KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN
sich das Leben bewahren pt.1 -
lückenlose Aufklärung als lückenloser Eingriff in unser Leben
wie Phantasie, Denken und Leben in Bücherregalen erstickt wird
Stolz ist mensch über die prall gefüllten Regale in gut sortierten Bibliotheken, kein noch so unscheinbares Thema, welches nicht schon von der Wissenschaft aufgegriffen wurde, um uns zu erklären, wie was läuft. Die Auswahl und Fülle der Bücher soll den Menschen, so das Versprechen, zur Mündigkeit verhelfen. Nun, diese demokratische Sichtweise teile ich nicht...
Lückenlose Aufklärung nimmt den einzelnen Menschen gerade die Räume, in denen autonomes Denken wachsen könnte. Unabhängiges, kritisches Denken kann sich nur da entfalten, wo nichts vorgegeben ist, wo es Schlupflöcher findet, die noch nicht verwissenschaftlicht wurden. Doch die werden immer rarer. Noch die letzen schwarzen Flecken, in denen sich Kreativität, Autonomie nähren könnte, werden hastig überdeckt. Denn überall wo Vorgaben fehlen, droht die Gefahr, dass sich Phantasie, Denken und Leben von Menschen entfaltet und selbstbestimmte Wege findet. Und mit jeder durch verschulte ExpertInnen gefüllten Wissenslücke stirbt eine der wenigen Gelegenheiten, selber zu denken.
Ob Gesundheit, Kindermode oder Beziehungsprobleme - für
jeden Lebensbereich steht mir eine unüberschaubare Menge der passenden
Ratgeber bereit. Auf alles gibt es vorab eine Antwort, nichts darf offen
bleiben, damit bloß erst keine Fragen gestellt werden. Alles muß
klar sein, damit Menschen nicht anfangen, sich selbst zu helfen, selber
zu denken, phantasievoll zu sein.
Erst werden von Wissenschaft Probleme erzeugt, die im Anschluß
von WissenschaftlerInnen in Universitäten gelöst werden: Beziehungskrisen,
die entstehen, weil es untersagt ist, mehr als einen Menschen zu lieben,
werden so zur Chance für Psychologen und andere freundliche Helfer,
sich in unser Leben zu schieben, uns zu therapieren.
Was vom wissenschaftlichen Betrieb aufgesogen wird und in die Hände von ExpertInnen gerät, wird dem Leben und den Menschen entzogen. Es wird kontrollierbar...und das ist gut. Das, was gemeinhin Sexualaufklärung genannt wird, ist wohl das deutlichste Beispiel dafür...
die Verkehrsschilder beachten: aufgeklärt vögeln
Die Unzahl von Broschüren, Büchern und Filmen, die mich und dich darüber aufklären, wie Sexualität funktioniert, wird von vielen LehrerInnen und anderen als positiv, als Ausdruck von demokratischer Offenheit bewertet. Sie sollen einen natürlichen, offenen Umgang mit der eigenen Sexualität fördern. Für fast alle Menschen ist es allerdings immer noch ein unüberwindliches Tabu, öffentlich über das »Sexuelle« zu reden. Und es hat sich auch nichts daran geändert, dass sich für fast alle Menschen ein lustvolles, zärtliches Miteinander (wenn überhaupt...) nur innerhalb der Zweierbeziehung abspielen kann. Der Verdacht liegt nahe, das die Absicht sexueller Aufklärung eine ganz andere ist: Unter dem Vorwand, uns aufzuklären, kann selbst in letzen Winkel unseres Lebens eingegriffen werden, um wirkliches Leben zu verhindern.
Durch diese ach so aufklärerischen Bücher wird definiert, genormt und eingegrenzt, was sexuell ist, wie Sexualität auszusehen und welche Probleme ich und du mit ihr haben sollen: In BRAVO wie in wissenschaftlichen Büchern für den Sexualkundeunterricht steht genau beschrieben, wie's gemacht wird, welche Berührung auf welche folgt. Zuneigung wird in Vorspiel, Verkehr und zur Seite drehen eingeteilt. Und das höchtens zwei Menschen sich lieben können, der Mann in die Frau eindringt und Geschlechtsverkehr für beide ganz toll ist, wird wissenschaftlich fundiert als die Norm bestätigt. Phantasie und Denken werden ausgeschaltet: der Körper, welcher in errogene Zonen mit penibel zugewiesenen Funktionen zerstückelt wird, kann überhaupt nicht mehr entdeckt werden. Die sexualkundigen Menschen wissen über alles bescheid und ihr aufgeklärtes, routiniertes und entfremdetes Durchvögeln läßt nichts mehr frei für eigene, zärtliche und weiche Erfahrungen.
Und Menschen, welche nur noch genormte Berührungen aneinander ausführen und darauf aufpassen, bloß nicht von der festgesetzen Reihenfolge abzuweichen, begegnen sich eigentlich gar nicht. Sie stellen keine Gefahr dar, nichts, was sich nicht berechnen ließe. So wird selbst die nächste Nähe zwischen Menschen, das einander lieben, zur absoluten Ferne entstellt. All dieser Mist macht es fast unmöglich, einen selbstbestimmten, eigenen Umgang mit sich und anderen Menschen zu entwickeln, sich überhaupt noch als Menschen zu treffen - und nicht als Maschinen. Wo von Modestil bis zur intimsten Berührung alles vorgegeben wird, erstickt Phantasie, Denken und Leben.
Bücher lesen...ich bin doch nicht blöd
Von ihren LiebhaberInnen wird zu oft betont, dass Bücher, im Gegensatz zum Fernsehen, schlau machen, zum Nachdenken anregen. Und insbesondere in politischen Kreisen treffe ich immer wieder auf die Ansicht, mensch müsse erst die wichtigen Bücher lesen, um mitreden zu können, um dabei zu sein. Als ob die Lektüre von Marx, Focault oder Emma Goldmann freies Denken ermögliche oder gar automatisch mit sich bringe.
Das Problem sind nicht (nur) die Bücher selbst. Bücher, so wie mit ihnen umgegangen wird, verblöden: Wer sich in ein neues Themenfeld einarbeiten will, meint, sofort etwas Entsprechendes lesen zu müssen, um richtig informiert sein. Denn wer sich nicht auf hochrangige TheoretikerInnen berufen kann, habe keine fundierte Meinung. Und so stürzt mensch sich gierig auf wissenschaftliche Theorien, um sich die eigene Meinung zu bilden. Dabei verhindert gerade dieses Vorgehen, wie es in der Schule eingeübt wird, dass sich überhaupt erst eigene Gedanken auftun, die vom Vorgegebenen abweichen. Es führt dazu, dass mensch sich in kürzester Zeit nur noch in übernommenn, fremden Fachbegriffen bewegt und sich dabei immer mehr vom eigenen Leben entfernt. Und so wird die Gesellschaft kritisiert, von der mensch sich selbst mittels Objektivität und Abstraktion abgeschnitten hat. Mensch sieht sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft, sondern als gänzlich aussenstehend. Die fatale Folgen: Die Frage, wie ich und du unserer Leben verändern können, kann gar nicht mehr gestellt werden. Aktuelles Beispiel: Die wichtige & richtige Debatte über Konstruktion von Geschlechtlichkeit wird so verwissenschaftlicht diskutiert, als beträfe sie uns persönlich gar nicht, als wären wir frei davon. Von Seminaren kenne ich diese Situationen: während abstrakt über die Geschlechterverhätnisse geredet wird, wird das Erzählen eigener Erfahrungen fast völlig vermieden. Die Abstraktion verschluckt alles Konkrete und damit auch mich & die Chance zu Veränderung. Und manchmal scheint es, als wäre dies in sich selbst radikalpoltisch wähnenden Zusammenhängen auch noch gern gesehen.
Anstatt dem keimenden Gedanken die Möglichkeit zu geben, zu wachsen, wird sofort zum Buch gegriffen. Und so wird eigenes Denken bereits im Ansatz erdrückt von ausgefeilten Theorien, die von klugen SpezialistInnen entworfen wurden, die »es schon wissen werden«. Die von vielen gewünschte Angleichung an die vorgegeben Inhalte ist vorprogrammiert und wird ohne jeden äußeren Druck erreicht - na prima. Dabei ist die Voraussetzung dafür, ein Buch hinterfragend zu lesen, schon eigene Gedanken zu haben, die mit den neuen Ideen in eine Auseinandersetzung treten.
Phantasie, Denken, Leben
Als mich ein Mensch vor den Kopf stiess und ich anfing, mir die Frage zu stellen, ob und warum es Geschlechter gibt, was das mit Mann | Frau eigentlich soll, habe ich ganz bewusst darauf verzichtet, meinen Kopf mit der einschlägigen Literatur zu belasten, obwohl es diese im Überfluß gibt wie alles andere. Warum soll ich ein Buch lesen, solange sich meine Gedanken selber aus sich und der Auseinandersetzung mit lebenden Menschen entwickeln? Lesen kann ich immer noch dann, wenn ich nicht weiter komme oder um eigene Gedanken nochmal in einem strukturierten, komplexeren Zusammenhang nachzuvollziehen. Seit dem kenne ich auch wieder die Erfahrung, etwas zu lesen, was ich mir vorher genaus so gedacht habe. Und es ist einfach viel schöner, aus Freiheit zu den gleichen Uberlegungen zu kommen, und nicht, weil mensch die selbe Theorie aus den gleichen Büchern übernommen hat.
Phantasie, Denken, Leben braucht keine sog. wissenschaftlichen Theorien, sondern Freiräume, wo es sich ungehindert austoben kann. Alle, die noch nicht vollends aufgeklärt sind, können sich glücklich schätzen. Jede meiner Wissenslücken ist ein Törchen, um noch eigene Erfahrungen zu sammeln, um Menschen zu begegnen, um selber nachzudenken. Ich werde alles daran setzen, sie vor der Verwissenschaftlichung zu bewahren - und du?
Während ich dies hier schreibe, bin ich ziemlich wütend, was leider nur im Untergrund der Zeilen mitschwingt: Wut, die sich auf die Verwissenschaftlichung des Lebens richtet und die, welche das noch als Aufklärung abfeiern. Ich möchte versuchen zu zeigen, wie tief durch diese Gesellschaft samt ihrer Wissenschaft in mein und dein Leben eingeriffen wird. Wut ist da noch eine eher milde Gegenreaktion...
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