo es auf der anderen Seite hinführt.
  Jenseits der Ebene politischer Programmatik und Theorie, dem Alpha-Quadranten, breitet sich also eine andere, riesige Ebene von kulturellen "Bedeutungen" aus, ein unübersichtliches, verwirrendes Universum, in dem individuelle und kollektive Erfahrung, Alltagsbewusstsein und soziale Geschichte, körperlich-sinnliche Qualitäten und biographisch-gesellschaftliche Prägungen durcheinander treiben: der Delta-Quadrant, die kulturelle Zone. Es sind mitgebrachte oder überkommene, aber immer im Fluß befindliche (Vor-)Bedeutungen, vorhandene Kontexte. Auf normalem Weg liegen die beiden Quadranten, Politik und Kultur, ziemlich weit auseinander. Wer sie auf orthodoxe Weise miteinander verbinden will, unternimmt eine ziemlich öde Reise. Aber es gibt Bilder, Ereignisse, Vorfälle, Texte, Aktionen, Stile usw., die eine kürzere, plötzliche, starke Verbindung zwischen beiden Welten herstellen, wenn auch zeitlich begrenzt. Das sind die Wurmlöcher.
  Um zu verdeutlichen, was ich meine, will ich vom eigenen Kontakt mit einem Wurmloch berichten. In den Jahren nach 1995 war ich viel als Reisender in Sachen Nachhaltigkeits-Kritik unterwegs. Das Wuppertal Institut hatte "Zukunftsfähiges Deutschland" veröffentlicht, und die Botschaft der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie wurde massiv verbreitet: Kapitalismus ist kein Problem mehr, wenn wir nur ökologisch aufgeklärt sind und alle ordentlich mittun. Gestützt auf die Arbeiten des Fisch-Arbeitskreises, dessen "Fischbuch" (Zeitgeist mit Gräten) und mein eigenes Buch, die "Ökofalle", nahm ich an vielen Veranstaltungen teil, um darzutun, dass die Welt nicht gerettet wird, nur weil Daimler jetzt "nachhaltig" angebaute Kokosfasern in seine Kopfstützen füllt, und dass die neue ökologische Globalplanung keine linke Utopie sein kann. Irgendwann kennt man alle Argumente, und man hat mit denselben Leuten an unterschiedlichen Orten Pro-und-Kontra-Veranstaltungen gemacht, und es fängt an zu langweilen. Am Abend vor der Volksuni Berlin 1997 kam dann bei Rotwein und Pizza die Geschichte vom Progressiven Alienismus zu mir und sagte: Psst - erzähl' lieber mich! Das machte ich dann auch. Man kann sie inzwischen in "Die Aliens sind unter uns" nachlesen, sie geht ungefähr so: Die Erde ist seit langem von Aliens besetzt, die ein ordentliches Ausbeutungssystem betreiben, alle Natur und Arbeit zu sich raffen und die Menschen kontrollieren. Im Zuge der fordistischen Ära klappt das gut, weil man immer mehr Natur und Arbeit unterwirft, und davon die Menschen bestechen kann, mit denen man arbeitet. Ab Mitte der 70er tauchen jedoch Probleme auf: die Welt ist endlich, das Modell verbraucht sich. Was tun? In dieser zugespitzten Lage erfinden einige findige Aliens das Modell des Progressiven Alienismus. Sie sagen den Menschen, die Erde ist gefährdet, und sie müssten sie retten - aber natürlich nach den Spielregeln der Aliens. Mehr sparen, mehr aufpassen, sich bisschen zusammennehmen, mehr einfügen, und vor allem keine lästigen kritischen Fragen mehr stellen, sondern die Ärmel hochkrempeln und mitmachen. Sie verteilen Zettel: "Es ist fünf vor Zwölf" und "Wir sitzen alle in einem Boot". Sie reden jetzt nicht mehr so platt, entwicklungsgläubig und autoritär. Sie geben sich zivilgesellschaftlich, nachhaltig, einfühlsam, wertebewusst. Aber das Programm ist dasselbe. Nur viel schwerer zu greifen. Und wenn wir morgens im Bett bleiben, statt zur Uni zu gehen, flüstert der Progressive Alienismus in unserem Kopf: "Ist das denn verantwortlich angesichts der ökologischen Krise? Wird dein Wissen nicht gebraucht?" Und wir sammeln die müden Knochen und schleppen uns hin ...
  Die Veranstaltung war ein großer Erfolg, und wir blieben zusammen, die Geschichte vom Progressiven Alienismus und ich. In der Folge stellte ich fest, dass sie nicht nur ein kleines Veranschaulichungs-Bild war, sondern ein richtiges Wurmloch. Die Leute brachten auf den Veranstaltungen jede Menge Sachen mit, die sie durch dieses Wurmloch schleppten. Sie konnten ihre ex-linken Profs, ihre Lehrer (die "auch mal demonstrieren" waren), und viele Andere unschwer als progressive Aliens identifizieren - die heute nicht mehr sagen "Ich bin der Boss, und du hast zu folgen!" sondern "Wir sind hier eine soziale Gemeinschaft, die sich Regeln gegeben hat, und mit deinem unvernünftigen und individualistischen Verhalten fügst du dir und uns Schaden zu, und der Umwelt übrigens auch ..." Die Geschichte entwickelte sich weiter, nahm auf, was ihr erzählt wurde, teleportierte hin und her zwischen der Ebene der Alltagserfahrung, dem Sammelsurium von Erlebnissen, Kontexten und Emotionen, und der Ebene politischer Interpretation. Sie wuchs sich aus zum "Alien"-Buch ("Die Aliens sind unter uns!"), mit dem immer noch gereist wird zwischen Alpha und Delta.

Ableiten ist nicht

Ein Wurmloch wird nicht gemacht: man muss es finden. Das Konzept des Wurmlochs trägt der Tatsache Rechnung, dass Alpha- und Delta-Quadrant einander nicht einfach abbilden. Sie treten in Beziehung, etwas funkt, wird "funky". Wer den Blick dafür öffnet, kann andere Wurmlöcher erkennen, durch die Andere gegangen sind.
  When We Were Kings, der Film von Leon Gast über Muhammed Alis Boxkampf gegen George Foreman in Zaire 1974, handelt davon, dass der eigentliche Fight nicht zwischen Ali und Foreman, sondern zwischen dem kulturellen Konzept von Mobutu und dem von Ali ausgetragen wurde. Mobutu investierte viel Geld in ein Schauspiel afrikanischer Authentizität, das seine Diktatur populär machen sollte. Ali stilisierte sich auch eine "afrikanische" Identität, aber es ist ein anderes Konzept: es ist nicht die alte "negritude", sondern jünger, urbaner, moderner; auf merkwürdige Weise femininer und gleichzeitig politisch-kritischer. Und er war es, der die Stimmung des ganzen Festivals bestimmte. Alis role-modeling findet ein Wurmloch, und dieses Wurmloch verbindet auf merkwürdige Weise Politik, Sport und Spektakel; es verbindet im gekrümmten Raum Vietnam (Alis Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung), postkoloniales Afrika und einen innerschwarzen Generationenkonflikt in den USA. Später, als Ali als Botschafter nach Afrika geschickt wird, ist es nicht mehr da: das Wurmloch hat sich geschlossen. Aber für eine bestimmte Zeit, für ein paar Jahre, funktioniert es.
  Nach meinem Eindruck war die erste Welle feministischer Krimis Ende der 80er Jahre ein echtes Wurmloch. Das Rollenbild der postmodernen Detektivin verband Feminismus und Lifestyle in einer neuen, aufregenden Art und Weise. - Die Wehrmachtsausstellung hätte eine wichtige, aber eher unaufregende Auseinandersetzung werden können, wenn sie nur aus der endlichen Anerkennung historischer Tatsachen durch die bürgerlich-liberale Öffentlichkeit bestanden hätte. Aber sie berührte ein Wurmloch: es verbindet Faschismus, neue "Einsatzbereitschaft" und eine ganz persönliche, alltägliche Angst, für die vor allem die Jüngeren sensibel sind, dass ein gewisser "ziviler" gesellschaftlicher Konsens nach '68 heute aufgekündigt werden könnte.
  Gemeinsam ist allen diesen Wurmlöchern, dass man vorher nicht genau wissen kann, dass sie da sind. Der Delta-Quadrant hat keine Karte. Sie lassen sich nicht aus der Ebene des Politischen ableiten. Man findet sie.

Populär werden

Wer aus den herrschenden Leitbildern ausbrechen will, muss populär werden. Populär werden heißt, die Ebene des Politischen und die Welt der Bedeutungen in Verbindung bringen. Populär werden heißt, durch Wurmlöcher gehen.
  Sich auf ein Wurmloch einzulassen, verändert beide Seiten. Das Wurmloch akzeptieren, auf den Punkt abstellen, wo es in der Alltagserfahrung, in der Welt der kulturellen Kontexte "funkt", verschiebt auch den Punkt, der auf der Seite des Politischen im Mittelpunkt steht. Um es nochmal am Beispiel der Nachhaltigkeit zu zeigen: das beschriebene Wurmloch begann sich mit der feministischen Nachhaltigkeitskritik zu öffnen und trieb uns weiter zur "Morphing Zone" (so hieß ein Artikel von Armin Stickler und mir). Es veränderte auch den politischen Focus. Es verschob die ursprüngliche Bedeutung unserer Kritik ("alles neoliberales Theater") hin zur Wahrnahme einer ganz neuen Zumutung, die die spontane Erfahrung vieler Leute mit der globalen Tatsache einer neuen Ordnungspolitik verbindet. Wir experimentieren weiter mit Wurmlöchern. Ende 2000 organisierten wir in Bremen den ersten Kongress "Out of this world! Science Fiction, Politik, Utopie" (www.outofthisworld.de); im Mai 2002 soll der zweite folgen.
  Wurmlöcher halten nicht lange. Sie schließen sich wieder, tauchen woanders auf. Manchmal kann man sich ein Stück mittreiben lassen. Manchmal sind die Verbindungen, die sie schaffen, totaler Stuss, oder führen völlig in die Irre. Es gibt kleine, private Wurmlöcher, und es gibt große, kollektive, kapitale Wurmlöcher, bis hin zu so legendären, äußerst flüchtigen Wurmlöchern wie dem zwischen Sex und Revolution.
  Die Rechte bemüht sich stets um die Kolonisierung des Delta-Quadranten. Vollständig ist dies nie möglich, aber die Rechte hat viele Raumschiffe. In offener Feldschlacht ist dem nicht zu begegnen. Wer dagegenhalten will, muss durch die Wurmlöcher gehen. Das kann daneben gehen und funktioniert nicht immer. Es heißt, ein Stück Kontrolle aufgeben, die politischen Inhalte ebenfalls ins Fließen geraten lassen. Es heißt anerkennen, dass die Idee der Befreiung immer wieder neu erfunden werden muss. Was immer sich sonst noch gegen den Kurs der political correctness und den sicheren Aufenthalt in der eng ummauerten "Kultur des Widerstands" einwenden lässt - sie sind auf jeden Fall der sicherste Weg, keine Wurmlöcher zu finden.
  Und das ist nicht nur unaufregend, es ist auch politisch falsch. Denn ohne Wurmlöcher kommt die Voyager zwar auch irgendwann nach Hause. Aber es dauert, wie gesagt, mindestens siebzig Jahre, und bis dahin ist die Besatzung aller Wahrscheinlichkeit nach verstorben. An Altersschwäche. Oder an Langeweile.

Literatur:

Der Artikel erschien erstmals in der alaska Nr. 213/214 (Thema: Get lost! Kultur und Kontrolle), Juni 1997; vorliegende Fassung ist leicht überarbeitet, aktualisiert und orthografisch umgestellt.
  Christoph Spehr, Jahrgang 1963, arbeitet für die "alaska - Zeitschrift für Internationalismus" und als freier Autor ("Die Ökofalle. Nachhaltigkeit und Krise", Wien 1996, "Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter", München 1999). Lebt in Bremen. Kontakt: yetipress (ätt) cs.com

  Christoph Spehr