KULTURELLES CHAOS, POLITIX UND WARPZONEN   



"Many people dream of living an open sexual life – of having all the sex and love and friendship they want. Most never try, believing that such a life is impossible. (...) Our monogamy-centrist culture tends to assume that the purpose and ultimate goal of all relationships is lifetime pair-bonding, and that any relationship which falls short of that goal has failed. WE DISAGREE.“

D. Easton & C.A. Liszt

Das Private bleibt politisch: >>Redefine our relationships!>>
Kämpfen.Lieben.Leben.

Brief an Euch

Mal wieder hungrig von einer Party nach Hause gegangen; getanzt, geschwitzt, gesoffen, viele nette, wunderbare Menschen getroffen. Dann das coming down. Nach der Euphorie ist vor der Depression. Mal wieder.

Noch berauscht von eurer Anwesenheit und im nächsten Moment einsam. Und allein zu Hause mit Gedanken der Sinnlosigkeit und der Resignation. Trotz Rausch, Musik, Tanz seid ihr - wie so oft - distanziert geblieben. Jenseits der ritualisierten Begrüßungsumarmung scheint keine Zärtlichkeit möglich, ausser mensch hat sie sich per Beziehung quasi vorreserviert. Auch die mit den antiprüden und dekonstruktivistischen Ansprüchen lassen nichts als Distanz spüren.

...I feel so disconnected from the world... [from coffee & cigarettes by Jim Jarmusch]

So bleibe ich also hungrig. Hungrig nach der Form von Zwischenmenschlichkeit, die über das GenossInnentum hinausgeht. Hungrig nach menschlicher Verbindlichkeit, echter Anteilnahme, einer Praxis, die versucht sich tatsächlich und persönlich umeinander zu kümmern; dem gemeinsamen Wunsch, nicht „hart“ und distanziert, sondern offen und zärtlich miteinander umzugehen; auch – und gerade! - im Streit: A comunity of mutual care.
Wie anders würden wir miteinander streiten, wenn unter der inhaltlichen Ebene ein liebevoller Umgang läge, und zwar als Selbstverständlichkeit. Und wir müssten dennoch nicht harmonisieren. Aber wir könnten einander besser zuhören.

Uns distanzierten, unpersönlichen Haufen nennen manche tatsächlich „Kölner Kuschellinke“. Das ich nicht lache. Das Kuscheln ist hier nicht mehr als ein Transpi-spruch. Und obendrein soll das Wort „Kuschellinke“ als Diffamierung verstanden werden. Welches Ideal steht dem denn gegenüber? Das der „harten“, krassen Superkämpfer und polemischen Theoriehelden? Ist Respektlosigkeit und Beleidigung das Ideal der neuen doitschen Härte in der Linken?

Die meisten von euch hängen in ihrer heterosexistischen romantischen Zweierbeziehung und tun so, als wären Liebe und Zärtlichkeit knappe Ressourcen, mit denen mensch sparsam zu haushalten hätte. Wie jemensch, der/die/das glaubt, ein Buch verlöre seine Buchstaben, wenn jemensch Anderes es liest, so geizt ihr mit Zuwendung als müsstet ihr die Berührung, den Kuss, die Umarmung, die ihr einer gebt, bei einer anderen Freundin oder Liebhaberin abziehen. In dem sehr empfehlenswerten Buch „The ethical slut“ sprechen die AutorInnen über diese Form der Monogamie und der Distanziertheit von „starvation economies“ - Hungerökonomien, Knappheitsökonomien. „Many people believe, explicitly or implicitly, that romantic love, intimacy and connection are finite capabilities of which there is never enough to go around, and that if you give some to one person, you must be taking some away from another. We call this believe 'starvation economy.' “
De facto ist aber die einzige Grenze, die einem großzügigeren Umgang mit Liebe und Zärtlichkeit gesetzt ist, die Zeit: auch eine ethische Schlampe hat nur 24h am Tag, muss schlafen, essen, arbeiten (leider!) und diverse andere Dinge erledigen. Umso mehr sollten wir doch unsere knappen Begegnungen intensivieren!

„Denn der Wille, dagegen zu sein, bedarf in Wahrheit eines Körpers, der vollkommen unfähig ist, sich einer Befehlsgewalt zu unterwerfen; eines Körpers, der unfähig ist, sich an familiäres Leben anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierungen des traditionellen Sexuallebens usw. (Sollten Sie bemerken, dass ihr Körper sich diesen >normalen< Lebensweisen verweigert, so verzweifeln Sie nicht - verwirklichen Sie Ihre Gaben!).“

aus: Empire, Intermezzo: Gegen-Empire, by Hardt/Negri 2000

....ha!.......die haben leicht reden............!

Was ist es also, das euch davon abhält, mehr von euch zu schenken, offener zu sein, Zuneigung zu „investieren“? Was ist nur so verdammt toll daran, unpersönlich, distanziert, unverbindlich durchs Leben zu rennen, um die eigene Person eine Mauer aus Schweigen, ein Graben aus Berührungsängsten und eine präventive Selbstschussanlage ausgestattet mit „harten“ Argumenten, polemischer Zielsuche und einer geballten Ladung Misstrauen und Aggression? Ich erfriere neben Euch... (...ich-botschaften senden...)

Nein, ihr müsst nicht jede und jeden liebhaben und ich plädiere auch nicht für einen Rückfall in massenhafte Grenzüberschreitungen a la 68. Es geht mir auch nicht darum, Konflikte mit einem Mantel der Harmonie zu überziehen. Ich habe nur keine Lust mehr, nach 3 Jahren Köln immer noch Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche zu verhungern, obwohl mein Adressbuch voll ist und mein Kalender fast jeden Tag irgendein linkes Szeneevent aufweist. Ich habe keine Lust mehr, unter einer völlig unnötigen emotionalen Mangelwirtschaft zu leiden, die mir trotz hunderter Bekanntschaften kaum Kontakte beschert hat, die mich auffangen würden, wenn's mir scheisse geht. Mal ganz abgesehen von solchen, mit denen völlig unbegründete, unfunktionale, vielleicht sogar romantische oder alberne Begegnungen möglich sind, solche mit denen ich Nächte durchlabern, Tage durchträumen, groben Unfug und anderen Unsinn treiben könnte, aus der puren Lust am Leben und aneinander. Ich habe keine Lust mehr, kreuz und quer durchs Land reisen zu müssen, nur um mal wieder mit jemenschen im Arm im Bett zu liegen und sich aneinander zu freuen, einfach so.

Ich hab versucht, das mit manchen Leuten zu klären. Ich habe versucht, explizit persönlichen Kontakt zu ermuntern, ich habe versucht, meine Zuneigung kundzutun, ich bin auch manches Mal an mir selbst gescheitert. Viel, viel öfter aber habe ich irgendwann den Eindruck gewonnen, Leuten hinterherzulaufen und habe die Bemühungen meinerseits eingestellt. Mit dem Ergebnis, dass der Kontakt gänzlich verloren ging; also eigentlich auch nie gewünscht war? Ist es nicht möglich, wenigstens ehrlich zu sein und offen zu sagen, dass kein Interesse besteht an irgendeiner Form persönlicher Beziehung? Wie bei der Unterernährung ist auch hier die Unterbefriedigung des Kontaktbedürfnisses mit der ständig suggerierten Botschaft, es bestünde noch Hoffnung auf mehr vielleicht mal irgendwo irgendwann, qualvoller als die totale Versagung.
Ich habe schon selbst einen Panzer entwickelt, der mich von Euch trennt und vor Euch schützen soll. Ich will ihn nicht haben. Aber alleine krieg ich ihn nicht dekonstruiert. Ohne gemeinsame Versuche, diese lieblose Mangelwirtschaft zu beseitigen, die ganze heterosexistische Monosteckerscheisse über den Haufen zu werfen und offener miteinander umzugehen, werden wir weiterhungern, werde ich noch Tausende Male nach einem rauschenden Fest traurig nach Hause gehen und weiter daran verzweifeln, dass für jedes bisschen Zärtlichkeit eine tragische Zweierbeziehung nötig ist, weil außerhalb dieser niemensch bereit ist, mehr von dem einzigen Stoff zu geben, der umso mehr wächst, je mehr mensch ihn verschwendet – der Liebe.

Einmal im Jahr zeigt sich, dass die meisten nicht frei sind von diesem Bedürfnis nach unkategorisierter Berührung, dass auch ihr diese Sehnsucht nach der zärtlicher Verbindung mit anderen Menschen nur irgendwie im Alltag „weggemacht“ habt; wenn Karneval ist, sind all diese Dinge plötzlich erlaubt und möglich. Nach Händen zu greifen, wenn mensch sich danach fühlt, knutschen, wenn mensch sich süß findet, in Arme fallen, die sich gerade anbieten und öffnen. Für fünf Tage wird jene Ekstase ausgelebt, die sich die restlichen 360 Tage keineR traut. Und weil kaum eins sowas geübt hat, kommt es zu Grenzüberschreitungen, stellt sich plump an wer sonst elegante Reden schwingt, wird überkompensiert, bis der Kater kommt.
Schade, dass der Widerstand nicht mal mehr subversiv genug ist, der Alltag nicht mal mehr widerständig genug, dass wir tatsächlich den staatlich genehmigten Ausnahmezustand brauchen, um auch nur ansatzweise zu erahnen, was eine radikalere, wildere, experimentellere, offenere, zärtlichere, liebvollere, ekstatischere Form des Miteinanders sein könnte.

„...Und irgendwo zwischen den Trümmern all der Grenzen, Mauern und Konstruktionen, die uns voneinander trennen... irgendwo da könnten wir uns zum ersten Mal treffen.“ (piratenutopie.de.vu)

Das Private bleibt politisch. Verwirklichen wir unsere Gaben!

Yours sincerely

  Luther Blisset

 

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