DER TRAUM VOM BEFREITEN LEBEN   



es hat sich Ausgetauscht. und die (un-)friedliche Revolution im Einkaufsmarkt

»Das Leben der Menschen ist bis ins Innerste durchdrungen vom Tausch, dem Prinzip des Geben und Nehmens, auf dem diese Gesellschaft basiert. Es betrügt sie Tag für Tag um die Beziehung, in der Menschen sich nicht als Dinge begegnen – in der Menschen einAnder wirklich treffen.«

 

Es hat sich ausgetauscht. – Das, was sie in diesen Augenblicken erlebten und alles, was um sie herum geschah, erschien so anders...so wie ein Bruchstück aus einer anderen Welt, wie die vorsichtige Andeutung einer Zukunft, welche noch in weiter Ferne lag...eine Zukunft, welche nicht unter dem Tauschprinzip stand, eine Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr ausgetauscht werden würden. Es war wie das Fenster eines fernen Traumes, das sich für einen kurzen Moment lang öffnete, um ihnen einen kleinen Eindruck seiner unvergesslichen Schönheit zu vermitteln, den sie tief in ihrem Inneren aufbewahren sollten.
 Ja, es war nur ein zaghafter Wink, aber die Hoffnung, die er in ihnen entfachte, war so unglaublich stärker als alles zuvor. Konnte es nun noch ein anders Ziel geben, als den gegebenen Rahmen zu sprengen – um überhaupt erst die Möglichkeit zu schaffen, für eine Welt des Friedens und der (auf-)richtigen Freundlichkeit?
 Das, was war, aufheben, nicht um der Zerstörung und des Chaos willen – wie Menschen den RevoluzzerInnen stets vorwarfen – sondern um das Sein auf einer anderen, menschlicheren Ebene weiter zu führen. Dieser Widersprüchlichkeit hatten sich die Menschen zu öffnen: Altes nieder fegen, um Neues aufbauen zu können, keine sinnlose Vernichtung...not built and destroy.
  “Zerstören und Aufbauen sind nicht voneinander zu trennen,“ sagte sie, “Welchen Sinn hat Vernichtung, wenn sie nicht dem Aufbau von Neuem vorhergeht? Und wie soll Aufbau möglich sein, wenn nicht zuvor Altes zerschlagen wurde? Nur zusammen sind sie...hey, siehst du die Fensterscheiben da drüben – ja, genau die.”
 Viel entscheidender war jedoch dies: Sie waren andere geworden, auch wenn sie selbst sich noch nicht dieser einschneidenden Veränderung bewusst geworden waren.
 Flashback – zurück in die Vergangenheit. Um zu verstehen...to understand.


 

Berührung die beRührt

Das schrille Piepen des Weckers riss Liane aus dem Schlaf, zog ihre spontan hochrasenden Aggressionen auf sich. Arschloch Wecker. Es war kein angenehmes Erwachen, aber das war es schon seit langer, langer Zeit nicht mehr. Sie warf einen flüchtigen, genervten Blick auf das Display. 7:13 stand da in blauen, sie garstig anfauchenden Lettern. Ein unartikuliertes Grummeln. Mit einer raschen, unbeholfen Handbewegung schaltete sie den Weckalarm aus, um endlich dieses – ihre Ohren terrorisierende – Geräusch nicht mehr hören zu müssen, das in all den Jahren zum Inbegriff des fremdbestimmten Lebens geworden war, in welchem sie gezwungen war, jeden Tag um die gleiche Uhrzeit ihren Schlaf zu beenden.
  Es fiel ihr schwerer als sonst, sich zum Aufwachen zu zwingen – vom Aufstehen selbst war sie noch meilenweit entfernt. Einen kurzen Augenblick lang wollte sie sich wieder zur Seite wälzen, die Augen schliessen, weiter schlafen. Und vergessen, einfach so.
  Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster, tasten zaghaft über den mit Schulheften, Büchern und zerknitterten Zetteln gespickten Boden, deren ramponiertes Aussehen ein eindeutiges Zeugnis über deren Bedeutsamkeit ablegte. Nur für wen? Liane ging schon seit vier Jahren nicht mehr zum Gymnasium. Nun, wir werden noch erfahren, um wen es sich dabei handelte.

  Liane drehte sich auf den Rücken, zog die Decke mit dem Elefantenmuster so hoch wie möglich, dachte nach, während ihr Blick den Schnörkeln von – gemalten – Schlangen folgte, die sich über die Urwaldlandschaft an der Zimmerdecke wanden.
  Das Wissen um den Zwang, jeden Morgen aufstehen zu müssen, um die gleiche, stupide Arbeit zu verrichten, zermürbte Liane zusehends, nahm ihr jede Lebensfreude. Mit der Unterseite ihrer Faust schlug sie gegen die Wand, um ein kleines Stück ihres Hasses nach Aussen abgeben zu können. Von dir habe ich jede Menge.
  Der Zwang, der ihr als zweite Natur, als entfremdete Macht gegenübertrat, schrieb ihr den Ablauf eines jeden Tages vor. Unter diesem – sich von allen Seiten heranschiebenden – Druck wurden selbst die ihr gewährten, rar gesäten Inseln der Freiheit, in denen keineR ihr Vorschriften machte, erdrückt, zerquetscht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. In einer Gesellschaft der Herrschaft haftete jenen Luftblasen der Selbstbestimmung etwas Irreales an, ständig waren sie bedroht, zu platzen – peng!
  Seit sie die Schule besucht hatte, seit die anfängliche, verblendete Euphorie der tristen Realität gewichen war (was viel zu schnell geschehen war) und Liane erkannt hatte, was hinter all dem stand, wurde jeder neue Tag durch das Bewusstsein des Zwanges getrübt, das immer Gleiche, durch andere Bestimmte zu tun, tun zu müssen. Und in jedem Aufwachen schwang seither ein Moment dieses Schmerzes mit, der sich in die Tiefe ihres Inneren gebohrt hatte. Wie ein Keil aus Eis steckte er in ihr drin, jener fremde, schmerzbereitende Eindringling. Agressionen, Wut und Hass taten sich in ihrem Inneren zusammen, das Wasser im Topf brodelte.
  Sie drehte sich auf die rechte Seite, um sofort darauf freudig zu erschaudern. Neben ihr lag Tasha, den Kopf ihr zugewandt. Lianes Blick fiel auf braune, verfilzte Haare, während ein warmer Schauer ihr vormals trübes Selbst durchlief und mit Glück ausfüllte. Für sie war es so, als ob ein Vogel in ihrem Inneren anfing, mit den Flügeln zu schlagen und dem blauen Himmel entgegen flog...aber auch das traf es nicht. Es war ein Gefühl, welches sich jeder Beschreibung verweigerte. Sie verstand es selbst nicht, aber es war einfach schön, Tasha beim Schlafen zu beobachten, sie mit ihren Augen zu erkunden und immer wieder neu zu entdecken. Nachfühlen konnte dies nur, wer es selbst erlebt hatte. Einfach schön...ohne es begründen zu können. Will ich das denn?
  Eine durch nichts zu erschütternde Ruhe lag in ihrem Gesicht mit der hohen Stirn – nicht das einzige, was sie an Kindlichkeit sich bewahrt hatte, ständig verteidigt gegen die allgegenwärtigen Bestrebungen ihrer Umwelt, sie zu einer “vernünftigen” Erwachsenen zu machen, einem funktionierenden Rädchen im gigantischen Uhrwerk. Vernünftig, was bedeutete dass schon in dieser Gesellschaft? In den Augen der Erwachsenen, der LehrerInnen bedeutete es, Kinderträume in Poesiealben zu begraben, sich den Sachzwängen der Realität zu beugen, eine ordentliche Arbeit anzunehmen. Sie mochten es in noch so schönrednerisches Blabla verkleiden, aber die triste Wahrheit, die dahinter steckte, konnte sie nicht vor ihr verbergen. Sie bestand darin, sich mit der aufgedrängten Rolle und der beschissenen Welt abzufinden, sich selbst und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufzugeben. Aber es ist eure Definition...und ich will nicht aufgeben. Will...eine vernünftige Erwachsene werden – nein, danke! Schön, dass das bei dir nicht geklappt hat. Fünfzehn war Tasha alt, sieben Jahre jünger als sie selbst – na und? Mich haben sie auch nie ganz gebrochen. Auch sie war in ihrem Inneren stets Kind geblieben...und das einte sie, ohne die vorhandenen Unterschiede einzuebnen.

  Der Anblick des Mädchens, das neben ihr weilte, erfüllte sie mit unbeschreiblichem Entzücken, ließ sie die Last des zu Erwartenden beiseite schieben – vorerst. Allein ihre Anwesenheit schien auszureichen, um die Zukunft vergessen zu machen – um das Hier und Jetzt auzubreiten, zum allein Wichtigen zu machen. Für einen kurzen Moment vergaß sie den Scheiß, in den sie sich Tag für Tag, Woche für Woche begab, widmete sich ganz der Menschin, die neben ihr ruhte. Leben in der Gegenwart...und nirgendwo anders.
  Und Wünsche, die nicht in Worte zu fassen waren. Mit den Fingern glitt sie über Tashas kleine Nase, strich über ihre warmen, breiten Lippen, deren Mundwinkel sich unmittelbar verzogen, ein Lächeln andeuteten, das nicht schöner hätte sein können und Liane ein wohliges Gefühl bereitete. Einen tiefen Atemzug noch hielt sie Inne, um das in ihr kribbelnde Glück auszukosten. Dann stand Liane bedächtig, um die “Kleine” nicht zu wecken, auf und begab sich – nur in Boxershorts und weißem T-Shirt bekleidet – zu dem blauen, mit Sternen versehenen Sessel, auf dessen Lehne sich die Klamotten des Vortages türmten. Sie streifte sich einen schwarzen, viel zu weiten Pullover über, der an den Ärmeln mit roten Bündchen versehen war. Als sie gerade die Hose anziehen wollte, fiel ihr Blick auf Tasha, die sich wie in Zeitlupe im Schlaf räkelte.
  Eine spontan verspürte, innige Lust veranlasste Liane dazu, die Hose zu Boden fallen zu lassen und sich auf das angenehm weiche Sofa sinken zu lassen. Ihre linke Hand verschwand in den unendlichen Weiten der zebrastreifenen Boxershorts. Lustvoll und mit unverkennbarem Wohlgefallen befriedigte Liane sich selbst, dabei unentwegt das – scheinbar – schlummernde Mädchen ansehend – ohne den Blick auch nur den Bruchteil einer Sekunde von ihr zu lösen. Schöne Gefühle strichen durch ihr Inneres hinweg, immer wieder neue Schauer des Glücks, welche in ihr nieder prasselten.

   “Ich habe alles gesehen”, verkündete Tasha plötzlich mit einem breiten Grinsen und hob den Kopf, wobei die zurücksinkende Bettdecke ihren nackten Oberkörper frei legte, der Lianes Interesse unmittelbar auf magische Weise an sich zog. Grüne, verschlafene Augen sahen Liane forsch entgegen. Aber es war mehr als ein Anblicken, eher ein liebevolles Zerren, dem sie kaum stand halten konnte. Oder war es eher eine Frage des Willens? Sie wusste es selbst nicht...und zur Zeit war es ihr auch egal. Denken war nun eine Nebensächlichkeit – obgleich es für sie sonst eine so große Rolle spielte.
   “Du hast mich beobachtet? Und dabei habe ich gerade erst angefangen, hmm”, bemerkte Liane sehnsüchtig und tat auf spielerische Art so, als wäre sie zu tiefst beleidigt.
  Tasha spürte die intensiven Blicke auf sich lasten, die unübersehbare Attraktion und die Anstrengung, die es der anderen bereitete, nicht einfach über sie her zu fallen. Sie genoss diese stille Anerkennung.
   “Ich auch.” offenbarte Tasha ungezwungen, womit sie die kurzzeitige Stille zwischen ihnen durchbrach. Simultan fingen die Mädchen an von Herzen zu lachen, bis Freudentränen in ihren Augen standen. Als das Gelächter allmählich verstummte, fügte sie ein wenig leiser, fast wie ein Säuseln, hinzu: “Das war schön.” Mit bewusster, herausfordernder Offensichtlichkeit zog das auf der Seite liegende Mädchen ihre rechte Hand aus einer tieferliegenden, uneinsehbaren Region...die – leider, leider – von der Bettdecke verdeckt wurde. Liane musste sich ziemlich zurück halten, um der verlockenden Anziehung nicht sofort nachzugeben, obwohl ihr bereits zu diesem Zeitpunkt klar war, dass es passieren würde.
   “Und, wirst du es in der Schule herum posaunen?” fragte sie mit einem Hauch von feiner Ironie.
   “Nun...ich weiß noch nicht”, begann Tasha und kratze sich dabei überbetont am Kinn. Die Ahnung dessen, was nun folgen würde steigerte noch ihre (An-)Spannung, den Spaß, es hinaus zu zögern. Während sie fort fuhr, versuchte sie sich ernst zu geben, aber am Ende konnte sie ein Grinsen nicht verbergen. “Vielleicht überlege ich es mir noch anders, aber nur unter einer Bedingung...”
   “Du wagst es, mir Bedingungen zu stellen...na warte”, ließ Liane im Aufspringen verlauten, hüpfte flugs zum Bett und saß wenig später – auf den Knien weilend – auf Tasha. Das Mädchen mit den braunen, verfilzten Haaren sah ihr mit grünen Augen entgegen, die wie Perlen funkelten. Wenig später hob sie ihren Oberkörper und schmiegte ihren Kopf seitlich an den ihrigen. Ihre geröteten, von Aufregung zeugenden Wangen berührten sich. Angenehm, wie du mein Ohrläppchen leckst.
   “Bedingung erfüllt”, flüsterte Tasha ihr sinnlich lüstern ins – zuvor abgeschleckte – Ohr, legte ihre langen, dünnen Arme um sie und zog die Bettdecke über sie beide. Ausgelassenes, beidseitiges Gelächter und ein wildes Aufwallen der Safaridecke vermittelten nur eine vage Ahnung dessen, was darunter geschah. Nur manchmal zeigte sich flüchtig ein nackter Fuß oder eine Hand, um gleich darauf wieder zu verschwinden.
  Nun, wir wollen nicht zu neugierig sein, oder? Und außerdem will der Erzähler euch genügend Raum für die Phantasie lassen, damit mensch sich den Rest nach Belieben ausmalen kann – auf diese Weise ist es doch viel lustiger...
  Plötzlich, unvermittelt, richtete Liane sich auf, wodurch die Decke nach hinten geworfen wurde und presste Tashas Arme – unsanft – mit ihren Händen flach auf die Matratze. Eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen, die sich schon bald wieder legen würde, zog in Tashas Gesicht ein. Es war nicht nur ein anderer Blick...eine andere Persönlichkeit, welche sie nun auf fast schon hypnotisierende Weise ansah. Du bist eine Andere...geworden, stellte sie in Gedanken fest. Aber nicht nur Liane hatte sich verwandelt.
  Gleichzeitig, ohne Absprache, als Zeichen einer stillschweigenden Übereinkunft, hielten beide inne. Ein tiefes Verständnis lag zwischen den beiden, eines, das keiner Worte bedurfte. Ihre Gesichter, aus denen nun jede Sorglosigkeit gewichen war, nahmen einen sehr ernsten Ausdruck an.
  Sie schauten sich an – ohne sich nur im Geringsten zu rühren. Braune Augen sahen in grüne Augen und umgekehrt, während sich die Tore öffneten, alle Mauern nieder sanken. Ihre sich treffenden, völlig ineinander versinkenden Blicke schienen eine Brücke zwischen einander herzustellen. Nun schien es nichts mehr zwischen ihnen zu geben, nichts, das sie zu trennen vermochte...so fest waren ihre Blicke miteinander verankert.
  In der gemeinsamen Berührung verlor sich das Prinzip des Ich und Du, welches beide zur Isolation verdammte. Liane und Tasha schritten über sich selbst hinaus, überwanden ihre eigenen Grenzen und vergaßen sich einen Augenblick lang selbst. Ich und Du hoben sich auf und lösten das alte Versprechen von Versöhnung ein: die richtige Einswerdung zweier Menschen, ohne diese zu verneinen. Aus der beide verändert heraus treten würden.

Verzeiht diese Unterbrechung, aber der, der dies niederschreibt, hat den überaus persönlichen Wunsch, an dieser Stelle ein Gedicht einzufügen, welches – sAiner Meinung nach – zu diesem Augenblick passt wie kein anderes und das da heisst:

berührung die be-rührt

ein augen-blick in die tiefe,
voll widersprüchlicher intensität:
fesselnd und abstoßend zu gleich.
ein blick, der mich trifft, mich durchdringt,
der eine brücke schafft zwischen
Ich und Du –
das ist berührung.

ein wort, das auf mich abzielt,
an mich adressiert und von verständnis zeugend.
das gesagte, das von dir kommt, selbstoffenbarung enthält,
welche barrieren überwindet –
das ist berührung.

eine hand, die sich auf meine legt,
sanftes streicheln,
das wärme spendet und nähe –
das ist berührung.

berührung ist nur möglich,
wo Grenzen aufgehoben –
imm@ wieder aufs neue.

Aber das, was nach außen hin einen so klaren Anschein hatte, war für die Mädchen überhaupt nicht eindeutig. Denn mit der gleichen Macht, welche in ihnen danach drängte, zur Seite zu sehen, hielten ihre Blicke unermüdlich aneinander fest. Das zerrende Gefühl, dem Blick nicht mehr stand halten zu können, schien jede Sekunde Überhand zu nehmen...und doch konnten sie nicht voneinander ablassen, los lassen. Das, was sie in diesem Moment zusammen erlebten, war bindend und abstoßend zugleich, widersprüchliche Momente vereinend...was sie dies in einer nie geahnten Intensität erleben ließ – ein (Augen-)Blick der totalen Anspannung.
  Dann senkte Liane, einen Umschwung andeutend, ihr Gesicht, um die schwarze Möwe, eintätowiert auf der rechten Schulter des Mädchens, zu küssen. Von der Stelle, wo ihre Lippen Tasha berührten, ging eine Welle des Glücks aus, welche sich in alle Regionen ihres Selbst fort setzte und Ungeahntes an den Strand in ihrem Inneren spülte.
  Auf einmal fühlte Liane sich so unendlich schwach, von allen Kräften verlassen. Langsam sank ihr Kopf zur Seite und legte sich zwischen ihre flache Brust und während Tasha diesen sanft streichelte, schloss sie die Augen – ließ sich fallen. Sehnsucht nach Nähe trat unmittelbar an die Stelle von Erregung, Anspannung schlug um in Entspannung. Wieder war es eine andere Liane, welche da regungslos auf ihr ruhte. Ruhe...eine angenehme Stille, für beide Menschen.
  Während dessen drängten sich ihr Bilder auf, Bilder, die sie bei ihrer monotonen, ermüdenden und todlangweiligen Arbeit zeigten. Nein, nein ich will das nicht. Dunklen Schatten gleich legten sie sich auf das gemeinsame, bis in jede Pore empfundene Glück. Ihr muteten sie wie graue Gewitterwolken an, welche sich vor die strahlende Sonne schoben, die deutliche Ankündigung dessen, was noch auf sie zu kam. Verzieht euch aus meinem Kopf! dachte sie einen Moment, wollte die Bilder zur Seite schieben. Sie hielt sich vor Augen, wie sinnlos es war, es zu verdrängen, weil das Verdrängte sie nur um so unerbittlicher, unerwarteter einholen würde. Keine Verdrängung.
  Der Einkaufsmarkt. Tasha. Das Nebeneinander der sich widersprechenden Emotionen belastete sie, so sehr, das sie fühlen konnte, wie etwas in ihrem Inneren an dem Widerspruch zerbrach. Stechender Schmerz und der Gedanke an einen Teller, der zu Boden fiel und in tausend Stücke zersprung – ein Klirren, welches Schmerz im Trommelfell hinterlässt. Bittere Tränen rannen aus ihren immer noch geschlossenen Augen, über ihre heißen Wangen und auf Tashas kleinen Busen. Im Weinen suchte – und fand – ihre rechte Hand intuitiv die Tashas, welche sie ganz fest umschloss. Ganz fest. Sie spürten ein Gefühl der Verbundenheit, dass nicht so schnell weichen sollte.

  Nicht gehen wollen, schoss ihr als unfertiger Gedanke durch den Hinterkopf. Und da trat wieder dieser Hass auf die Arbeit hervor, die sie wieder dazu zwang, mit sich selbst zu brechen, mit dem, was sie wirklich wollte und was ihr wichtig war. Auf das ganze Scheissystem, wie platt und roh es sich auch anhören mochte. Bei dir bleiben. Wut auf den Zwangszusammenhang und ein Gefühl der Verbundenheit zu diesem Mädchen standen neben einander. Wie Wasser und Feuer...das sich Widersprechende.
  Unvermittelt richtete sich Liane auf. Ihr schwerer, trübseliger Blick traf die Jüngere tief – weil sie selbst sich dafür geöffnet hatte. Nicht zurück geschreckt war sie vor der Identifizierung mit der geliebten Person, dem damit verbundenen Schmerz. Schmerz ist unausweichlich. Aber das junge Mädchen fühlte sich unfähig dazu, dem Mitgefühl in ihr Ausdruck zu verleihen, es war einfach zu viel...viel zu heftig.
  Mit einem zaghaften Lächeln hielt sie der weinenden Menschin den schwarzen Zottelbären mit der roten Schleife hin, welcher bis eben in der Ecke des Kopfendes geruht hatte, um das Geschehen von dort aus zu verfolgen. Den braunen, tiefsinnigen Augen über der weißen Schnauze schien ein unendlich gutmütiger Blick zu entspringen – in ihm lag so eine ungetrübte Lebendigkeit, die in dieser Gesellschaft nur noch bei kleinen Kindern vorzufinden war. Sein Name lautete Zotti.
  Ohne ein Wort, immer noch weinend, verließ Liane mitsamt Klamotten das Zimmer, ließ das Geschehne als solches stehen. Nichts, was sie hätte sagen können, wäre dem gerecht geworden – so dachte sie jedenfalls. Aber es erforderte für sie heftige Überwindung, zu gehen. Es zeriss Liane innerlich, sie zurückzulassen, allein – auch Zotti, wie lieb er auch drein sehen mochte, war da nur ein schwacher Trost. Durch das Schöne wird das Schlechte noch schlechter.
  Tasha sah ihr nicht nach, konnte es einfach nicht, zu ergriffen, zu mitgenommen von der Situation war sie selbst. Mit glasigen Augen, die den Tränen nah waren, setzte sie sich auf und umschloss ihre angezogenen Beine. Sie legte ihren Kopf auf ihr Knie, so als wäre mit einem Mal alle Kraft aus ihr gewichen – machte sich ganz klein, unmerklich fröstelnd.
  Ich will nicht in die Schule. Sie wollte nicht dort hin, weil sie nicht gezwungen sein wollte, das eben Erlebte zu verdrängen. Für das, was zwischen Menschen sein konnte, gab es in den Reihen der Klassen keinen Raum – es wurde kurzerhand in die ach so geschätzte Privatsphäre abgeschoben. Da, wo es nur um Leistung ging, hatte ihre Niedergeschlagenheit nichts zu verlieren – hatte sie selbst, die Persönlichkeit dahinter, nichts zu suchen. Wie so oft musste die Schule ohne ihre Anwesenheit auskommen. Und da, wo es eh nicht um sie ging würde mensch sie auch nicht vermissen. Um zu verarbeiten, was so eben geschehen war, würde sie Zeit benötigen, viel Zeit. Und das würde nicht alles bleiben.

Nachdem sie sich angezogen und hastig gefrühstückt hatte, trat Liane aus dem Haus. Lustlos ließ sie die Haustür hinter sich zufallen und begab sich, zusammen mit Zotti, auf den ihr verhassten Weg zur Arbeit. Ihre Umwelt erschien ihr so monoton, ein Baum glich dem anderen. Alles um sie herum verlor seine Farbe, ging unter in dem einen, tristen Grau. Alles um sie herum war nun nichts als ein riesiger, monolitischer Eisblock – tot. Tot. Das Leben lebt nicht.
  Jeder einzelne Schritt zum Einkaufsmarkt war für sie ein Stück Unterwerfung, ein sich Fügen in den Trott, in den Zwangszusammenhang, der ihr Leben für sich gefangen hielt. Freizeit stellte in ihm nur ein unerwünschtes Anhängesel dar, eine nackte Notwendigkeit, um wieder arbeiten zu können. Auf das der blinde Kreislauf sich ewig weiter drehen konnte. So lange Freizeit an den Zwang zur Arbeit, zur Selbsterhaltung gekettet war, blieb der Traum vom anderen Leben, der in der freien Zeit nur seinen verstellten Ausdruck fand, selbst eine Fessel der Gesellschaft, wie sie war.
  Aber es war ein Einfügen voller Widerwillen, von aufgestauter Wut unterwandert, Energien, die nach Entladung drängten. Ich hasse den Einkaufsmarkt, schoss ihr durch den Kopf und verband sich mit einem Gedanken an Explosionen, die ein bestimmtes Gebäude in jede Menge Schutt und Asche umwandelten. Na so was – und dabei ist Gewallt doch böse.


 

Begegnung.

ohne Begegnung

Sein grüner Kapuzenpullover war kletschnass. Unschlüssig stand Vadim vor der Tür des riesigen Einkaufmarktes, den Kopf leicht nach unten geneigt, nachdenklich. Sein sich im Nichts verlierender Blick verriet seine – anhaltende – Abwesenheit. Inständig stellte Vadim sich die Frage, was ihn zurück hielt, endlich einzutreten, was ihn wie gebannt auf der Stelle fesselte. Keine Antwort, die sich dazu gesellen wollte, nichts, das sein – noch immer andauerndes – inne Halten erklären würde.
 Beim gemächlichen Schlendern durch die FußgängerInnenzone hatte ihn der Regenschauer überrascht und zur Suche eines trockenen Plätzchens getrieben. Ohne bewusstes Ziel vor Augen war er nach einiger Zeit an jenem Eingang gelandet, vor dem er nun seit Minuten regungslos verharrte. Worauf wartete er denn?
 Das beruhigende Tönen des strömenden, beständig nieder prasselnden Regens unterlegte seine Gedanken mit seiner sanften Melodie. Keine Antwort. Wenn ich noch länger warte, bin ich bald nicht mehr von einem Waschlappen zu unterscheiden , hielt Vadim sich vor Augen und traf eine Entscheidung, auch wenn die nagende Unzufriedenheit, keine Erklärung zu haben, weiterhin bestand, gegenwärtig blieb.
 Nachdem er die Tür hinter sich gelassen hatte hielt er erneut an, mitgenommen von dem übergangslosem Wechsel zwischen hier und dort, draußen und drinnen. Er schob die Kapuze zurück unter der braunes, platt gedrücktes Haar zum Vorschein kam, das lange keine Schere mehr gesehen hatte. Deutlich spürbar war ihm der Kontrast zwischen hier und da: der wohltuende Regen auf der einen Seite und auf dieser die bedrückende Wärme und die sterile, beengende Luft, welche er einatmete. An ihr haftete das Attribut des Künstlichen...wie an allem im Inneren des Einkaufsmarktes. Und es behagte ihm gar nicht.
 Die Tür. Die Tür trennte Welten voneinander, deren Unterschiede immer mehr verblassten, zusehends verschwanden. Er besaß die (in-)offizielle Eintrittskarte, die zu mehr als dem bloßen Bestaunen berechtigte. Geld. Die Falle hat zugeschnappt.
 Nahrung aufnehmen wollen, forderte sein hoffnungslos leerer Magen, unbekümmert ob des unvollständigen Satzbaus oder grammatikalischer Unzulänglichkeiten. Diesem Impuls folgend nahm Vadim die Suche nach der richtigen Abteilung auf, um das energisch sich meldende Bedürfnis zu befriedigen. Angesichts der Größe des weitläufigen Areals konnte sich das schwieriger gestalten als erwartet.
 Er schlurfte durch die langgezogenen Gänge des Einkaufsmarkt, ständig umgeben von viel zu hoch aufragenden Regalen, so weit das Auge schaut gefüllt mit vor Selbstbewusstsein strotzenden Waren. Viel zu viel überflüssiges Zeug, viel zu viele bunte Bilder, zu viele Neonröhren, sagte er zu sich und errinerte sich an eine Textzeile von Quetschenpaua, die er in Gedanken nach sang: “Und zieh dir all die Scheiße an, die sie dir da verkaufen, und du darfst dabei auch völlig selbstbestimmt durch die Konsumrennbahnen laufen.” Kein Gang, der den anderen nicht bis ins kleinste Detail glich, nichts vom Anderen sich Abhebendes, an das Errinerung sich hätte heften können. Und dann all die Waren. Keine von ihnen brauchte sich vor den KonsumentInnen herab zu lassen, zu betteln und zu flehen, um gekauft zu werden. Die selbstsichere Verlockung, die von ihrer bloßen Präsenz ausging, bedurfte keiner anpreisenden Worte mehr, war sich selbst die beste Werbung.
 Über Lautsprecher erklang Musik, die sich dezent im Hintergrund hielt. Ein sich unscheinbar gebendes Säuseln, das dennoch penetrant, aufdringlich wirkte. Die vorgebliche Zurückhaltung der Musik spiegelte nur ihre Selbstsicherheit wieder, die sie daraus zog, dass es keine Möglichkeit gab, ihr zu entgehen. Aber auch die süßeste Melodie des Einkaufsradios transportierte nur die eine Botschaft, und so verwandelten sich selbst die sanftesten Pianolinien in seinen Ohren zum metallischen Klirren. Im großen Zusammenhang, in welchem ein jedes nur im Blick auf seine Verwertung wahrgenommen wurde, verkam die schönste Musik zum tonlosen Nichts. Die aussagekräftigsten Worte wurden zum nichts Sagenden. Der Maschine war es gleichgültig...Unmusik.

Vadim bog in den Gang für Naturkost ein, der von den großen KäuferInnenströmen gemieden wurde – aus Angst vor gesunden Nahrungsmitteln, die in den pestizidverwöhnten Mägen heftige Schockwirkungen hervor rufen konnten. Der Schund, den ihnen die verlogene Werbung schmackhaft machte und die Konditionierung auf Zucker, welche schon mit dem ersten Glas Babybrei begann, führte die Abneigung gegen das mit sich, was als gesund galt.
 Er nahm eine Packung mit Feigen aus dem mit Trockenfrüchten, Nüssen und Müslimischungen gefüllten Regal, zögerte einen unscheinbaren Augenblick und kniete sich nieder, um noch einen geeigneten Durstlöscher ausfindig zu machen. Sein Blick wanderte vorbei an Apfel, Orangen und Multivitaminsaft – das war alles nicht das Richtige. Abrupt hielt er an.
 Ein unnachahmlicher Glanz war in seine Augen getreten. Ein Lächeln fand den Weg in sein hageres Gesicht. Kindersaft. Welch wohl schmeckendes Gebräu! dachte er in ungetrübter Freude.
 Seine Augen weiteten sich, seine Aufmerksamkeit schnellte steil nach oben und sein Gesicht nahm den Ausdruck von Verwirrung an, außerordentlicher Verwirrung. Aus allen Wolken gefallene Konfusion...das war es am ehesten. Seine Abwesenheit wandelte sich blitzschnell in äußerste Anspannung um. Umschalten ist angesagt.
 Verantwortlich dafür zeichnete sich das, was die Spiegelung auf dem Glas der Flasche ihm präsentierte: Eine Maus. Auf zwei Beinen. Da war eine Maus, so groß wie ein Mensch...oder ein Mensch im Mäusekostüm. Beides war nicht minder ungewöhnlich und im Grunde genommen machte er sich nichts aus überdimensionalen Mäusen – oder Verkleidungen liebenden Menschen – , so lange sie nicht in seiner Nähe auftauchten. Ein wenig beunruhigend war für Vadim jedoch, dass sie direkt hinter ihm stand und ein arglistiges, vielversprechendes Grinsen aufgelegt hatte. Ich hasse vielversprechendes Grinsen, grummelte ein – sich vernachlässigt fühlender – Aspekt seiner Persönlichkeit. Angestrengt musterte er das kleine Spiegelbild auf dem Flaschenhals, um Einzelheiten zu erkennen.
 Die Maus besaß ein braun-weißes Fell und trug einen blauen, kegelförmigen Hut mit Sternen. Bei sich hielt sie einen Käscher, welcher im Allgemeinen dazu eingesetzt wurde, Fische unsanft aus ihrem Lebensraum zu befördern. Was die Maus im Besonderen mit diesem anzustellen vor hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Die Fische in der Tiefkühlabteilung hatte er noch nie so aktiv erlebt, dass es des Instruments bedurft hätte. Was sollte maus sonst damit anstellen? Eine Kahnung...ups, keine Ahnung.
 Mit den Fingern der rechten Hand trommelte die Maus auf das Holz des Käschers und das dabei entstehende Geräusch überlagerte in seiner Monotonie bald alles Andere, was für Vadim sehr, sehr nervtötend war. Maus, du saugst, dachte er bei sich (obgleich das copyrigt dieses Ausdrucks bei einer schwarz-roten Socke lag).
 Als er sich umgedreht hatte, war die Maus verschwunden. Er war kurz davor, alles als Einbildung abzutun, als eine Mutter und ein Junge an ihm vorbei gingen und sich dem gegenüberliegenden Regal zu wandten. Mit neugierigem Blick, über die eigene Schulter spähend, beobachtete der Sohn Vadim. Auf dessen Starren hin fragte er keck, mit kindlicher, unbelasteter Offenheit: “Du Mutter, warum macht der Mann so große Augen?”
 Sie wand den Kopf nach hinten, warf einen abfälligen Blick auf Vadim. “Komm Peter, wir müssen noch in die Milchabteilung”, äußerte sie dann in bestimmenden Tonfall, nahm ihn mit festem Griff am Arm und riss ihn – nicht gerade unzimperlich – von der Stelle. Ohne Vadim noch eines Blickes zu würdigen schritt sie davon, den verwirrten und verärgerten Jungen hinter sich her ziehend. “Du Mami, warum gibst du mir keine Anwort auf meine Frage?” hörte er den Jungen fragen, der nicht verstand, was mit seiner Mutter los war und warum sie nicht gewillt war, seine Neugier zu befriedigen. Das war mal wieder ein typisches Beispiel dafür, dass in Wirklichkeit die Erwachsenen, welche den Kindern immer das gleiche, stumpfe “sei doch vernünftig” eintrichterten, jene waren, die sich am Unvernünftigsten verhielten.
 Vadim fasste sich mit der linken Hand an die Stirn, schloss die Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. Durch die gespreizten Finger hindurch sah er dem Jungen nach während ein gequält wirkendes Grinsen über sein Gesicht huschte. Er trug eine blaue Schultüte mit schwarzen Sternen (in welcher sich jede Menge leckere – mjam mjam jam! – Lakritze befanden, auch wenn dieser Umstand momentan eine eher nebensächliche Rolle spielte).
 Mit einem Mal fühlte er sich entkräftet und seltsam betaumelt und das, obwohl er mit Alkohol und anderen Drogen rein gar nichts zu tun hatte. Eine große Müdigkeit, welche die Sehnsucht nach Schlaf mit sich brachte, kam über ihn...ein Bett zum hinlegen. Unter jenem Eindruck setze er sich auf den Boden, um sich einen Moment lang auszuruhen. Ohne das er es hätte verhindern können, legte er sich auf den Rücken und starrte die kahle, weiße Decke – weit über ihm – an. Es geschah automatisch, ohne seine Einwilligung.
 Gleichgültig war ihm nun, was all die Menschen dachten, die an ihm vorbei zogen und ihn auf eine Weise ansahen...so wie ArchäologInnen ein neue gefundes Dinosauerierskelett begutachteten. Manche streckten ihre erhärteten Gesichter in sein Blickfeld und zogen sie kurz danach wieder daraus zurück, um sich wichtigeren Angelegenheiten zu widmen, ihr eigentliches Anliegen wieder uneingeschränkt verfolgen zu können. Sie beobachteten ihn ohne wirkliche Regung und mit ebenso viel Anteilnahme verzogen sie sich kurz darauf – ohne jemals in seiner Realität gewesen zu sein, ohne auch nur einen fußweit eingetreten zu sein. Nein, bloß nicht raus aus der eigenen Wirklichkeit, eurer kleinen trauten Welt, die sich zwischen Arbeit und Privatleben abspielt.
 Die Zeit schien langsamer zu werden, so wie ein Karussell, bei dem eine ScherzkeksIn den Stecker heraus gezogen hat, um sich köstlich über die verwunderten Gesichter der momentanen BenutzerInnen zu amüsieren.
 Seine Augenlider drohten sich zu senken. Es rief in ihm eine – weitestgehend unangenehme – Erinnerung aus seiner Kindheit wach: Er lag in einem großen, weißen Krankenbett. Ärzte hatten vor, unsanft an seinem Hoden herum zu schneiden, weil sich seine Samenstränge verdreht hatten – damit er auch weiterhin zeugungsfähig blieb. Wie bereits vor der Operation an seinem gebrochenen Arm hatte er bis zum Letzen versucht, wach zu bleiben, ohne dass sich rechter Erfolg eingestellt hatte.
 Der Wille war stark...aber die Narkose war stärker – gewesen. So wie gerade in diesem Moment, nur dass mensch ihm keine Spritze verabreicht hatte. Einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Undurchdringliche Schwärze...wie ein – soeben niedergesunkener – Vorhang. Fragte sich nur, was die nächste Szene für ihn bereit halten mochte...

Eine Phantasie. Sein Bewusstsein verließ den angestammten “Standort,” stieg auf und so eröffnete sich ihm die Möglichkeit, alles aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Aus der Vogelperspektive konnte er auf seinen ruhenden Körper herab sehen. Sich selbst von Aussen sehen war nun wahr geworden. Ausgestreckt lag er da, ohne dass ihm eineR Beachtung schenkte. Wo waren die anderen? Trotz seines alles überragenden Betrachterstandpunktes konnte er weit und breit keine Menschen entdecken.
 Da waren nur Billardkugeln, so groß wie...äh, große Billardkugeln. Olivgrüne, blaue, rote und gelbe Kugeln bewegten sich durch die Gänge, etwa einen Meter über dem Boden schwebend. Und dabei erweckte ihr Verhalten einen erstaunlich zielgerichteten Eindruck. (Na gut, bei Billardkugeln war so ziemlich alles erstaunlich...)
 Ihre glänzenden, blank polierten Oberflächen warfen das Lampenlicht umwendend zurück. Wenn eine Kugel eine andere traf, was nicht selten geschah, prallten diese voneinander ab, in andere Richtungen davon berstend. Kugeln, die einander auf diese Weise begegneten oder nebeneinander her schwebten, gaben ein monotones Quiecken von sich, mit welchem sie sich zu verständigen schienen. Viel zu sagen hatten sie sich nicht.
 Fast alle Kugeln schoben bis oben hin beladene Einkaufswagen vor sich her und neben jeder schwebte eine anhängliche Geldbörse, die jeder ihrer Bewgungen folgten. Nur eine schwArze Kugel bildete in diesem Zusammenhang eine Ausnahme. Anscheinend gab es auch unter Billardkugeln solche, die sich die gewünschten Dinge ohne den Umweg der Bezahlung “aneigneten,” ein schwArzes Schaf, sozusagen. Wie all die Sachen in die Einkaufswagen gelangten oder wie die Billardkugeln an der Kasse bezahlten wagte er sich gar nicht erst auszumalen, da er insgeheim befürchtete, von Kopfschmerzen oder Schlimmeren befallen zu werden.
 Und dann bemerkte er eine alte Bekannte. Eine menschengroße Maus mit spitzem Hut, die sich durch die Gänge bewegte. Nein, nicht eine! Mehrere menschengroße Mäuse mit spitzem Hut, die sich durch die Gänge bewegten – eine war nicht von der anderen zu unterscheiden.
 Von hinten schlichen sie sich an die Kugeln an, um ihnen im nächsten Augenblick mit dem Käscher das Portemonnaie zu stibitzen und unter ihrem dichten Fell verschwinden zu lassen. Aber was mochten Mäuse mit so vielen Mäusen anstellen? Einmal mehr fand er keine Antwort. Wird das nun ein Dauerzustand?
 Sein Augenmerk verlagerte sich auf eine rote, sich schnell fort bewegende Kugel und zuerst konnte er sich nicht erklären, warum. Schlagartig leuchtete ihm der Grund ein: Sie rollte auf ihn zu...besser gesagt auf seinen regungslosen Körper, auf den er von oben hinab sah, und dass auf direktem Wege. Nur noch wenige Meter war sie von ihm entfernt und es sah nicht danach aus, dass die Kugel es sich anders überlegen würde...und trotz der momentanen Trennung ging er nicht davon aus, dass das Leben mit einem geplätteten Körper seinem gewohnten Lauf folgen würde.

  “Nein!” Er nahm noch das schrille Echo seines Schreis wahr, während er unsanft in den alten, gewohnten Zustand zurück kehrte, Schweißperlen auf der Stirn spürend.
 Er öffnete die Augen und sah ohne Umwege in das Gesicht eines kleinen, aufgeweckten Mädchens, dass vor ihm stand. Interessiert musterte es ihn. Explosionsartig schrak er hoch und fragte betaumelt: “Ähm, bist du auch Teil meiner Phantasie?”
  “Ich glaube nicht.” erwiderte sie selbstbewusst, wand sich von ihm ab und rannte leichtfüßig davon, ein Liedchen singend, das ihm nicht bekannt war. Das Mädchen trug eine blaue Schultüte mit schwarzen Sternen.
 Verdammt. Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich wieder zurück sinken. Kann ich nicht einfach wieder ihn Ohnmacht fallen? Nachdem sein Wunsch nicht erfüllt wurde fing er sich wieder und stand auf. Mit Kindersaft und Feigen, die er vom Boden aufgehoben hatte, schritt er davon. Zielstrebigen Schrittes begab er sich auf den Weg in Richtung Kasse, ohne dass ihm selbst verborgen geblieben wäre, dass es sich um eine Flucht handelte – aber wovor?
 In der Nähe der Milchabteilung holte ihn die Phantasie, die er längst abgeschüttelt zu haben sich wähnte, ein – oder die andere Realität, welcher er bisher konsequent aus dem Weg gegangen war. So sicher war er sich da nicht...nicht mehr. Augenblicklich erstarrte er, verlor die Kontrolle über sich und konnte so nicht einfach weg sehen oder die Augen schließen.
 Eine grüne Billardkugel verweilte vor dem Kühlregal und schien in der Konzentration auf eine große amerikanische Pizza völlig unter zu gehen. Von hinten schlich sich die diebische Maus an, langsam, aber unmerklich näher kommend. Vorsichtig hob sie den Käscher, zog diesen nach hinten – und viel zu spät verstand der gelähmte Vadim, was hier vor sich ging.
 Ohne einen weiteren Gedanken lief er los. Er hatte nicht einmal genügend Zeit, sich darüber zu wundern, dass seine Beine nicht mehr eingefroren waren. Mit langen Schritten hastete er auf die Kugel zu.
  “Passen sie auf, die Maus will ihnen ihre Geldbörse klauen!” schrie er verschroben, gehetzt, während er sich zwischen Maus und Kugel drängte. Atemlos blieb er stehen und schnappte nach der schweren Luft, in der Sauerstoff nur schwach vertreten war.
 Die Phantasie endete und bot so der Realität die Möglichkeit, sich auszubreiten. Im Gegensatz zu seinen Erwartungen fand er sich zwischen zwei Menschen wieder. Da, wo sich vor einer Sekunde noch eine grüne Kugel befunden hatte, kauerte nun eine ältere, durch sein Eingreifen sichtlich eingeschüchterte Frau. Aus entgeisterten, verschreckten Augen, die sich hinter dicken Brillengläsern verschanzt hielten, fixierte sie Vadim.
  “Kommen sie schon”, sagte der Verkäufer im weißen Mantel und schob Vadim unsanft beiseite, die alte Frau beschwichtigend anlächelnd. Er schüttelte den Kopf und mit freundlichstem Tonfall, der sich so verriet, fuhr er fort: “Ich wollte der werten Dame doch nur erklären, wo sich die Haustierabteilung befindet, damit sie neues Streu kaufen kann.”
   “Für ihre Mäuse”, dachte Vadim laut. Auf seinen Ausrutscher hin starrten ihm die verdutzen Gesichter zweier – temporär handlungsunfähiger – Menschen entgegen. Die noch anhaltende Sprachlosigkeit der beiden nutze er, um in aller Ruhe nachzudenken. Erst jetzt realisierte Vadim die eindeutige Abneigung, die er dem Verkäufer von Anfang an entgegen gebracht hatte und dies noch immer tat. Warum nur? Seine Vernunft konnte ihm nicht sagen, woran es lag, es war nur so eine Ahnung. Aus den Taschen des Verkäufers weißen Mantels floss dunkelrotes Blut herab und tropfte auf den Boden, wo sich mit der Zeit eine ansehnliche Lache bildete.
 Der Verkäufer bedachte Vadim mit einem abweisenden Blick und wand sich dann der alten Frau zu, der er wild gestikulierend den Weg wies. Danach schob diese sich an Vadim vorbei, als ob er nicht existieren würde. Verwundert blickte er sich um, hörte die davon schleichende Frau leise vor sich her murmeln: “So was, so was...?”
 Nachdem er in die Hocke gegangen war strich er, ohne vorheriges Nachdenken, mit dem Zeigefinger durch die kalte Blutlache und kostete vorsichtig. Es schmeckte nicht wie Blut sondern wie...Kindersaft. Kindersaft. Dicht hinter seiner Stirn bildeten sich Fragezeichen aus einer pompösen, grauen Nebelwolke. ? waren alles, was er in diesem Augenblick zu denken vermochte. Wenn mein Blut genau so schmeckt, dann sollte ich es tunlichst vermeiden, mir eine Wunde zu holen...
 Der Verkäufer, hey! holte er sich eigenhändig aus seinem nAbschweifen zurück. Den Verkäufer hatte er ganz vergessen. Vadim streckte sich vor, um den Gang einzusehen, in den sich der Verkäufer – ohne sein Aufsehen zu erregen – fortgeschlichen hatte. Gerade noch erkannte er, wie dieser in einer Tür verschwand. Er zog einen langen, nackten Schwanz hinter sich her, der dem einer Maus sehr nah kam – beänstigend nah, oder?
 Die Tür war verschlossen, wie Vadim feststellen musste. In fetten schwarzen Buchstaben stand da geschrieben: BADESANDALEN NICHT VERGESSEN. Er drehte sich um und dachte nur: Ah...so.

Auf dem Marsch zu den Kassen kam er an der Spielzeugabteilung vorbei. Zwischen Teddybären, kleinen Elefanten, Nilpferden, verschiedensten Äffchen, schwarzen Katzen, Hasen und Igeln lugte eine beige Plüschmaus hervor, die ihn aus friedlichen schwarzen Knopfaugen zu beobachten schien. Ihr Bild setzte sich in seinem Gedächtnis fest, blieb erhalten – auch wenn sein Blick das putzige Stoffnagetier nur flüchtig streifte.
 Ohne erneute Unterbrechungen gelang es ihm, sich den Weg zum Eingangsbereich zu bahnen. Hinter eine Schlange vor Kasse 37 schloss er sich an. Vor ihm standen ein älterer, fein gekleideter Herr und eine Punkerin, die sich ohne jeden Zweifel gern hatten. Aber zur Zeit interresierte ihn die Beziehung der beiden nur äußerst peripher – aus verständlichen Gründen.
 Endlich bot sich ihm die ersehnte Pause, um sich zu beruhigen und anzufangen, das Geschehene zu verarbeiten – wenn das denn möglich war. Vadim kehrte in sich, vergas das, was um ihn herum geschah. Hey, das funktioniert ja wirklich! staunte er nicht schlecht. Ein imaginärer Gasbrenner fand den Weg in seine – mentale – Hand. Unter der starken Hitze tauten die Erinnerungen, jene Konservendosen der Vergangenheit, in seinem Gedächtnis auf und durchfluten sein Bewusstsein. Nachdem er das ausgiebige Kraulen eine bestimmten Körperteils beendet hatte, holte er tief Luft und tauchte ein – rein metaphorisch natürlich. Eine menschengroße Maus, die hinter meinem Rücken erscheint – und verschwindet, als ich mich umgedreht habe. Noch mehr Mäuse, die schwebenden Billardkugeln ihre Geldbörsen stehlen. Und überall diese blauen Hüte mit schwarzen Sternen. Nein - ich will nicht verrückt werden...noch nicht. Und vor allem frage ich mich, was es mit BADESANDALEN NICHT VERGESSEN auf sich...hat.
 Ohne Vorwarnung wurde er aus seiner Nachdenklichkeit heraus gerissen und in die Realität gezerrt. Hey, lasst mich los! ließ eine innere Stimme verlauten.
  “Guten Abend.” grüßte die Verkäuferin mit freundlichem Lächeln, ihn dabei nur hastig anblickend. Aber ihre Worte klangen mechanisch, so als spulte sie ein nigelnagelneues Tonband ab. Ihre Freundlichkeit, ihr Lächeln, jede Bewegung ihrer Gesichtsmuskeln war berechnend – im Preis inbegriffen. Gespielte Wärme, gekünstelte Freundlichkeit. Und deshalb so voller Kälte...so wie der frostige Schauer, der über seinen Rücken lief und zurück. Kälte.
 Sie zog die Packung Feigen über den Infrarotsensor, während Vadim sie beobachtete. Ihr schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel ihr über die Stirn, mit der rechten Hand strich sie eine Strähne hinter das Ohr zurück. Ihr Gesicht war ohne jede Regung, so dass seine Blicke davon abperlten wie Wasser von einem Apfel, der mit einer dicken Wachsschicht überzogen ist. Sie fanden einfach keinen Halt...nein, sie sollten keinen finden. Unmut stieg in ihm auf wie Nebelschwaden. Auf der Suche nach Äußerem, dass ihn davor bewahrte, sich mit dem unruhigen Inneren zu beschäftigen, blickte er unbewusst bewusst auf das Display.
  ES GEHT NICHT UM DICH, flackerte da in eckigen, blauen Buchstaben auf. Was sagst du da, Kassendisplay? Ein Zwinkern später zeigte es nur noch das an: 4673 500g Feigen 4,99 DM.
 Eine Phantasie. Die Kassenschublade sprang – ganz von allein – auf, so als hätte sie ein plötzliches, geheimnisvolles Eigenleben entwickelt. Aus dem dunklen Inneren streckte sich ihm ein einzelner, dürrer Arm entgegen. Die fordernd aufgehaltene Hand mit den langen, wie Krallen anmutenden Fingernägeln schien nach seinem Geld zu lechzen, widerte ihn an, gab ihm das Gefühl, erbrechen zu müssen. Doch es kam alles ganz anders...
nbsp;Die Hand fiel ab, sauber abgetrennt – nur noch über ein Kabel mit dem Arm verbunden. An der Schnittstelle am Unterarm leuchteten bunte Dioden auf und immer wieder zuckten winzige Blitze hervor. Das Leben lebt nicht, jener Ausspruch Adornos schoss ihm durch den Kopf. Und er passte sich ein.
  “Achtmarkachtundneunzig.”
Er schüttelte die Phantasie ab, irritiert, ohne sofort zu reagieren. Mit seinem Blick traf er den der Verkäuferin – ohne sie zu treffen. In ihren abweisenden Augen erkannte er nur die Spiegelung seiner selbst. Es gab keine Berührung. Doch in der Art und Weise, wie die Verkäuferin ihn ansah, glaubte er undeutlich eine Sehnsucht zu erkennen, das Aufblitzen eines stillen, unausgesprochenen Klagelautes. Nur so ein Gefühl. Oder war es nur Projektion?
 Apathisch reichte er ihr den zerknitterten Zehner, welchen er aus der rechten Hosentasche gezogen hatte. Seine Hand war kalt und feucht, er schwitzte. Während sie das Wechselgeld aus der Kasse zusammen suchte, betrachte er nochmals das Display. ES GEHT NICHT UM MICH.
 Mit fragendem Blick nahm er das Geld samt Kassenbon entgegen, doch die ersehnte Erwiderung blieb aus. Es gab ihm das Gefühl, abgewiesen worden zu sein. Abgewiesen.
  “Auf Widersehen.” sagte Liane, die Verkäuferin, zerknittert, an der das Ganze nicht einfach so vorübergegangen war, wie es für Vadim den Eindruck erweckt hatte – und es fiel ihr schwer, dies nicht zu zeigen. Auch sie hatte es gespürt...und es bedeutete ihr etwas, so viel, dass sie ein langes Gespräch – bis tief in die Nacht – mit Tasha führen würde, bevor es ihr möglich war, erschöpft in den Schlaf zu sinken. Doch auch damit würde es für sie nicht erledigt sein.
 Ohne einen Blick zurück zu werfen verließ er die Kasse, begleitet von der schmerzlichen Gewissheit, dass auch der Abschiedsgruß nur leere Form war. Ein Teil der Gleichung, in der er und sie nicht vorkamen, da sie einander als bloße Instrumente begegnet waren, Dinge. 8,98 war nur der oberflächliche Preis – womit er wirklich bezahlt hatte war die Auslöschung jeglicher Beziehung, in der das Andere nicht Mittel war, Ding zum eigenen Zweck. Sie ist nur der verlängerte Arm der Kasse und ich nicht mehr als der Träger von Geld, materialisertem Wert. Warum?
 Als er die Tür des Einkaufsladens hinter sich gelassen hatte, atmete er tief durch – ohne echte Erleichterung zu verspüren. Jenes bedrückende Gefühl der Einsamkeit, das ihn während der gesamten Begegnung begleitet hatte, drängte nun alles andere in den Hintergrund.
 Nach diesem Erlebnis fühlte er, was Entfremdung war: Er war ihr begegnet ohne ihr, diesem Menschen zu begegnen. Ja, oberflächlich gesehen war er mit ihr aufeinandergetroffen, aber eben durch die Umstände wurde ein Aufeinandertreffen zum Unmöglichen. In der nächsten Nähe waren sie sich absolut fern geblieben, bestand eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen. Es war eine Begegnung, die sich selbst negierte – und eben dieser Widerspruch war es, der ihn so mit nahm.
 Es war so einleuchtend. In der falschen Hochglanzkonsumrealität war keine Begegnung vorgesehen, nichts, was das Fliessen von Geld auch nur einen Moment lang unterbrechen konnte. Aber Trost spendete dieser Gedanke nicht – aber vielleicht war Trost zu diesem Zeitpunkt auch nicht das der Situation angemessene Gefühl.
 Niedergeschlagen trottete er davon, wieder einmal zurückgeworfen auf sich selbst...allein, nicht ahnend, dass es noch eine Person gab, der es zur Zeit recht ähnlich erging. Nicht allein sein wollen. Aber wie ausbrechen? Verzweifelung.


 

Das Mädchen mit den verfilzten Haaren kauerte in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, als sie das Zimmer betrat, vor einem Teller mit Nudeln, auf den ihr durchdringender Blick gerichtet war. Nachdenklichkeit und Abwesenheit war das, was sie umgab, aus dem Innersten heraus drang, in welches sie sich zurück gezogen hatte. Es dauerte einen langen Moment, bis sie aus ihrer inneren Versenkung in die Welt vor ihren Augen fand und, nicht ohne Überraschung, fest stellte, dass sie nicht mehr allein war – nicht nur im räumlichen Sinne. Als Geschenk bedachte sie das eingetretene Mädchen mit einem warmen, gutmütigen Lächeln, in dessen Schönheit sich die sich erfüllende Sehnsucht nach der Anderen wieder spiegelte.
 Es folgte eine Phase des gegenseitigen Abtastens mit Blicken, so als begegneten sie sich gerade zum ersten Mal – und dieser Umstand war ihnen nichts Unbekanntes. Das war etwas, was eine lebendige Beziehung auszeichnete, dass sie einander trotz der Vertrautheit noch Neues, zu Entdeckendes waren – dass sie immer noch nacheinander suchten. Die tiefer gehende Beziehung ist stets eine Werdende.
 Das Aroma der selbstgemachten Tomatensauce, das in der Luft lag, erinnerte Liane an ihren eigenen, ungestillten Hunger. Und erst zu diesem Zeitpunkt kam Liane zu Bewusstsein, wie außer sich vor Freude sie darüber war, sie wieder zu sehen, auch wenn sie nur für Stunden getrennt waren. Die Atmosphäre zog sie fest an sich und sogleich begann sie, wieder in jene Realität einzutauchen, aus der sie am Morgen schweren Herzens ausgetreten war.
 Sie setzte sich auf den Boden, ein wenig entfernt von der Anderen und streifte geschmeidig den schwArzen Pullover ab. Mit ausholender Stimme sagte Liane: “Als ich eben hier eintrat, da hatte ich das Gefühl, nie weg gewesen zu sein. So als ob ich überhaupt nicht im Einkaufsmarkt gewesen wäre. Da war und ist eine ziemliche Freude, dich zu sehen, wieder zu sehen – ja. Und gleichzeitig kam es mir so vor, als würde ich zum ersten Mal auf dich treffen. Und es ist immer noch so. Eigenartig.” Nachdenklich sah sie zu Boden, horchte ihr Inneres ab, mit dem sie nicht die Verbindung kappen wollte. Ohren, die nach innen gerichtet. Bedürfnis. Wieder zog es sie, sie anzusehen, drängte es in ihr danach, den Blick zu heben. Doch sie traute sich nicht, die Angst vor dem ersten Schritt, der jeder Berührung vorher ging, hielt sie zurück. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und Knöchel traten weiß hervor. Es regte sich Widerstand, wieder standen sie da...widersprüchlich. Wollen und nicht wollen.
 Und dann sahen sie sich an, elektrisiert wie beim ersten Mal. Spannungsgeladen. Jedes Wesen, welches es nun gewagt hätte, zwischen die beiden zu treten, wäre ob der geballten Intensität des Blickes dahin geschmolzen.
   “Können wir da weiter machen, wo wir aufgehört haben?“ fragte sie nach einer Weile des stummen Anblickens, Worte, die sie nur schwer über ihre Lippen zu bugsieren vermochte.
Tasha musterte sie mit ernstem, eindringlichem Blick, welcher das dahinter Liegende zu durchforsten schien, so als versuche er, den verstrickten Pfaden ihrer Emotionen und Gedanken zu folgen. “Haben wir denn aufgehört?”
 Liane lächelte und Erleichterung schlug sich in ihrer Stimme nieder, als sie sagte: “Nein, das haben wir nicht.”
   “Sich vertraut sein und fremd, ist es das, was du meinst? Ich hatte einen ganz ähnlichen Eindruck. Vertrautes und Fremdes, das gehört irgendwie zusammen“, sagte der weibliche Wookie und wartete einen Moment, “Ich war nicht in der Schule, glücklicherweise, habe viel nachgedacht über das, was geschehen ist.“
 Sie sah Liane an und fuhr nach einer weiteren Pause fort. “Als du heute Morgen meine Arme zu Boden drücktest und wir uns ansahen, da war ich zuerst erschreckt, es erschien mir, als hättest du dich in eine Andere verwandelt. Befremdlich. Eine, die ich nicht kannte – noch nicht kannte. Was ging da in dir vor?”
  “Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll – ja es stimmt, ich war eine Andere und auch wieder nicht. Das war ich. Doch in diesem Augenblick trat etwas in mir nach vorn, was vorher nur im Hintergrund verharrte, ein Teil, welcher in meinem Inneren schlummerte. Es war ein Teil von mir, mit dem auch ich noch nicht Bekanntschaft gemacht habe. Und dann war da dieser alles überschattende Wunsch, dir nah zu sein, in deinen grünen Augen zu versinken, unter zu tauchen – auf diese besondere Weise.“
 Das andere Mädchen hatte inzwischen den Teller mit den Nudeln beiseite geschoben und war zu ihr hinüber gekrochen. Ein Fußbreit nur noch, der sie voneinander trennte. Im Schneidersitz hockte sie da, ihren Worten aufmerksam lauschend und dabei ihr Gesicht ansehend.
  “Ab einem bestimmten Punkt, da war ich einfach nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden, zwischen deinem und meinem Blick. Es war einfach nicht mehr wichtig. Diese Grenzen, die ich so selbstverständlich zog, waren vergessen, aufgehoben – vielleicht. Ein angenehmes und abstoßendes Gefühl.“, sagte das Mädchen mit den Zottelhaaren und strich mit ihrem Finger über Lianes Wange, “Aber da ist noch etwas anderes bei dir, als du hier herein gekommen bist, nicht nur Freude. So was wie...Niedergeschlagenheit?”
  “Ja. Du bist eine gute Beobachterin.“ Es dauerte einen Moment, bis sie die Kraft hatte, weiter zu sprechen. Schwer fiel es ihr, die nächsten Worte zu sagen. “Heute war ein Junge mit grünem Kaputzenpullover an der Kasse. Feigen und Kindersaft, das war es, was er gekauft hat – ich errinere mich noch genau. Ich wollte auf diesen Menschen zugehen, keine Ahnung, warum, es war ein Bedürfnis. Wollte es, intuitiv, einen Schritt machen in seine Richtung, auf ihn zu...und konnte es nicht. Und als er mich ansah, da spürte ich, dass es ihm genau so ging. Wie mir.
 Aber das geht noch weiter, viel weiter – es ist längst nicht alles. Ich habe nicht ihn angesehen, sondern einen Kunden, Kapital – aber nicht völlig. Da war noch etwas, was ihn meinte, tief verschlossen, erdrückt von der Situation, die jedes Treffen verunmöglichte, der Maschine. Da war etwas. Aber ich konnte es nicht raus lassen, Ausdruck verleihen, konnte ihn nicht treffen mit meinem Blick. Als mir dass klar wurde, da war ich innerlich kurz davor, die Kasse Kasse sein zu lassen, aufzuspringen – ach verdammt.“ Ihre ausdrucksvollen Augen vermittelten Tasha um ein Weiteres, wieviel Ernst und Trauer, und auch Wut hinter dem steckte, was sie sagte. Doch es wäre gar nicht nötig gewesen.
  “Ich mache diesen Mist schon seit einem halbem Jahr, aber nie ist mir so schmerzlich bewusst geworden, was ich da mache – was da mit mir gemacht wird. Wie ich Menschen abfertige. Guten Tag, das macht zehnmarkfünfzig, auf Wiedersehen. Und bei dem, der Nächsten das selbe von vorn, bloß kein Wort zuviel, – nein – bloß nichts sagen, was diesen Menschen vor mir anspricht, was der Massenabfertigung widerspricht. Ich selber komme mir dabei vor wie ein Roboter, der bei jedem Menschen immer wieder das selbe Programm abspult. Leblos und kalt. Leblos. Jeden Tag werde ich ein bißchen mehr Maschine, gleiche mich der Großen an, die mich mit all ihrer Technik umgibt, und verliere. Verliere mich, das, was an Leben noch in mir steckt. Und um so länger ich das mache, um so mehr stirbt mein Sein. Das Leben lebt nicht.” In diesem Moment war Ihr Gesicht ein Spiegel des Schmerzes, den sie in sich barg, Verzweifelung.
  “Ich will da nicht mehr hin.“ sagte sie mit verzerrtem Gesicht und fing an zu weinen. Der Staudamm brach.
 Augen, die durch Tränen getrübt waren, sahen sie an, überbrachten ihr eine kleine Botschaft. Sie nahm Liane zu sich und schloss ihre Arme um ihren Kopf. Diese einfache Wahrheit, dass da eine war, eine, die sie mochte, und sensible Hände, welche ihren Kopf behutsam streichelten, spendete so viel Trost, so viel mehr als jedes Wort es zu tun imstande gewesen wäre. Sie fühlte sich aufgefangen, von einer Wärme umgeben, die so anders war als die, welche sie den Menschen im Einkaufsmarkt so beständig vorspielte. Die Freundlichkeit bei ihrer Arbeit war so stereotyp, so mechanisch wie das Fliessband, angepasst an die Abfertigung, ein technischer Kniff. Gekünstelte Liebe ist keine. Aber das, was von Tasha ausging, war Liebe, eine aufrichtige Emotion – hoffentlich. “Möchte ihn wieder sehen, es anders machen”, flüsterte sie Tasha sehnsüchtig ins Ohr.
 Sie empfand keine Eifersucht, obwohl sie darum wusste, das es in ihr steckte, dieses Haben wollen, einen Menschen zum Besitz machen. Ein Teil von ihr. Diesmal war da Mitleid und der Wunsch, dass es Liane gelang, es anders zu machen.
 Nach einigen Minuten löste Liane die Umarmung, strich sich durch die Haare. Von ihren glasigen Augen entfaltete sich ein wandernder, aufnehmender Blick, der sich an der Anderen erfreute wie an einer erblühenden Knospe im Frühling. Es war der Blick eines Kindes, mit dieser ungebrochenen Begierde nach Neuem, Weltoffenheit, der Blick eines Wesens, das dabei sich selbst in Vergessenheit geriet. Du bist schön, süßer Wookie, schoss durch ihr Bewusstsein. Sie spürte, dass da noch ein anderer Hunger in ihr war – ja –, dessen Ziel das Mädchen in ihrer Nähe war. Von ihr ging eine sie zum Glühen bringende Anziehung aus. Phantasien von einer warmen, feuchten Zunge, die über ihren Rücken strich, schoben sich vorsichtig in das Feld des Bewussten. Warum nicht?
 In diesem Augenblick fasste Tasha ihre Hand, so als hätte das Mädchen ihr Verlangen gespürt. Wieder schrumpfte ihr Kosmos auf die Menschin vor ihren Augen zusammen und wuchs so ins Unendliche. Mit der so erhofften Berührung entfaltete sich ein wohliges Gefühl in ihr. Sprache wurde überflüssig, aufgehobene Vermittlung.
 Während Tasha über ihren Handrücken streichelte, berührte Liane mit ihrer anderen Hand den Hals des Mädchens. Langsam fuhr sie unter den Pullover und begann damit, ihre Schultern zu erkunden, energischer werdend.
 Tasha, ein wenig fröstelnd, stieß ein Lachen aus, in welchem das Wohlgefallen sich nicht versteckte. “Deine Hand ist kalt. Das ist schön...kitzelig“, sagte sie und ergänzte mit einem breiten Grinsen: “Ich glaube, ich werde...feucht.”
  “Ja? – das wollen wir mal sehen“, erwiderte Liane spontan und legte ihre Hand auf die blaue Hose. Sanft gleitend fuhr diese zwischen ihren Schritt, während ihre Finger harmonisch über ihre Schenkel strichen.
 Tasha schwankte zwischen Freude und Widerwillen. Als Liane diese Angst in dem Mädchen spürte, zog sie ihre Hand – ohne jedes Zögern – zurück. Nichts wollte sie je tun, was nicht Tashas Willen entsprach. Begleitet von einem traurigen Blick sagte die Jüngere: “Ich weiß nicht, da ist so eine diffuse, lähmende Angst in mir. Ich wollte. Wegrennen, einfach nur noch allein sein. Ich verstehe es nicht.“
  “Hat es mit mir zu tun?“ fragte Liane, “habe ich irgend etwas getan, was du nicht mochtest, etwas, dass dir überhaupt nicht gefallen hat?”
Tashas Antwort bestand in einem einfachen Kopfschütteln. “Nein, ganz im Gegenteil,” offenbarte sie und legte ihre Hand auf Lianes.Schön.
  “Wir können das auch sein lassen. Es ist nicht schlimm.” sagte Liane verständnisvoll.
Ein langes Schweigen legte sich zwischen sie, welches mit seinem Andauern immer bedrückender wurde. Die Stille lastete schwer auf beiden. Währenddessen hörten ihre Hände nicht auf, einander zu umschlingen. Ein Gefühl der Verbundenheit bei beiden.
 Sie sagte nichts, ein ernstes Gesicht, indem ein Zögern erkennbar ward. Dann nahm sie Lianes Hand mit ihrer eigenen, in der noch ein leichtes, abklingendes Zittern war, und legte sie auf ihren Bauch, während sich ein Lächeln auf ihren auftauenden Gesichtszügen zeigte.


 

Vor dem Einschlafen griff er nach dem weißen Buch, das sich auf seinem angestammten Platz, dem Nachtisch, befand. Für einen Augenblick stummen Eingedenkens hielt er es in der Hand, drehte es zu Seite, um sich den Einband zu besehen. Seine Augen folgten seinem Zeigefinger über das in einem schwarzen Kästchen Geschriebene. Adorno. Minima Moralia. Intuitiv schlug er es auf und fand die richtige Seite, ohne doch nach dieser gesucht zu haben. Ablesen blieb immer etwas Äusserliches, Abgeschnittenes aber sein Blick ging in den Text ein, eine Verbindung herstellend. Mit fester Stimme, welche jedes Wort durch Betonung ehrte, las er sich einen Satz vor, den er nie vergessen konnte: »Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetztens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist kein Trost mehr außer im Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.« Dann senkte er das Buch und blickte auf, das innere Echo des Gesagten fühlend. Einige Zeit verstrich bis er die Seite umblätterte, nach unten wanderte und den Schlussatz des Aphorismus vor zu lesen anfing: »Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.« Er klappte das Buch zu.

In seinem Traum wanderte er durch eine leere Stadt, auf der verzweifelten Suche nach einem Menschen. Ein einzelnes Gesicht war alles, was er zu sehen sich wünschte...aber seine Hoffnungen sollten unerfüllt bleiben. Was hätte er nicht für das Gesicht eines Menschen gegeben, um Nase, Augen, Mund und Ohren.
 Immer wieder begegnete er rechteckigen Spiegeln, welche sich auf zwei Beinen fort bewegten. Sie waren so perfekt poliert worden, dass er die Spiegelung nicht von seinem echten Gesicht zu unterscheiden vermochte, was sein latentes Unbehagen noch steigerte. Und jedes Mal, wenn er sich in den Spiegeln wieder erkannte, drehte er sich um und ging in eine andere Richtung. Aber sie schienen überall auf ihn zu warten. An jeder erdenklichen Stelle lauerten sie auf ihn. Und immer sah er nur sich selbst und mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, sein eigenes Gesicht zu vergessen, das Bild aus dem Bewusstsein auszulöschen. Es ging so weit, dass ihn plötzlich Panik ergriff und er ohne Besinnung los rannte, angetrieben von einer rasenden Angst. Weg, weg von hier, war alles, was er zu denken imstande war.
 Vor einer hohen Wand am Ende einer schmalen Gasse kam er zum Stehen. Die Mauer...sie bestand aus Spiegeln. Geschockt drehte er sich um, aber dort erwartete ihn das gleiche Bild. Spiegel. Vadim drehte sich im Kreis, aber da waren Spiegel, überall, es gab kein Entkommen. Mit aller Gewalt versuchte er, seine Augen zu schließen, aber sie wollten einfach nicht. Nun gab es nur noch eine Möglichkeit. Die Spiegel mussten weg.
 Vadim wachte auf, das rasende Klopfen seines Herzens – mehr als alles Andere – spürend. Bruchstückhafte Gedanken trudelten ungeordnet, lose aneinander gereiht durch die Umlaufbahn seines Bewusstseins, schienen jeglichen Sinnes zu entbehren. Die Augen zu. Erdnussbutter! Oh. Mein, ja? Lebe...Ich lebe, hey. Spiegel kaputt...alle Spiegel. Da Da! Zertrümmern wollen.
 Am nächsten Morgen beschwerten sich einige Nachbarn bei der Hausbesitzerin über ein lautes Klirren im zweiten Stock, das sie mitten in der Nacht aus ihren süßen Träumen gerissen hatte. Und nach dieser Nacht entwickelte Vadim eine regelrechte Spiegelphobie, die immer wieder hervor treten würde und ihn dazu veranlassen sollte, friedliche Spiegel in fremden Badezimmern zu zerstören.

“Im Spiegel spiegelt sich das Gefangensein des Einzelnen und sein Verhältnis zur Welt zugleich. In allem erkennt das Ich nur sich selbst, kann nicht anders, als ein Jedes auf sich zu beziehen, und zeigt damit nur seine Beziehungslosigkeit, die Ferne zu Anderen, welche durch all dies nur noch vertieft wird.
 Und weil alles nur Spiegelung ist, wagt es nicht einmal den Gedanken daran, über sich hinaus zu schreiten – aus Angst, mit sich selbst zusammen zu stoßen. Das Ich wird sich zum größten Feind, zum Spiegel, der erst zerschlagen werden muss, um überhaupt erst Ich zu sein.”


 

Äquivalenzgleichungen

Vadim lag auf dem Teppichboden. Er schlug eine der Frauenzeitungen seiner Mutter auf, welche sie in Unmengen konsumierte, in dem Wunsch, diese ein wenig auseinander zu nehmen. Stapelweise türmten die Hochglanzblätter sich im Wohnzimmer, in dem nicht mehr viel Platz zum Wohnen blieb – und das, obwohl eine einzige gereicht hätte, um ihr gemeinsames Wesen zum Ausdruck zu bringen. Denn in dem Bild der Frau, welches sie vermittelten, stimmten sie alle überein – ein stillschweigender Konsens, beänstigend. Männer, Mode, Kochen und Kindererziehung, das waren die Dinge, welche der “modernen” Frau zu geschrieben wurden. Und es wurde so dargestellt, als wären dies die natürlichen, angeborenen Interessen einer jeden Frau. Allen Menschen, die angesichts dessen von der “Emanzipation der Frau” und der Loslösung von Rollenklischees sprachen, konnte er nur mit einem Kopfschütteln antworten. Diese Gesellschaft hat niemals aufgehört, patriarchal zu sein. Das, was sie Emanzipation nennen, ist in Wirklichkeit nur die Angleichung der Frau an den kalten, männlichen Charakter, Härte und Mitleidslosigkeit. Frauen dürfen heute auch Männer sein – soll das etwa positiv sein oder gar Fortschritt? Nach wie vor gab es nichts Schlimmeres, als in das als weiblich Definierte abzusinken, zur Frau zu werden. Warum richten sich wohl die Agressionen der Menschen auf den Mann, der sich als Frau gibt, auf die“dumme Schwuchtel”, welche Männer liebt?
  Warum Frauen fremd gehen lautete der Titel des Artikels, den er aufgeblättert hatte. Fremd gehen. In dieser Bezeichnung war schon die Wertung enthalten, die alles in ihren Bannkreis zog. Bereits die Zuneigung zu einer anderen Person, der Gedanke, die spontane Phantasie wurde so zum Treuebruch – ohne die Unterschiede zu sehen.
 Er überflog die nächsten Zeilen. Sie, die Frau, sucht bei dem Anderen das, was sie bei ihm vermisst. An dieser Stelle kam schon zum Ausdruck, dass die Beziehungen in dieser Gesellschaft nicht mehr waren als ein Austausch von Leistungen, Liebe eine Ware wie jede andere. Solange er ihr Verständnis, Aufmerksamkeit und Sex gab, gab sie ihm Liebe. So bald das nicht mehr der Fall war, endete auch die Liebe – der Mensch wurde ausgetauscht, ausgewechselt wie eine Glühbirne. Niemals aber ging es um den anderen Menschen als besonderer, einmaliger Persönlichkeit, nur um das, was mensch selber bekam. Solche Liebe war nur das Eigeninteresse, welches sich als Zuneigung zu einem anderen Menschen ausgab.
 In diesen Zeitungen fand er Redewendung wie “Gefühle in einen Menschen investieren” und “eine Beziehung muss sich auch rentieren,” welche schon lange den (un-)normalen Sprachgebrauch bestimmten. Wie ihn das anwiderte. Es gab keine wertneutrale Sprache, die sich der Befangenheit von der gesellschaftlichen Ordnung entziehen konnte – kein Lebensbreich, in der sich nicht das ökonomische Fundament der Gesellschaft wiederspiegelte, der Tausch. Ausgetauscht.
 Selbst Beziehungen wurden so zur rein ökonomischen Angelegenheit, zum riskanten Geschäft herab gestuft, bei dem Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwiegen waren. Was bringt es mir ein, wenn ich diesen Menschen liebe? Ist es überhaupt profitabel? Es fehlte nur noch, dass Menschen den Wert einer Beziehung mit dem Taschenrechner ausrechneten, um sich des eigenen Gewinnes zu vergewissern. Eines war ihm dabei klar...für Zuneigung war da kein Platz – defintiv. Allein schon diese Vorstellung, dass Liebe erst “erworben” werden muss...das tat Vadim so weh. Wie fern der Wirklickeit musste sich in dieser Gesellschaft ein Mensch anhören, welcheR einem anderen gestand: ”Ich liebe dich – einfach so, ohne Grund, weil du es bist.”
 Fremd gehen. Auch so eine Wendung. Wenn Menschen sich nicht an die verordnete Monogamie hielten, gab es nur eine Erklärung: die (Zweier-)Beziehung steckt in der Krise. Dieses Erklärungsmulder duldete nichts Anderes neben sich, was die Zweierbeziehung als solche in Frage stellte. Die gesellschaftliche Norm war unantastbar. Unvorstellbar war es den Menschen, dass es möglich war, nicht nur einen Menschen lieben, küssen und umarmen zu können, dass Liebe nicht für einen Menschen reserviert war und das Zuneigung für eine Person nicht – zwangsläufig – ein Weniger für andere bedeuten musste. Es bedeutete für sie, alle Regungen, Wünsche und Gefühle zu unterdrücken, aus dem Bewusstsein zu verbannen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Das hier - wie könnte es auch anders sein? - von dem heterosexuellen Pärchen ausgegangen wurde, war in diesem Zusammenhang nur eine Randerscheinung.
 Vergangenes lebte in seinen Gedanken nochmals auf. Vadim erinnerte sich an das Aufeinandertreffen mit einem Mädchen, mit dem er vor langer Zeit “zusammen gewesen war.” Diesem Menschen hatte er aufrichtige Zuneigung entgegengebracht.
  “Ich mag dich, ich habe dich wirklich gern.” hatte sie gesagt. Vadim hatte schon diese Einleitung nicht gefallen, weil es das “Aber” schon in sich trug und nur dazu diente, das Folgende abzuschwächen. Es machte alles nur noch schrecklicher. “Aber es reicht nicht.”
 Nichts hätte Vadim mehr verletzten können als dies, auch wenn ihm bewusst war, das es nicht der wahre Grund für jenen Menschen war, mit ihm “Schluss zu machen.” Es reicht nicht...zu wenig Liebe, geht denn das? Mir fehlt ein Groschen für den Kaugummiautomat, hey, mir fehlt ein wenig Liebe für dich, weil ich schon so viel in andere Projekte gesteckt habe – ach scheiße, meine Ironie kotzt mich an. Kopfschmerzen drückten von Innen gegen seinen Schädel. Traurige Augen.
 Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen, seine Hände massierten seine Stirn, während er in Gedanken nochmals in die gemeinsame Vergangenheit zurück kehrte, eines besonderen Momentes der Nähe sich errinerte. Nie vergessene Vergangenheit – Glück?

»Was ist, wird in Beziehung zu seinem Nichtsein erfahren. Damit wird es erst recht zum Besitz gemacht und gerade in solcher Starrheit zu einem Funktionellen, das für äquivalenten Besitz sich austauschen ließe. Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Abstraktheit in der Liebe ist das Komplement der Ausschließlichkeit, die trügerisch als das Gegenteil, als das sich Anklammern an dies eine so Seiende in Erscheinung tritt. Dies Festhalten verliert gerade sein Objekt aus den Händen, indem es zum Objekt gemacht wird, und verfehlt den Menschen, den es auf »meinen Menschen« herunter bringt. Wären Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht mehr vertauscht werden.«

(Theodor W. Adorno: Minima Moralia)

Ich hasse Äquivalenzgleichungen, dachte Vadim und dieser Satz ware keine leere Phrase, denn er wusste auch nur zu genau, warum er sie nicht mochte. Er befand sich im Matheunterricht und wieder nicht – da und nicht da. Trüben Blickes sah er zur Tafel, auf der sich kalte, abstoßende Zahlenkolonnen aneinander drängten.
 Immer diese zwei Seiten einer Gleichung, hinter der sich das gesellschaftliche Unrecht verbarg. Das Leben der Menschen ist bis ins Innerste durchdrungen vom Tausch, dem Prinzip des Geben und Nehmens, auf dem diese Gesellschaft basiert. Es betrügt sie Tag für Tag um die Beziehung, in der Menschen sich nicht als Dinge begegnen – in der Menschen einAnder wirklich treffen.
 Das, was Menschen anderen gaben entsprach nur dem, was sie zurück bekommen wollten. Das Geschenk an die andere Person spiegelte nur das, was mensch selbst zurück zu erhalten erhoffte. Wer mehr gibt als nötig, wird als verrückt eingestuft.
 Und dann musste er an die Verkäuferin denken, die Erinnerungen der vergangenen Situation drängte sich ihm auf. An diese Beziehungslosigkeit zwischen ihnen. Im Tausch war sie austauschbar.
  “Wie ist nun bei dieser Aufgabe vor zu gehen, Vadim?” fragte die Lehrerin, ihn damit aus seinen Gedanken reissend. Nun, er wäre nicht einmal zu einer Antwort fähig gewesen, wenn er dem Unterricht gefolgt wäre. So gab er schlichtweg zu: “Ich habe keine Ahnung.“
  “Mal wieder in fernen Sphären?“ vermutete sie auftrumpfend und Vadim konnte spüren, welches Erfolgserlebniss dies für sie darstellte. Die Klasse ergab sich in gemeinsames Lachen, genau das, was sie geplant hatte: ihn in den Blick der Anderen drängen, zum Mittelpunkt der Bühne zu machen, um ihn zur Anpassung ans Normale zu drängen. Pädagogenmethoden. Doch sie sollte ihren Erfolg nicht erhalten. In Gedanken kürzte er die Mathelehrin gegen Schule an sich, stillschweigend darauf hoffend, der Theorie die praktische Anwendung folgen lassen zu können. Ich hasse Äquivalenzgleichungen.


 

Begegnung. und die (un-)friedliche Revolution im Einkaufsmarkt

Wieder betrat er den Einkaufsmarkt, kurz vor Ladenschluss. Und wieder verschlug es ihn in den wenig besuchten Gang für Naturkost und andere Dinge, die nicht sofort krank machten. Für Menschen, die sich selbst für zivilisiert hielten, stellte das ein echtes Manko dar. (Denn zum Zivilisiertsein gehörten die Zivilisationskrankheiten.)
 Als er sich gerade gebückt hatte, um den Feigen in seiner linken Hand noch eine Flasche Kindersaft hinzuzufügen, regte sich Erschaudern in ihm. Umnebelt von der paranoiden Anwandlung, in eine frühere Situation zurückversetzt zu sein wirbelte er schlagartig nach hinten, in der Erwartung, einer menschengroßen Maus ins Angesicht zu sehen. Dem war nicht so.
  “Huch!” schrie der Mann im blauen Trainingsanzug am gegenüberliegenden Regal erschreckt und zuckte zusammen.
  “Oh, ihre Vollkornnudeln sind ihnen aus der Hand gefallen”, stellte Vadim trocken fest, während er in die Hocke ging, um diese aufzuheben. Er fragte sich, ob er anfangen sollte zu lachen, aber dann entschied er sich doch anders, um den Menschen auf der anderen Seite nicht völlig zu verunsichern. Wie selbstlos von mir...das ist jetzt sarkastisch.
 Beinahe hätte er die Spielzeugabteilung passiert, als sein Blick durch Zufall auf der Maus landete, die ihm schon beim letzten Mal aufgefallen war. Ihre schwarzen Knopfaugen schienen ihn herauszufordern, näher zu kommen. Weil er das Gefühl hatte, gar nicht anders zu können vergaß er all seine Vorbehalte gegenüber Nagetieren mit langen Schwänzen und nahm das Wesen aus Plüsch mit. Wieder eine weniger, dachten sich die anderen Plüschtiere und nahmen ihre Diskussion über antifaschistischen Widerstand wieder auf.

Andere waren weniger voll...und doch reihte er sich in die Schlange hinter Kasse 37 ein, die bis in den Waschmittelgang hinein reichte. Eine bewusste Entscheidung. In Gedanken sah er einen Gebirgsbach an der Kasse vorbei preschen, nahm das tosende Rauschen war, welches das unaufhörliche Fließen der WasserMassen begleitete. Nichts, was das Fliessen von Geld auch nur einen Moment lang unterbrechen könnte, oder? fragte er, an sich selbst gewendet.
 Als er sie erblickte, fühlte er sich zum zweiten Mal in die Vergangenheit zurückversetzt, obwohl ihm nicht eindeutig klar war, ob er sich mehr darüber freute als fürchtete. Die Verkäuferin trug die selben Sachen wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, den gleichen weißen Mantel.
 Angst breitete sich in ihm aus. Und nur das Bewusstsein dessen, das Eingedenken der vorhandenen Angst in seinem Inneren bewahrte ihn davor, einfach auf panische Weise davon zu rennen. War es die Angst, das alles noch mal geschah, das sich das, was in ihm als betrübliche Erinnerung überdauerte, wiederholte – noch einmal Wirklichkeit wurde? Die Angst umzingelte ihn, wie eine undurchdringliche Wand aus Feuer hatte sie ihn umkreist. Zwar kam die Feuerwand nicht näher, aber dadurch wurde sie nicht weniger bedrohlich, sondern gewann noch an Unheimlichkeit. Sie hatte etwas Dämonisches an sich, nicht genau zu bestimmen...aber doch da, definitiv. Immer wieder zuckten ihm Flammenzungen entgegen, versenkten ihm eines seiner Haare – aber nicht mehr. Spaß schienen sie dabei zu haben, ihre aberwitzigen Spielchen mit ihm zu treiben, ihm ihre Macht zu demonstrieren, welcher er nicht gewachsen war. Ich hasse Flammen.
 Vadim legte die Feigen, den Kindersaft und die Maus auf das Fließband. Sein gesenkter Kopf war Ausdruck der in ihm waltenden Angst, welche in immer neue Winkel seines (Unter-)Bewusstseins vordrang, für sich erschloss.
 Ein strahlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie die Maus über den Infrarotsensor zog und ihre Hände das samtweiche Fell zu spüren bekamen. Aufblitzen von Erinnerung. Die Wärme, die in diesem Augenblick von ihr ausging, passte so gar nicht in diese kalte Umgebung – wollte sich nicht in die Situation einfügen. Es gibt noch Leben in der erkalteten Apparatur.
 Vadim wagte immer noch nicht aufzusehen, aber instinktiv spürte er ihren Blick auf sich lasten. Das gab ihm Mut und wieder nicht. Widersprüchliche Emotionen brachten sein Inneres zum brodeln. Angst und der aufgesparte Wunsch, sich endlich in ihren braunen Augen zu verlieren, steigerten sich gegenseitig bis ins Unendliche.
 Eine Entscheidung wurde getroffen. Vadim überwand den in ihm aufgerichteten Schutzwall aus Angst und schaute sie an, so intensiv, wie er niemals zuvor einen Menschen angesehen hatte. Eine Veränderung, hatte statt gefunden, eine Veränderung, welche er noch nicht recht nachvollzogen hatte. Und es dauerte noch eine Weile, bis sich diese Erkenntnis endgültig bis in sein – langsames – Bewusstsein vorgeschlichen hatte.
 Plötzlich war er mehr als der Träger von Geld und sie mehr als der verlängerte Arm der Kasse, zwei Menschen, die einander begegneten. Einen Augenblick lang schien ihr Lächeln ihm euphorisch zu zurufen: “Hier raus!” Der Ausspruch traf das, was er zu dieser Sekunde empfand...und dieses Gefühl teilte er mit ihr, ohne es zu wissen – aber das machte ja nichts. Das eingezwängte Sein in ihnen sehnte sich danach, auszubrechen aus dem Tauschverhältnis, das beide Seiten betrog, den gegebenen Rahmen zu sprengen – für den Moment.
 Hinter ihm fingen die Leute nun spürbar an, unruhig zu werden. “Geht das nicht weiter?” stammelte ein junger Mann in Anzug und Krawatte verärgert.
 Und gerade als Vadim sich abwenden wollte, um den Laden zu verlassen, griff Liane seine Hand, selbst noch ein wenig verwundert über ihre Impulsivität. So einfach lasse ich dich nicht entkommen.
 Weder sie noch er waren dazu in der Lage, ein Wort hervor zu bringen. Sie lächelten nur, sich dessen bewusst, Sand im Getriebe zu sein, den Strom einen Moment am Fließen zu hindern – ganz gleich, wie unbedeutend dies vor dem Hintergrund des Ganzen sein mochte. Das war der Anfang der friedlichen Revolution im Einkaufsmarkt.
  “Heute ist alles umsonst!” verkündete Liane, stieg auf ihren Stuhl und riss sich den weißen Mantel vom Leib. Mit herausforderndem Blick sah sie Vadim an. Als er, völlig gelähmt ob der sich überstürzenden Ereignisse, ihrer unausgesprochenen Bitte nicht nach kam streckte sie ihm die Arme entgegen und fragte: “Worauf wartest du noch?”
 Sie sprang zu ihm hinüber und riss ihn mit sich, um den unendlich verwirrten Einkaufenden den Weg frei zu machen, die jenes spätabendliche Geschehnis aus dem gewohnten Trott heraus zerrte. Dann umarmten die beiden sich innig, einander mit den Armen fest umschließend. Die Grenzen zwischen ihnen waren aufgehoben...und sie beide spürten, dass das, was sie getan hatten, über das Bestehende hinaus wies. Es war nur ein kurzer Moment, eine Andeutung dessen, was noch zu schaffen war...doch dieses Erlebnis würde eine nie versiegende Quelle der Hoffnung für sie sein: der Hoffnung auf die freie Gesellschaft, von der – nicht nur – sie beide träumten, ohne es voneinander zu wissen – so ein Zufall auch...
 Erst wagte keiner der Anstehenden es, sich nur im Geringsten zu bewegen, nicht einmal mit den Schultern zu zucken. Zahlreiche fragende Blicke, welche auf eine Auflösung hofften, wurden ausgetauscht und empfingen nur noch mehr Verwirrung. Ein kleines Mädchen schob sich durch die wartende Menge nach vorn, öffnete ihr Hörnchen-Eis und schlenderte unbesorgt in Richtung Ausgang, eine fröhliche Melodie vor sich her summend. Das – wiederum metaphorische – Eis war gebrochen, oder zumindest arg angeknackst.
 Plötzlich gab es keine Drängeleien mehr, die sonst an der Tagesordnung standen – den Menschen schien die Eile abhanden gekommen zu sein. Statt dessen fingen sie an, miteinander zu reden, angeregte Gespräche zu führen – kein Mensch, der einfach so heraus gegangen wäre – so wie sonst. Aber was war nur geschehen?
 Einige, die ihr Glück nicht fassen konnten, bedankten sich ihm Vorbeigehen bei Liane, doch sie bekam davon eh nichts mehr mit. In der Umarmung hatte sie ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während sie mit ihrer rechten Hand über seinen Hinterkopf strich. Ihre Augen waren geschlossen und der Ausdruck ihres Gesichts war zu vielschichtig um zu sagen, wie sie sich fühlte. Das befreiende Gefühl in ihm war so überwältigend, dass Vadim angefangen hatte zu weinen.
 Als die anderen durchweg weiblichen – woher kommt das wohl? – Kassiererinnen realisiert hatten, was so eben an Kasse 37 passiert war, schlossen sie sich ohne langes Nachdenken an. Eine nach der anderen gab den Einkaufenden den Weg frei. Endlich bot sich ihnen die lang erhoffte Möglichkeit, all die aufgestaute Wut, welche ihnen dieser Job bereitete, frei zu lassen und in etwas Konstruktives zu wandeln.
 Als Vadim beim Öffnen seiner Augen über Lianes Schulter spähte, sah er in das Gesicht der Maus. Reflexartig schrak er zurück, aber bevor er die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen, hob das überdimensionale Nagetier beschwichtigend die Hand...äh, Pfote.
  “Keine Angst”, sagte sie mit freundlicher Stimme, ”ich bin doch nur eine gewöhnliche Maus, ein klein wenig zu groß geraten...aber sonst. Nun, aus welchen Grund starrst du mich so an?”
 Zuerst sah Vadim Liane an, welche nur mit einem Achselzuckeln antwortete, dann öffnete er langsam den Mund. ”Oh, mir ist so eben nur eine Frage in den Sinn gekommen, welche mich schon seit einer Weile beschäftigt. Was willst du mit dem ganzen Geld, das du den Menschen klaust?”
  “Oh, dass darfst du nicht falsch verstehen – ist nur eine Metapher für den Umstand, dass in dieser Gesellschaft mit allen Mitteln versucht wird, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dass sie selbst nur Mittel sind, um Geld zu vermehren – egal ob als Lohnsklave oder Konsumidiot. Dass sie selber nur Mittel sind.
 Nun, du solltest wissen, das wir alle uns in einer Geschichte befinden, welche sich so ein schwArzer passagier ausgedacht hat – faszinierend, oder?”
  “Äh, bedeutet das...äh, dass wir alle nur Phantasiegestalten sind, dem Geist eines anderen Wesens entsprungen?” fragte Vadim mit einer Spur von verdecktem Entsetzen, obgleich jene Vorstellung für ihn Erschreckendes und Faszinierendes zugleich besaß. Flugs hängte er an: “Das hat doch nichts mit Gott zu tun, oder?”
 Die Maus fing an zu lächeln, wobei ihre blitzeblanken Nagezähne zum Vorschein kamen. Dann wurde ihr Blick unmerklich ernster. “Es gibt auf diese Frage nicht die Antwort. Du, wie auch alle anderen, musst schon deine eigene finden – wenn es sie denn geben sollte. Aber ich werde dafür Sorgen, dass dir der Preis für besonders besondere Fragen und überdurchschnittliches Schnellmerken verliehen wird.“
  “Da gibt es noch eine Sache, welche mir immer noch nicht ganz einleuchtet,“ gestand Vadim der Maus. Seine nachdenkliche Miene vertiefte sich noch. “Das mit der Aufschrift, ich meine, ist hinter der Tür wirklich ein Schwimmbad?” fragte er mit sichtlichem Zweifel. Aber auch diese Frage sollte unbeantwortet bleiben, da sich die Maus vor seinen Augen in Luft auflöste, und vielleicht war das auch gut so.
  “Und, was meinst du, war alles nur eine Phantasie?“ fragte er Liane kurzerhand, obwohl er sich erst gar nicht an die Hoffnung verlor, eine Antwort zu bekommen. Langsam gewöhne ich mich an all diese Fragezeichen, die sich in meinem Hinterkopf sammeln. Trotzdem...etwas erregte seine Aufmerksamkeit./p>

Begegnung. und die (un-)friedliche Revolution im Einkaufsmarkt

Der Inhaber. Der kleinwüchsige, aufgebrachte Inhaber des Einkaufsmarktes trampelte durch den Eingangsbereich. Immer wieder gab er sich leidenschaftlichen Wutanfällen hin, bei denen jede Menge derber Ausdrücke über seine Lippen huschten, welche es in sich hatten. Mit fassungslosem Gesichtsausdruck verfolgte er, wie die Menschen seinen Laden glücklich und zufrieden verließen – ohne gezahlt zu haben. Währenddessen berechnete der am stärksten ausgeprägteste Teil seines Gehirns die Verluste des heutigen Tages. Negativer Profit war noch die mildeste Umschreibung, welche sein mentales Zentrum für beschönigende Worte erfinden konnte. Und dabei ist zu bedenken, dass jenes bei Kaufleuten in besonderem Maße ausgeprägt war, wie bei allen, die ihren Schund auf den “(un-)freien Markt” warfen.
  “Sie können doch nicht die Leute...hey, warten sie, sie müssen erst...”, krächzte er in wehleidigem Tonfall, um gleich darauf mit ersterbender Stimme hinzu zu fügen: “Bezahlen...bezahlen, sie müssen...”
 Bezahlen. Innerlich gebrochen trat der Mann auf den Boden, wobei er einen geschlagen Eindruck machte – und das war er auch. Er resignierte ob der Unmöglichkeit, den Lauf der Dinge aufzuhalten und fing an zu heulen. Soll statt Haben.

Vadim wand sich wieder Liane zu, die sich in der ganzen Zeit nicht vom Fleck gerührt hatte, erkannte die Freude in ihren geröteten Augen. Eine besondere Stimmung lag in der Luft, eine nie dagewesene Atmosphäre, die in ihr einen überwälltigenden, nachhaltigen Eindruck hinterließ. So lebendig hatte sie den Einkaufsmarkt noch nie erlebt. Aber das, was Liane am stärksten beindruckte war, wie schnell die Veränderung in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen war – vor ein paar Minuten hatte alles noch so anders ausgesehen. Bei all dem kam sie selbst, so glaubte sie, nicht mehr mit. Ich werde noch viel Zeit benötigen, um das hier zu verarbeiten.
  “Das, was diese Gesellschaft fürchtet ist, dass es zur Begegnung kommt”, erklärte sie und blickte in seine Augen, “das Menschen sich treffen und dabei etwas in ihnen entfacht wird, was kein Konsum jemals in ihnen entfachen könnte. Etwas, dass nicht zur Ware gemacht werden kann.”
  “Hättest du etwas dagegen einzuwenden, wenn ich deine Arme mit meiner Zunge lecke? fragte Vadim. “Warum sagst du denn nichts? Hey, WARUM will mir kein Mensch eine Antwort auf meine Fragen geben? Na gut, dann werde ich dieses Lächeln als ein Ja auffassen – das hast du jetzt davon...mmh, schmeckt salzig.”


 

Drei Menschen liefen lachend, einander an Händen haltend durch die Straßen, und beschenkten wildfremde Menschen mit Blumen aller Farben. Sie taten es nicht, weil sie etwas erwarteten – nein, sie wollten keinen Dank ernten...ebenso wenig wie irgend etwas anders. Sie taten es einfach so, um diesen Menschen eine kleine Freude zu bereiten, folgten nichts als ihrem spontanen Wunsch, ein kleines bißchen Glückseeligkeit in die triste Welt zu bringen.
 Und doch gab es keinen einzigen Menschen, der ihr Geschenk einfach so angenommen hätte. Sie fragten, was das denn kosten würde, von welcher Firma sie kämen und ob das ein fauler Trick sei.
  “Es kostet nichts!” verkündeten sie einstimmig. Aber die Menschen wollten ihnen nicht glauben, wollten den Dreien Geld geben oder eine Tafel Schockolade. Sie wollten lieber bezahlen, als das Gegebene so anzunehmen – so als ob sie tief in ihrem Inneren eine Schuld verspürten, die es auszugleichen galt. Kein Mensch kam auf die Idee, dass es einfach so sein könnte. So fest hatte sich das Tauschprinzip in ihrem Inneren eingenistet, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnten, eine Blume umsonst zu bekommen. Die Menschen hielten sie für Verrückte – und das waren sie auch, jedenfalls in dieser Gesellschaft. Verrückt zu sein, war das Mindeste.
  “Woher wusstest du eigentlich, dass ich es mag, mit der Zunge liebkost zu werden?”

AUSGETAUSCHT HAT ES SICH.

»Wären Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht mehr vertauscht werden.«

Ein Echo, dass nur langsam verklingt.


Wohin soll dich der nun Traum führen?


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