KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN
Zärtlichkeit
Zärtlichkeit ist etwas grundsätzlich anderes als etwa Sexualität, Hunger oder Durst. Psychologisch gesehen sind Triebe wie Sexualität, Hunger und Durst durch eine sich selbst steuernde Dynamik gekennzeichnet: Sie werden immer intensiver, bis sie ziemlich plötzlich einen Höhepunkt erreichen, wo sie befriedigt werden und der Betreffende für den Augenblick nichts weiter will.
Die Zärtlichkeit gehört zu einer anderen Art von Begehren und Trieb. Zärtlichkeit erfolgt nicht selbsttätig, sie hat kein Ziel, sie hat keinen Höhepunkt und ist nicht plötzlich zu Ende. Sie findet ihre Befriedigung im Akt selbst, in der Freude, liebevoll und warm zu sein, den anderen wichtig zu nehmen, zu achten und ihn zu beglücken. Ich halte Zärtlichkeit für eines der freudvollsten und das Selbst am meisten bestätigenden Erlebnisse, die einem möglich sind. Die meisten Menschen sind auch zur Zärtlichkeit fähig und haben beileibe nicht das Gefühl, dass Zärtlichkeit etwas mit Selbstlosigkeit oder Sich-Aufopfern zu tun habe. Nur für den, der nicht zärtlich sein kann, ist Zärtlichkeit ein Opfer.
Ich habe den Eindruck, dass in unserer Kultur nur noch wenig Zärtlichkeit zu finden ist. Aber wie oft findet man in einem Film einmal wirkliche Zärtlichkeit zwischen den Geschlechtern oder zwischen Erwachsenen und Kindern oder zwischen menschlichen Wesen? Ich behaupte nicht, dass wir nicht die Fähigkeit zur Zärtlichkeit besitzen, sondern nur, dass uns unsere Kultur den Mut zur Zärtlichkeit nimmt. Das liegt teilweise auch daran, dass unsere Kultur zweckorientiert ist. Alles hat seinen Zweck, alles zielt auf etwas Bestimmtes ab, das es zu erreichen gilt.
Unser erster Impuls ist immer, etwas zu erreichen. Wir haben kaum noch ein Gefühl für den Lebensprozess selbst, ohne irgend etwas erreichen zu wollen, nur zu leben, nur zu essen oder zu trinken oder zu schlafen oder zu denken oder etwas zu fühlen oder zu sehen. Wenn das Leben keinen Zweck verfolgt, sind wir unsicher: Wozu ist es dann da? Auch die Zärtlichkeit verfolgt keinen Zweck. Sie hat nicht den psychologischen Zweck, Entspannung oder eine plötzliche Befriedigung zu bewirken wie die Sexualität.
Die Zärtlichkeit hat keinen anderen Zweck, als sich an dem warmen, lustvollen, fürsorglichen Gefühl für einen anderen Menschen zu freuen. Deshalb scheuen wir die Zärtlichkeit. Die Menschen – besonders die Männer – fühlen sich unbehaglich, wenn sie Zärtlichkeit offen bekunden. Und die Frauen hindert der Versuch, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu leugnen, daran, all die Zärtlichkeit zu zeigen, deren sie im Besonderen fähig sind.
Erich Fromm in „Die Kunst des Lebens. Zwischen Haben und Sein“
Anmerkung: Ein sehr schöner Text - bis auf die auffällige Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit am Ende. Indem Fromm aussagt, Frauen seien - quasi von Natur aus - besonders zärtlich, konstruiert er diese als einheitliche Gruppe inklusive einer der üblichen Zuschreibungen.