Kritik der Konsumkritik

PSYCHIATRIE IN HESSEN: TÄUSCHUNG, ZWANG, FIXIERUNG, RECHTSBRÜCHE

Im Original: Vitosklinik in Briefen, Interviews und Büchern


1. Vitos-Klinik und Fälle in Gießen
2. Vitos-Klinik in Haina
3. Vitos-Kliniken in Rhein-Main und Südhessen, u.a. Riedstadt (Goddelau)
4. Im Original: Vitosklinik in Briefen, Interviews und Büchern
5. Seilschaften, Politik und Kritik aus Hessen
6. Der Fall "Dennis Stephan"

Im Original: Vitos-Chef Müller-Isberner im Original
Zitate aus: Rüdiger Müller-Isberner/Sabine Eucker, „Praxishandbuch Maßregelvollzug“ (Hrsg., 2012, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft in Berlin) … Achtung: Gescannter Text – kann trotz Korrekturlesung Fehler enthalten!

Komplettes Kapitel „Ethische Aspekte“ (Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker, S. 253)
Maßregelvollzug ist eine freiheitsentziehende Maßnahme. Ober die Schwierigkeit des Arbeitens im Spannungs-feld des Doppelmandats von Besserung und Sicherung ist viel geschrieben worden (Shah, 1993). Erstaunlich wenig wurde hierbei aber dem Aspekt Rechnung getragen, dass sich aus dem Freiheitsrecht der Patienten (Art. 2 GG) für die Behandler die Verpflichtung ableitet, jene evidenzbasierten Verfahren zur Anwendung zu bringen, die sich in der (Psycho-)Therapieforschung als die signifikant wirksameren erwiesen haben (Grawe, Donati & Bernauer, 1995). Hieraus wiederum leitet sich unmittelbar die Verpflichtung zu ständiger fachlicher Fort- und Weiterbildung ab, wobei das erforderliche Wissen keineswegs ausschließlich im eigenen Sprachraum zu suchen ist.
Mit ethischen Dilemmata sind die im Maßregelvollzug Tätigen u. a. in folgenden Bereichen konfrontiert:
• Freiheitsrechte der Patienten vs. Sicherheitsinteressen der Bevölkerung,
• Grenzfragen der Schweigepflicht,
• ‚Macht' über die Lockerungsgewährung/-versagung und Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen.
Auch der keineswegs seltene Missbrauch des psychiatrischen Maßregelvollzuges als verkappte Sicherungsverwahrung und das Fehlen wirksamer Behandlungsmethoden bei einigen Patienten (z. B. ‘psychopath', Hare, 1991) wirft schwer lösbare ethische Fragen auf (Übersichten bei Shah, 1993; Müller-Isberner & Hodgins, 2000; Kielisch, 2005).


Zitate zu „Krankheit“ und Ursachen (S. 58f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)
Gene, Biologie & Co.
Das, was uns als Dissozialität imponiert, ist aus evolutionärer Sicht nichts anderes als eine schlechte Passung zwischen Individuum und Umwelt: In einer früheren Umwelt, in der die Konkurrenz um limitierte (Nahrungs )Ressourcen einen überwiegenden Anteil an Handlungsprozessen beanspruchte, stellten Verhaltensprogramme, die ein hohes Mag an Rücksichtslosigkeit, spontaner Aggressivität und hochentwickelten Raubstrategien beinhalteten, sich als höchst adaptiv, also vernünftig und das Überleben sichernd, dar.
Ungeachtet ihres überlebenswertes in einer primitiveren Umgebung sind Programme eines antisozialen Denk und Handlungsstils in unserer heutigen Kultur problematisch, da sie mit Gruppennormen kollidieren. Hochentwickelte Raub , Konkurrenz und Ausbeutungsstrategien, die in einer primitiveren Umgebung sinnvoll waren, passen nicht in die heutige Zeit einer hochindividualisierten und hochtechnologisierten Gesellschaft mit spezialisiertem kulturellen und sozialen Aufbau. Was dem Überleben unter primitiven Verhältnissen förderlich war, passt nicht in ein soziales Milieu, wird dort als ‚abnorm' identifiziert und als ‚dissozial' und ‚kriminell' definiert. Es ist wichtig, sich diese Perspektive vor Augen zu halten. Sie erklärt, weshalb sich dissoziales Verhalten in der Evolution als durchaus erfolgreiches Verhaltensmodell er wiesen hat, das auch heute noch in vielen regionalen, politischen und kulturellen Kontexten Selektionsvorteile bietet (Übersicht und Literaturnachweis bei Müller Isberner, Eucker & Herpertz, 2002). …

Genetische Faktoren
Für das Vorhandensein eines erheblichen genetischen Faktors als Basis anti sozialen Verhaltens gibt es eine überwältigende Evidenz. So konnte gezeigt werden, dass genetische Faktoren zur Entwicklung von Kriminalität, aggressivem Verhalten, Impulsivität, einer dissozialen Persönlichkeitsstörung sowie zu Alkoholismus und Drogenabhängigkeit beitragen. …

Biologische Basis
… Neben den Persönlichkeitsmerkmalen Furchtlosigkeit, Reizhunger und Impulsivität stellen Auffälligkeiten im psychophysiologischen Reaktionsstil wichtige Prädiktoren für den frühen Beginn eines stabilen und ausgeprägten Delinquenzverhaltens dar. Neuere Befunde zu verminderten psychophysiologischen Reaktionen gegenüber emotionalen Reizen verweisen auf eine mangelhafte emotionale Hemmung aggressiver Impulse wie sie gewöhnlich aus Gefühlen des Mitleids mit potentiellen Opfern oder auch aus Angst vor Bestrafung resultiert (Übersicht und Literaturnachweis bei Müller Isberner, Eucker & Herpertz, 2002).

Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass die Diagnosen:
• Störung des Sozialverhaltens im Kindes und Jugendalter',
• Substanzmissbrauch'und
• antisoziale Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter'
eine gemeinsame genetische Basis haben (Krueger et al., 2002). Andererseits wissen wir, dass Störung des Sozialverhaltens im Kindes und Jugendalter' gehäuft bei Menschen auftritt, die später an einer schizophrenen, schizoaffektiven oder bipolaren Psychose erkranken. Ob auch hier eine gemeinsame genetische Basis anzunehmen ist, ist noch nicht geklärt (Moran & Hodgins, 2004; Hodgins, Tiihonen & Ross, 2005, Naudts & Hodgins, 2006).

Umweltgifte als Ursache (S. 60, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)
Mehr als frühere Generationen dürfte die Nachkriegsgeneration Umweltgiften ausgesetzt gewesen sein, die das zentrale Nervensystem schädigen können. Derartige Schädigungen mindern die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass eine Beziehung zwischen aggressivem Verhalten und Delinquenz junger Männer und deren Lebens Blei Belastung besteht. Dieser bislang wenig beachtete Aspekt der Schädigung der Nachkriegsgeneration durch Umweltgifte könnte einer der Gründe für ein generelles Ansteigen antisozialen Verhaltens dieser Generation sein. Er könnte auch das Ansteigen von Kriminalitätsraten in vielen Ländern während der gleichen Periode erklären (Übersicht und Literaturnachweise bei Müller Isberner, Eucker & Herpertz, 2002).

Kaum untersucht …
Psychosoziale Faktoren
Umweltbedingungen, die antisoziales Verhalten fördern, sind insgesamt weniger systematisch untersucht als biologische Faktoren.
(S. 60, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Spezifische Literatur zur psychiatrischen Kriminaltherapie ist erst in der Entstehung begriffen (Harris & Rice, 1997; Hodgins, 2000; Hodgins & Müller Isberner, 2000; Müller Isberner & Gretenkord, 2002; Rice & Harris, 1997; Rice et al., 1990), wobei wissenschaftliche Erkenntnisse nach wie vor wenig Eingang in die praktische Arbeit finden. Auch heute zeichnen sich nicht wenige Behandlungsprogramme dadurch aus, dass sie schlicht fehlen und im Falle ihres Vorhandenseins häufig schlecht implementiert, unzureichend evaluiert, theoretisch wenig begründet und unvollständig beschrieben und dokumentiert sind. (S. 69, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Auf eine besondere Problematik muss aber hingewiesen werden: Es besteht aller Grund zu der Annahme, dass man die Ergebnisse von psychopharmakologischen Wirksamkeitsstudien nicht unkritisch auf die Klientel des Maßregelvollzuges übertragen darf. in solchen Studien sind Patientencharakteristika, die für die Klientel des Maßregelvollzuges typisch sind (lange Krankheitsdauer, Multimorbidität, Hostilität, Non Compliance) regelhaft Ausschlusskriterien. Gerade solche Aspekte des Wirkprofils, die kriminaltherapeutisch besonders interessant sind (Einfluss auf Aggressivität und Hostilität), werden meist gar nicht erst erfasst. Entsprechende gezielte Studien zu diesen Fragestellungen an der Klientel des Maßregelvollzuges lässt das deutsche Arzneimittelgesetz nicht zu. (S. 70f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Empirisches Wissen darüber, wie sich Größe und Organisationsform kriminaltherapeutischer Institutionen auf therapeutische Effizienz und Wirtschaftlichkeit auswirken, fehlt weltweit. (S. 87, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Trotz der hohen praktischen Relevanz ist die Gruppe der therapeutisch nicht erreichbaren Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzuges kaum empirisch untersucht. (S. 137, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

In der Bundesrepublik haben sich eine Vielzahl von teils deutlich unterschiedlichen Behandlungs- und Versorgungsmodellen etabliert. Hier böte sich die Möglichkeit vergleichender Evaluationen zu Effizienz und Effektivität der unterschiedlichen Ansätze. Die Notwendigkeit solcher Evaluationen ist evident und wurde beschrieben (Hodgins, 2002), gleichwohl fehlen sie. (S. 139, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Patienten, die an einer Schizophrenie leiden, stellen die größte Patientengruppe im psychiatrischen Maßregel-vollzug dar, im hessischen Maßregelvollzug umfasst diese Gruppe jetzt 50% aller Patienten, nachdem ihr Anteil an den Einweisungen in den letzten 20 Jahren ständig zugenommen hat (Müller Isberner er al., 2006). Schizo-phrene Rechtsbrecher sind die Hauptursache für die europaweit zu beobachtende Zunahme forensischer Be-handlungsplätze (Hodgins et al., 2007a).
Was wissen wir über die Schizophrenen im Maßregelvollzug? Bemerkenswert wenig: ….
(S. 147, Autor_innen: Müller-Isberner/Beate Eusterschulte*/Hilla Müller) *Nachfolgerin von Müller-Isberner ab 2017

Der Anteil der Frauen in den forensischen Kliniken in Deutschland beträgt lediglich 5 bis 10%. Obwohl es mitt-lerweile vielerlei Forschungen zur Frage von Geschlechterunterschieden gibt, wurde Fragen bezüglich der weiblichen Population in den forensischen Kliniken bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. (S. 173, Autorinnen: Petra Bauer/Claudia Knörnschild)

… und willkürlich
Da im internationalen Vergleich, aber auch innerhalb derselben Jurisdiktion ,Erheblichkeitsschwellen' und ,Schuldfähigkeitsstandards' erheblich variieren, lassen sich von der Klientel Untergebrachter kaum verallgemeinernde Aussagen machen. (S. 65, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

„Krankheits“typen
Dissozialität
Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her kann Dissozialität sehr vielgestaltig sein. Die Bandbreite des dissozia-len Verhaltens variiert zwischen kleinen Lügen und Betrug in großem Stil, Manipulationen und parasitärer Aus-beutung, kleinen Sticheleien über Bedrohung bis hin zu offenen Tätlichkeiten und brutaler Aggression. Dissozia-lität kann sich in einfacher rezidivierender Delinquenz ohne psychopathologische Auffälligkeiten bis hin zu schwer konfliktträchtigen Verhaltensweisen, die in einem erkennbaren Zusammenhang mit psychopathologisch relevanten Auffälligkeiten der Persönlichkeit stehen, zeigen.
(S. 66, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

„Krankheits“bild Dissozialität entspricht dem Leitbild des Kapitalismus!
Die konditionale Annahme dissozialer Menschen lautet: Wenn ich andere nicht herumstoße, manipuliere, ausbeute oder angreife, bekomme ich nie das, was ich verdiene'. Instrumentelle oder imperative Annahmen sind: über-wältige den Anderen, bevor er dich überwältigt', Du bist jetzt dran', Greife zu, du verdienst es', Nimm dir, was du kannst'. (S. 67, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Patient_innenwillen und Zwang
Eigentlich: Patient_innenwillen vorrangig (steht selbst im Buch, aber von anderem Autor):
In der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO darf der Beschuldigte nicht gegen seinen Willen behandelt werden, auch wenn es medizinisch angezeigt erscheint. (S. 5, Autor: Thomas Wolf)

Tatsächlich: Klinik oder Justiz bestimmen
Behandlungserfolg misst sich in der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher nicht an den individuellen Anliegen und Zielen des Patienten, sondern an den normativen Vorgaben des gesetzlichen Auftrages zur Behandlung des Patienten. (S. 91, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Im Rahmen der psychopharmakologischen Behandlung kommt den rechtlichen Rahmenbedingungen eine besondere Bedeutung zu. Grundsätzlich hat der Untergebrachte hinsichtlich der Anlasserkrankung einen Rechtsanspruch auf eine Behandlung, wobei der behandelnde Arzt in der Auswahl und der Art des Einsatzes seiner Mittel ein Ermessen hat und zwar innerhalb dessen, was die anerkannten Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft ihm vorschreiben. … Letztlich bedeuten alle Formulierungen, dass kein Anspruch des Untergebrachten auf eine spe-zielle Behandlungsmaßnahme besteht, sondern nur eine nach dem Stand der Wissenschaft.
Auf der anderen Seite geben die Maßregelvollzugsgesetze nicht nur einen Anspruch auf Behandlung, sondern auch eine Rechtsgrundlage für die Behandlung, d.h. die Ermächtigungsgrundlage, die für den Eingriff in die Rechte des Patienten nötig ist. Eine Heilbehandlung kann die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 I, 2 I GG) beeinträchtigen.
(S. 206, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung eines nach § 63 StGB Untergebrachten richtet sich ausschließlich nach den landesrechtlichen Unterbringungsvorschriften, die von Bundesland zu Bundesland variieren (OLG Hamm, Beschluss vom 23.10.1986). Die Frage der Zwangsbehandlung tritt erst dann auf, wenn der Patient trotz Aufklärung keine Einwilligung zur medikamentösen Behandlung erklärt. Dabei ist grundsätzlich zu beachten, dass eine Verabreichung durch Täuschung bzw. eine heimliche Verabreichung als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen wird. Die Verabreichung darf nur auf Anordnung des Krankenhausarztes und unter dessen Aufsicht geschehen. Die Therapiewahl ist primär Sache des Arztes, dem die Rechtsprechung hier innerhalb dessen, was die anerkannten Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft ihm vorschreiben, einen Ermessensspielraum zuschreibt. …
In diesem Zusammenhang ist im März 2011 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen, die sich erneut mit der Zwangsbehandlung mit Neuroleptika und der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage (hier Rheinland Pfalz) befasst (BVerfG, 2 BrR 882/09 vom 23.03.2011). Das Gericht fordert den Landesgesetzgeber auf, die gesetzliche Regelung klarer zu fassen, insbesondere auch die Anforderungen an das Verfahren festzu-legen. Die Zwangsbehandlung an sich kann auch nach dieser Entscheidung unter engen Bedingungen gerechtfer-tigt sein. Es bleibt abzuwarten, wie die einzelnen Bundesländer auf die Entscheidung reagieren werden. …
Auch spielt die Therapiefreiheit des Arztes eine Rolle, weshalb die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist.
(S. 210f, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner, fehlerhafte Quellenangabe zum BVerfG im Original, muss „BvR“ heißen)

Patient_innen sprachlich wie eine Maschine
…der Patient sollte von der Klinik entsprechend eingestellt werden. (S. 11, Autor: Thomas Wolf)

Nachdem durch die Aufnahmeprozedur i. e. S. sozusagen der "äußere Rahmen" geschaffen wurde, geht es nun im nächsten Schritt darum, den neuaufgenommenen Patienten in den Behandlungsprozess der Maßregelvollzugsklinik zu integrieren. Umgangssprachlich formuliert: Der Patient soll befähigt werden, den Anforderungen einer Behandlung gerecht werden zu können. (S. 186, Autorinnen: Sabine Eucker/Petra Bauer)

Unterbringung, Freiheitsentzug
Dauer
Schnell drin … doch zäh, wenn es ums Rauskommen geht
Das Gegengewicht zur unbefristeten Dauer findet sich in der Prüfung der Notwendigkeit der Fortdauer, bei § 63 StGB jährlich, bei § 64 StGB halbjährlich. Die Fristen einzuhalten ist Aufgabe der StA13. Sie hat die Jahresstel-lungnahme der Klinik rechtzeitig (ca. sechs Wochen vor Ablauf) einzufordern und legt mit einem eigenen Antrag die Akten der StVK vor14. Hier ist zu entscheiden, ob ein Pflichtverteidiger erforderlich ist (zu dessen Person der Untergebrachte erst zu befragen ist und dem dann die Akten vorgelegt werden müssen), ob ein externes Gut-achten einzuholen ist (auch zur Person des Gutachters sind alle Verfahrensbeteiligten zu hören, und natürlich der Sachverständige selbst), ob die Anhörung durch die gesamte Kammer oder ein Bericht erstattendes Mitglied durchzuführen ist, es ist der Termin zu bestimmen und durchzuführen und sodann die Fortdauerentscheidung zu fertigen. Das dauert alles seine Zeit, Ungeduld ist nicht am Platze, der Patient sollte von der Klinik entsprechend eingestellt werden. (S. 11, Autor: Thomas Wolf)

Einziges Ziel: Nicht mehr gefährlich (erreichbar auch durch lähmende Chemie)
Bei dem psychisch kranken Rechtsbrecher ist ein Zustand zu erreichen, bei dem an die Stelle der Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten die Erwartung tritt, dass nunmehr keine solchen Handlungen mehr geschehen. Behandlung ist somit nicht Selbstzweck, sondern hat der Verbesserung der Kriminalprognose zu dienen. Ist diese hinreichend gebessert, ist der stationäre Behandlungsauftrag erledigt. (S. 53, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Doppel- und Zusatzbestrafung bei Kombination von Strafe und Maßregelvollzug
Zu den rechtlichen Bedingungen ist zu sagen:
• Die Unterbringung nach § 63 StGB ist unbefristet. Sie ist damit formal neben der lebenslangen Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung die schärfste Sanktion des StGB.
• Sie beginnt mit der Aufnahme in die richtige Anstalt; der Aufnahme und der Entlassungstag zählen voll, was z.B. bei der Krisenintervention zu beachten ist.
• Eine im selben Urteil ausgesprochene Strafe wird durch die Zeit des Vollzuges der Maßregel teilweise erledigt, es findet also eine (Teil )Anrechnung statt, und zwar so lange, bis zwei Drittel der Strafzeit solcherart erledigt sind, § 67 Abs. 4 StGB, in. a.W., das letzte Dritte der Strafe bleibt immer bestehen und wird ggf. zusammen mit der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt. Wenn zwei Drittel der Strafe allerdings schon vor Beginn des Maßregelvollzuges erledigt sind, z.B. durch Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO, dann kann man nichts mehr anrechnen. Die Beschrän-kungen der Anrechnung sowie die fehlende Befristung der Maßregeldauer führen immer wieder zu Missverständnissen bei den Untergebrachten (zwei Jahre Strafe, aber schon fünf Jahre Maßregel!).
Hier kann ein erhebliches Problem entstehen, wenn eine Strafe aus einem anderen Urteil noch nicht vollstreckt ist: Weil sie mit dem Verfahren, in dem die Unterbringung nach § 63 StGB verhängt wurde, nichts zu tun hat, kann die Zeit der Unterbringung auch nicht auf sie angerechnet werden. Eine Strafe kann aber frühestens nach der Hälfte ihrer Verbüßung zur Bewährung ausgesetzt werden, § 57 Abs. 2 StGB, bei Strafe und Unterbringung in demsel-ben Urteil § 67 Abs. 5 StGB. So kann es geschehen, dass der Untergebrachte eigentlich entlassungsreif ist, aber aus dem anderen Verfahren noch Strafe offen hat. Manchmal kann es sinnvoll sein, die andere Strafe in Unter-brechung der Unterbringung zu erledigen (bis zur Hälfte), manchmal gelingt es, diese Strafe im Wege der Gnade zur Bewährung aussetzen zu lassen; darüber entscheidet alleine die StA als Gnadenbehörde, allerdings nach Anhörung der StVK.
(S. 10f, Autor: Thomas Wolf)

Die Unterbringung in einer Maßregel stellt nach allgemeiner Meinung ein ,Sonderopfer' dar, das ein Straftäter, bei dem bestimmte Umstände vorliegen (Hang zu Straftaten bei § 66 StGB, Sucht bei § 64 StGB, psychisch kranker Zustand bei § 63 StGB) hinnehmen muss, was unter Umständen zu einem weit über das Maß der Schuld hinausgehenden Freiheitsentzug führen kann. (S. 47, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher unterscheidet sich grundlegend von der gängigen Behandlungspraxis in anderen Kontexten. Nicht der erkrankte Patient ist der Auftraggeber, sondern die Gesellschaft. Behand-lungsanlass ist nicht das Leiden des Patienten, sondern das Leiden der Gesellschaft unter dem Patienten. Der Behandlungsauftrag ist nicht primär die Gesundung des Patienten, sondern die Sicherung der Gesellschaft vor diesem Patienten. Pointiert formuliert, die Gesundung des Patienten ist in der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher nur Mittel zum Zweck'. Behandlung und Behandlungserfolg liegen nicht nur in der Verantwortung des Patienten, sondern in der der Behandler, die die rechtlichen Mittel haben, eine Behandlung gegen den Willen des Patienten auch dann, wenn der Patient nicht krankheitsbedingt eigengefährdet ist, durchsetzen zu können. Der Behandlungserfolg entscheidet über den weiteren Freiheitsentzug des Patienten. Die Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher findet in einem öffentlichen Kontext aus Behandlern, Patienten, Justiz, politischen Entscheidungsträgern und Öffentlichkeit statt, nicht in dem gesetzlich geschützten Vertrauensverhältnis der Arzt Patient Dyade. Behandlungserfolg misst sich in der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher nicht an den individuellen Anliegen und Zielen des Patienten, sondern an den normativen Vorgaben des gesetzlichen Auftrages zur Behandlung des Patienten. (S. 90f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Obwohl die selbst wissen: Freiheit ist besser als Einsperren
Die Meta-Analysen der Straftäterbehandlung zeigen, dass erfolgreiche Programme multimodal, hochstrukturiert, behavioral oder kognitiv behavioral und intern valide sind, mit Enthusiasmus betrieben werden, eher in Freiheit als in Institutionen stattfinden und eher auf hohe, denn auf niedrige Risiken zielen. Es werden Methoden angewandt, die dem handlungsorientierten Lernstil von Straftätern gerecht werden: Modelllernen, Rollenspiele, abgestufte Erprobung, Verstärkung, konkrete Hilfestellungen, Ressourcen Bereitstellung und kognitive Umstrukturie-rung. Diese Interventionen zielen nicht auf irgendwelche Persönlichkeitsauffälligkeiten, sondern auf solche Klientenmerkmale, die nach dem empirischen Kenntnisstand kriminogene Faktoren sind. (S. 81, Autor_innen: Mül-ler-Isberner/Eucker)

Selbstverstärkende Tendenz zu stärkerer Sicherung
Andererseits zeigt die Erfahrung, dass höher gesicherte Kapazitäten, so sie einmal zur Verfügung stehen, auch genutzt werden. (S. 89, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Autoritäre Strukturen in den Kliniken
Zu Beginn der Behandlung ist es wichtig, dass dem Patienten die Grundregeln der Institution klar und verständ-lich vermittelt werden. Hierzu gehören insbesondere Null Toleranz' Strategien bezüglich
• Gewaltandrohung und -anwendung,
• Entweichungen,
• Substanzkonsum und
• Behandlungsverweigerung.
(S. 98, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Seit Ende der 1980er Jahre wurden zunehmend allgemeingültige Grundregeln der Institution' implementiert. Diese beinhalten: Keinerlei Toleranz für
• Gewalt und Bedrohung,
• Rauschmittelgebrauch,
• Therapieverweigerung und
• Entweichungen.
Entsprechendes Fehlverhalten wurde nicht mehr ‚besprochen', sondern sanktioniert.
(S. 140f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Immer mehr Menschen werden eingesperrt … und bestimmte immer länger
In Hessen, wo Daten kontinuierlich erhoben wurden, ergibt sich folgendes Bild (Müller-Isberner et al., 2006): Während die Bevölkerung von 1990 bis 2006 um 7 % zunahm, verdoppelte sich die Anzahl der Einweisungen gern. § 63 StGB. … Die mittlere Stichtagsverweildauer ist in den letzten 20 Jahren angestiegen (1986: 4,4 J.; 2006: 4,8 J.). Dies lässt sich nicht mit den seit 1998 verschärften Entlassungskriterien erklären. Die Zahl der Ent-lassungen hat nach der Gesetzesreform nämlich nicht abgenommen. Die Gesamtbehandlungsdauer bedingt Ent-lassener hat sich nach der Gesetzesreform um ein Jahr verkürzt (1990-1993: 4,5 J.; 1994-1997: 4,7 J.; 1998-2001: 3,7 J.; 2002-2005: 3,8 J.). Gleichzeitig sind der Anteil von Unterbringungen, die über 10 Jahre andauern und der Anteil von Untergebrachten, die älter als 60 Jahre sind, angestiegen. Immer mehr Patienten werden immer schneller entlassen, während gleichzeitig ein immer höherer Anteil als dauerhaft gefährlich identifiziert wird und in der Unterbringung verbleibt (Müller-Isberner et al., 2006).
Die Einweisungszahlen bei den normalbegabten Persönlichkeitsgestörten sind unverändert geblieben. Die Entlassungszahlen aber haben sich halbiert.
Der Anteil von Patienten fremdkultureller Herkunft hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verzehnfacht. Der Ausländeranteil in der hessischen Bevölkerung ist im gleichen Zeitraum von 9,5 % auf 12,2 % angestiegen. Die Zunahme von Patienten mit fremdkultureller Herkunft trägt trotz 5-7 Abschiebungen pro Jahr also ganz wesentlich zur Belegungszunahme mit bei. Bemerkenswert ist, dass diese Patientengruppe, die gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung im psychiatrischen Maßregelvollzug noch vor 20 Jahren um den Faktor 3,7 unterrepräsentiert war, nunmehr um den Faktor 2,3 überrepräsentiert ist. Mittlerweile hat jeder dritte, als Behandlungsfall aufgenommene Patient einen frerndkulturellen Hintergrund.
(S. 85f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

… wurden die Daten aller Patienten herangezogen, die in den letzten zehn Jahren in der Vitos Klinik für forensi-sche Psychiatrie Haina aufgenommen wurden. Dabei handelt es sich um insgesamt 954 Personen (90,5% Männer und 9,5 % Frauen). Untersucht wurden hier Unterschiede bezüglich des Alters, des Familienstandes, des Deliktes, der Diagnose, des Ausländeranteils sowie der Risikofaktoren (Hare, 1991; Webster et al., 1998). (S. 175, Autorinnen: Petra Bauer/Claudia Knörnschild)

Lang, lang, lebenslang
Ende offen ... und von denen definiert, die am Patient_innen verdienen

Lockerungsgewährung setzt somit Behandlungsfortschritte voraus. Bleiben diese aus, fehlt die Basis für die Vollzugslockerung: Was nicht erlernt wurde, kann auch nicht ausprobiert werden. Es ist also schon vom rein Therapeutischen her begründbar, dass es in Einzelfällen nie zu Lockerungen oder Urlaubsgewährungen kommt. Angesichts dieser untrennbaren Verschränkung von Risikobeurteilung und Risikomanagement ist es uneingeschränkt zu begrüßen, dass die Maßregelvollzugsgesetze der Länder hier reine Ermessensnormen (Kann Vor-schriften) erlassen haben. (S. 34f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Wichtig ist, dass Nicht Entlassbarkeit' oder ungenügende therapeutische Erreichbarkeit' nicht automatisch mit hohem Sicherungsbedürfnis' gleichgesetzt wird. Gleichwohl gibt es aber eine Gruppe von Patienten, die therapeutisch nicht erreichbar und gleichzeitig erheblich flucht- und rückfallgefährdet ist. Bei diesen Klienten, bei de-nen sich in vielen Fällen auch die Frage nach der Richtigkeit der Schuldfähigkeitsbeurteilung im seinerzeitigen Erkenntnisverfahren stellt, führt kein Weg an einer Langzeitunterbringung bei hoher struktureller Sicherheit vorbei. Da diese Klienten regelhaft auch die Behandlung anderer Patienten negativ beeinflussen, sollten sie auf einer eigenen Station separiert werden. Ob man diese dann als ,long stay' oder ,Parkstation' bezeichnet, ist eine Frage von Geschmack und Ehrlichkeit. (S. 90, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Psychisch kranke Rechtsbrecher, die bei dem derzeitigen Stand der therapeutischen Möglichkeiten auf lange Sicht wegen des Fortbestehens ihrer Gefährlichkeit keine Entlassungsperspektive haben, stellen den psychiatrischen Maßregelvollzug nicht nur in Deutschland vor große praktische Probleme. Seit Mitte der 90er Jahre führten bei steigenden Unterbringungszählen Belegungsdruck und auch Kostenüberlegungen in den Niederlanden und in Deutschland zu der Einrichtung von Langzeitstationen innerhalb des psychiatrischen Maßregelvollzugs.
Untersuchungen in der Klinik für forensische Psychiatrie Haina weisen ebenso wie vergleichbare Zahlen aus den Niederlanden (zitiert nach Schalast et al., 2007) darauf hin, dass es sich bei der Gruppe der im Hinblick auf eine bedingte Entlassung aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug therapeutisch nicht erreichbaren Patienten um eine zahlenmäßig durchaus sehr große Gruppe handelt. Eine Erhebung im Rahmen eines Forschungsprojektes des Landschaftsverbandes Rheinland (Schalast et al., 2007) ergab, dass man im Jahr 2000 in der Klinik für forensische Psychiatrie Haina bei mehr als einem Drittel (102 von 285) der nach § 63 StGB untergebrachten Patienten zu der Einschätzung kam, dass sie auf lange Sicht nicht aus der stationären Behandlung entlassbar sind (Eucker, 2005).
(S. 136f, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Die langen Unterbringungszeiten bergen grundsätzlich das Risiko, dass "man sich Zeit lässt" …(S. 205, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Auch der keineswegs seltene Missbrauch des psychiatrischen Maßregelvollzuges als verkappte Sicherungsverwahrung und das Fehlen wirksamer Behandlungsmethoden bei einigen Patienten (z. B. ‘psychopath', Hare, 1991) wirft schwer lösbare ethische Fragen auf (Obersichten bei Shah, 1993; Müller-Isberner & Hodgins, 2000; Kielisch, 2005). (S. 253, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Institutionen der Macht
Allmacht Justiz

Ein rechtskräftiges Erkenntnis (s.o. altertümlich, aber gerne gebraucht für „Urteil“ oder „Gesamtstrafenbeschluss“) darf nicht geändert werden. … Ein rechtlich falsches Urteil ist falsch, aber eben rechtskräftig und deshalb bis in alle Ewigkeit gültig. Das ist fernab von jeder medizinischen Kunst, aber die Sicherheit eines gültigen Urteils ist ein zentrales Element des Rechtsstaates. (S. 15, Autor: Thomas Wolf, grammatikalischer Fehler im Original)

Zwangseinweisung als Folge versagender freiwilliger Angebote
Der überwiegende Anteil dieser Patienten war vor Begehung des Einweisungsdeliktes bereits mindestens einmal, meist aber vielfach, in psychiatrischer Behandlung gewesen. Die Behandlung in der Allgemein-psychiatrie hat aber nicht verhindern können, dass letztendlich eine Einweisung in den Maßregelvollzug notwendig wurde (Hodgins & Müller-Isberner, 2004). Bemerkenswert ist, dass es sich bei vielen dieser Menschen um unbequeme', in kein Behandlungskonzept passende Patienten handelt. Nicht wenige gelangten dadurch in den Maßregelvollzug, dass sie von ihren bisherigen Behandlern angezeigt worden waren. (S. 86, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Fixierung, Arrest usw.
Als spezifische Maßnahmen in der Akutbehandlung sind zunächst als originäre Aufgaben der Notfallpsychiatrie pharmakologische Interventionen zu nennen. Hier sei auf die gängigen Lehrbücher (z. B. Benkert & Hippius, 2005) verwiesen. Ist eine Gefährdung pharmakologisch nicht abzuwenden oder handelt es sich ausschließlich um ,kalte, instrumentelle Gewalt zur Durchsetzung von Forderungen', kommen als ultima ratio physikalische Sicherungen wie Absonderung von anderen Patienten, Fixierung, Fesselung und/oder die Unterbringung in besonders gesicherten Räumen, die immer sorgfältig zu überwachen sind, in Betracht. (S. 126, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Zwangsbehandlung und –medikamentierung
Wohl der Patient_innen als vorgeschobener Grund

Wenn man anerkennt, dass die zentrale Grundrechtseinschränkung im Maßregelvollzug die der Freiheit der Person ist, sollten Maßnahmen, die objektiv geeignet erscheinen, dem Untergebrachten eben jenes zentrale Grundrecht zurückzugeben, einer rationalen Diskussion auch dann zugänglich sein, wenn dies zu offenkundigen anderweitigen Eingriffen in die Grundrechte führt. Diese Einschränkungen müssen aber in den Maßregelvollzugs-gesetzen klar legitimiert werden. Die insgesamt zu beobachtende Tendenz, bei Reformen von Maßregelvollzugsgesetzen Grundrechtseinschränkungen nur noch aus Sicherheits-, immer weniger aber aus Behandlungsgründen zuzulassen, mag mit zu der bundesweit berichteten Zunahme der Verweildauern beigetragen haben. (S. 71, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Ziel tatsächlich: Gefährlichkeit reduzieren
Der psychopharmakologischen Therapie im Maßregelvollzug wurde in der Vergangenheit im Vergleich zu anderen therapeutischen Maßnahmen wenig Beachtung geschenkt. Da allerdings der größere Teil der Maßregelvollzugspatienten psychopharmakologisch behandelt wird, sollen an dieser Stelle einige grundlegende Strategien und Prinzipien im Rahmen psychopharmakologischer Behandlungsmaßnahmen erläutert werden.
Ziel jeder Behandlung auch der psychopharmakologischen Behandlung ist die Reduktion der Gefährlich-keit. Das bedeutet, dass der Behandler u.U. eine Abwägung treffen muss zwischen einem durch die Behand-lungsmaßnahmen bedingten erhöhten Risiko und der Aussicht, dass der Patient ein Mehr an Freiheit erlangt. Das bedeutet für die konkrete Behandlung, dass alle verantwortbaren psychopharmakologischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, um die Unterbringungsdauer kurz zu halten bzw. für den Patienten ein Maximum an Lockerungen zu ermöglichen.
Da die Patienten gegen den Willen untergebracht sind, keine freie Arztwahl haben und relativ wenig externe Kontrolle über die getroffenen oder zu treffenden medizinischen Maßnahmen erfolgt, liegt bei den Behandelnden eine besondere Verantwortung.
(S. 205, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Da der forensischen Fachklinik jedoch nicht nur die Besserung, sondern auch die Sicherung obliegt, beinhaltet der Tätigkeitsbereich der Pflegekräfte im Maßregelvollzug auch Sicherungsaufgaben. Die Prioritäten sind hier klar: Im Falle einer Konkurrenz zwischen Sicherung und Besserung hat die Sicherung immer Vorrang. Im Zweifelsfall stehen diese Sicherungsaufgaben vor dem Auftrag der Besserung. Der Schutz der Gesellschaft vor den Risiken, die eventuell von psychisch kranken Rechtsbrechern ausgehen, bildet einen besonderen Schwerpunkt, dem Rechnung zu tragen ist. In der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher ist es gerade auch in der Krankenpflege unerlässlich, Verständnis für deren spezielle Gefährlichkeitsproblematik zu entwickeln. (S. 215, Autor_innen: Marc Seitz/Gudrun Gaertner)

Illegale Verabreichung ohne Zulassung
Eine Pharmakotherapie der Dissozialität oder Delinquenz gibt es nicht. Im ,off label use' können Medikamente bei bestimmten Zielsymptomen/-syndromen aber hilfreich sein. (S. 34, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Zu dem Problem der geringen Evidenz kommt zudem das Problem, dass die empfohlenen Medikamente in der betreffenden Indikation unter Umständen gar nicht zugelassen sind, sodass in nicht unerheblichem Umfang im rechtlich problematischen Off label Bereich therapiert werden muss. (S. 207, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Eine Rechtsprechung hinsichtlich einer Off-label-Behandlung, d. h, ein Einsatz von bereits zugelassenen Arzneimitteln in einem nicht von der Zulassung umfassten Bereich, liegt für den Maßregelvollzug nicht vor. …
Allerdings kann der behandelnde Arzt im Maßregelvollzug aufgrund des gesetzlichen Auftrags der Besserung und Sicherung im Einzelfall (Erkrankung, Dauer der Behandlung, bereits erfolgte Vorbehandlungen mit anderen Medikamenten) zu einer anderen Bewertung kommen. Hier muss eine Diskussion hinsichtlich der Abwägung des Selbstbestimmungsrechts bzw. des Rechts auf körperliche Unversehrtheit des Patienten auf der einen Seite und der Verkürzung der Unterbringungszeit bzw. des Freiheitsrechtes des Patienten auf der anderen Seite geführt werden. Diese Abwägung wird in der Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs vorzunehmen sein. Letztlich bleibt auch hier abzuwarten, wie die Landesgesetzgeber auf die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes reagieren werden.
(S. 211ff, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Nebenwirkungen
Demgegenüber ist für Sexualstraftäter die prinzipielle Wirksamkeit einer hormonellen Behandlung in Bezug auf Rückfälligkeit empirisch gut belegt (Hall, 1995). Verweigerungs- und Abbruchraten bis zu 2/3 wegen Nebenwirkungen und der in der Regel generellen, nicht ausschließlich auf die sexuelle Devianz begrenzten Asexualisierung schränken jedoch in der Praxis Durchführbarkeit und Behandlungstreue erheblich ein. (S. 71, Autor_innen: Mül-ler-Isberner/Eucker)

Keine Aufklärung
Maßregelvollzugspatienten sind grundsätzlich über Behandlungsmethoden sowie Risiken der Behandlung oder Nichtbehandlung aufzuklären. Dieser Grundsatz kann allerdings in besonderen Ausnahmefällen aus therapeuti-schen Gründen Einschränkungen erfahren. (S. 208, Autorinnen: Beate Eusterschulte/Hilla Müller/Anne Rohner)

Folgen
Gesundheitliche Schäden bis Tod

Die Unterbringung nach § 63 StGB endet … durch Tod des Untergebrachten, was viel häufiger vorkommt als man zunächst denkt, angesichts der oft sehr schweren seelischen Erkrankungen der Klientel aber auch nicht verwunderlich erscheint. (S. 11, Autor: Thomas Wolf)

Schmutzige Tricks und offene Rechtsbrüche
Eigentlich: Rücksicht, Transparenz usw. vorgeschrieben

Für den verantwortlichen Umgang mit dem Doppelmandat ‚Behandlung und Sicherung' lassen sich Grundregeln ableiten, deren Bedeutung für die Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher leider häufig übersehen oder unterschätzt wird. Hierbei handelt es sich insbesondere um:
1. Transparenz, Ehrlichkeit und Fairness von Institution und Behandlung,
2. Benennung und Durchsetzung von Verhaltensgrenzen,
3. Berechenbarkeit von Belohnung, Anreiz und Sanktionierung,
4. Anforderungen an Entlassungsumfelder (Silver, 2001; Silver et al., 2002) und
5. mehrstufige Entscheidungsbildungs und kontrollebenen.
(S. 91, Autor_innen: Müller-Isberner/Eucker)

Tatsächlich: Tricks und Rechtsbrüche
Verlängerung der Zwangsunterbringung (hier: einstweilige Unterbringung)

…; die geplante Aussetzung schon im Urteil für sich genommen stellt nämlich keinen rechtlichen Grund für die Fortdauer der einstweiligen Unterbringung dar. Hier ist kluge Phantasie gefragt, warum ein Gutachten länger braucht. (S. 6, Autor: Thomas Wolf)

Disziplinarmaßnahmen jahrelang ohne Rechtsgrundlage und als Therapie kaschiert
Aus der Stellungnahme des Leiters der Vitos-Kliniken Haina/Gießen, Rüdiger Müller-Isberner, zum Entwurf des Hessischen Maßregelvollzugsgesetz (24.2.2015)
Disziplinarmaßnahmen werden in der Praxis (häufiger verdeckt) verhängt und müssen dann als therapeutische Maßnahmen oder besondere Sicherungsmaßnahmen deklariert werden. Dies führt fast immer zu Schwierigkeiten und Beschwerden, auch gerichtlichen. ...
Die Einführung von Disziplinarmaßnahmen führt in der Praxis nicht zu Einschränkungen der weiterhin möglichen therapeutischen Reaktionen bzw. besonderen Sicherungsmaßnahmen zum Erreichen des Vollzugsziels. Die bisherigen diesbezüglichen Verfahrensweisen haben teilweise damit lediglich endlich eine gesetzliche Grundlage.


Strafanzeige wegen offen zugegebener Taten ... wird nicht verfolgt

Anonyme Briefe aus den Vitos-Kliniken

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