INSIDE VIEW
Japan-Brief V
Tokyoter Mosaik
»Tokyo erinnert uns, dass das Rationale nur ein System unter vielen ist...« (Roland Barthes: Im Reich der Zeichen)
In Tokyo laufen keine zwei Strassen parallel, keine einzelne gerade aus. Außerdem ist der Grund leicht hügelig und um die Orientierung vollends zu erleichtern, gibt es keine Adressen und keine Strassennamen. Du rennst also nicht nur kreuz und quer, sondern auch rauf und runter.
Von einer irgendwie gearteten Struktur keine Spur. Nur soviel: Innerer Ring; der alte Kaiserpalast im Zentrum. Äußerer Ring; die Yamanote-Linie um das Zentrum herum. Reine Fiktion, allerdings.
Tokyo, das ist ein um 180° verkehrtes New York. Die haben hier sogar noch ein WTC rumstehen (was für ein Anachronismus!) und einen Eiffelturm, der ist 30 Meter höher als der Eiffelturm!
In New York ist der öffentliche Raum oversexed bis zum Abwinken. In Tokyo gibt es noch Style, der ohne Sexualisierung funktioniert. Erleichterung.
Ich finde Tokyo nicht hektisch. In dem Sinne, dass es zwar extrem belebt ist und dynamisch und das alles. Aber die Grundgeschwindigkeit des Lebens ist erstaunlich langsam. Die Leute kaufen 1 Kaffee und bleiben 2 Stunden hocken (auch, weil der Kaffee so teuer ist).
New York hat professionelle Kommunikationsmuster - Tokyo ist wirklich freundlich. Wenn Du nach dem Weg fragst (27x pro Tag) begleiten sie Dich ständig bis zum Ziel. Sofort hatte ich dieses Gefühl von Heimkommen. Absurd, in einem Moloch wie Tokyo, but: my kind of town.
Japans Jugend giert nach fremdem Einfluss und will alles wissen. Für Kensuki, einen angehenden Anwalt (ich kenn nen japanischen Anwalt - abgefahren!) war ich der erste Nicht-Japaner, mit dem er in seinem Leben gesprochen hat.
Tokyo ist wahnsinnig eng (12 Mio Einwohner, 22 Mio tagsüber, 25 qm durchschnittl. Wohnfläche), aber exzellent organisiert. Tiptop Nahverkehr, überall Telefonzellen, öffentliche Klos und Infoschalter, Strassenkarten usw. Tokyo works, in jeder Hinsicht.
Die Israelische Schmuckhändlerin, der ich diesen wunderschönen Ganesha-Ring abkaufe, meint: "Sei mir nicht bös, aber was meinst Du wäre los, wenn 12 Millionen Deutsche auf der Fläche von Tokyo leben würden?" Wir wissen es beide. Wir schweigen.
Tokyo ist die Aufhebung des Städtebaus durch die Architektur. Fantastische Zukunftsbauten, aber keine Skyline. Tausend Strassen und keine Stadt. Keine Struktur ist ungebrochen. Chaotisch, aber gut eingespielt und unverwüstlich relaxed, gehorcht die Stadt nur den Gesetzen der ewigen Bewegung.
Selbst im Geschäftsviertel geht plötzlich eine Seitenstrasse links ab, ein Weg, keine fünf Meter breit - und Du rennst durch eine andere Welt. Es gibt Straßenzüge, die erscheinen wie italienische Provinzstädte; verwinkelt, sanft und leise. Der alte Mann in Wendys Burger Bar singt laut zum Ami-Sound seines MD-Players...
Dann Shinjuku: ein Megapartyviertel mit gigantischen Leuchtreklamen, hin und her wogend, Millionen von Menschen, Trubel, Jubel, Heiterkeit, anything goes. Die besoffenen salary men versuchen, dem Bullen heimlich seinen Schlagstock zu klauen, die Mädchen kreischen, die Jungs kreischen, alles kreischt - ganz wunderbar.
Untergekommen bin ich extrem preisgünstig, 300 Euro für 8 Tage. In einem "Gaijin-Haus" in Waseda, einem jener Fremdenhäuser, wie man sie aus den frühen Großstadtromanen kennt.
Und
Typen da!
Der britische Saufkopf schmeisst sich tagsüber in Anzug und
Krawatte und hängt im Finanzdistrikt ab, in Starbucks Coffee. Der vermeintliche
Aristokratensohn aus Bulgarien trägt immer schwarze Lederhandschuhe. Sammelt
angeblich "ukiyo.-e" hier: "Pictures of the floating world". Der Student schreibt
seine Dissertation, das Stipedium frisch verlängert...
Japan erwartet keinen einheitlichen Charakter. Du kannst in jeder Situation ganz verschieden von Dir sein. Sich kennen zu lernen, ist sehr komplex und aufwändig, darum. Ein Traum für Identitätskünstler.
Ich
selber heisse Donna, das japanische Fragewort "Was für ein ... xyz?". 1,2
Ringe pro Finger, bin ich in meiner Heimat ein berühmter Star, zwei Jahre
jünger als bisher gedacht und lasse mich vom Taxi vorm Riga Royal Hotel
abesetzen.
(Die paar Meter bis zum Gaijin-Haus gehe ich dann zu Fuß.)
Es
gibt Dinge, die sind uns in Deutschland verloren gegangen, irgendwo zwischen
Hitler, Wirtschaftswunder und dem Gewinn der WM 1990. In der Strasse laut zu
singen - in Tokyo geht das noch, nur so, aus Freunde, ohne Geld dafür zu
wollen, ein Gruppe von 5 oder 10 Kids.
Mehrstimmiger Gesang.
Der Westen (I): Grob, stinkend, hassenswert! In Ropongi machen G.I.s und europäische "Ex-Patriots" Asien des Nachts zum Puff. Dabei verdienen die Frauen in Japan besser, als fünf G.I.s zusammen. Ein deutsches Arschloch mit Luftwaffenkreuz auf dem T-Shirt - und was macht diese feiste Kegelclubfresse da drüben, hier in meinem Tokyo?
Der
Westen (II): In der Advokates Bar, im schwulen Getto zu Ni-Chome, ein fetter
Typ Mitte 30. Ist Keyboarder für eine Band, die heute echt jeder kennt
(ich kennse nich). Ich frage, bist Du aus den Staaten: "Oh yes, man: Absolutely"
Was ist daran so absolutely, denke ich mir und verstehe: Sein Lover kämpft
als G.I. in Afghanistan für den Weltfrieden!
Clinton: Don't ask, don't tell!
Bush: Don't ask, don't tell - just kill!
Ni-Chome: ein schwules Getto von drei, vier Strassenzügen. Es hat so ein bisschen 50er Jahre Flair. In die meisten Bars kommst Du nur rein, wenn Dich einer mitbringt, den sie schon kennen. Fotographieren undenkbar, an den Strassenecken stehen, ängstlich und frech, die Kids und warten auf den großen Zufall, der ihrer Liebe Beine macht.
Dazwischen das Artifarti, einer der nettesten Läden ever entered. Keine westschwulen Ignorierspielchen, keine Abschleppatmosphäre, keine blondierten Haare, kein Tom of Finland...
Mehr dazu demnächst. Die Frage der Geschlechterverhältnisse ist sehr kompliziert gelagert, und ich bin nicht sicher. Das alles - Coming-Out, schwule Identität, Boy George - ist doch zunächst einmal ein Westprojekt. Aus dem Blickwinkel ist das hier nicht zu begreifen.
So
long
Bye