Kritik der Konsumkritik

ANTIREPRESSIONS-DEBATTE

Autoritärer Repressionsschutz


1. Einleitung
2. Autoritärer Repressionsschutz
3. Erst verschweigen, dann kritisieren, dann ...?
4. Angriffe von links gegen kreative Antirepression
5. Streit um kreative Antirepression oder Schweigen in jedem Fall
6. Woher kommt der Hang zum Normalen?
7. Links zu verschiedenen Seiten zum Thema

Aufforderung im Befehlston ... zum Nichtstun, denn "Kein Wort mehr" (außer Personalien) ist der Befehl, keine Aktionen zu machen!
(die beiden unteren Zeilen dagegen sind präzise Hinweise und sinnvoll!) - Auszug oben: Infoblatt für Demos des EA Göttingen

Noch ein Dokument: Aufforderung, Aktions-Hilfsmittel gar nicht mitzunehmen (statt zu beraten, sie behutsam einzusetzen)

Einleitung
Der Streit um kreative Antirepression als offensive Aktionsform einerseits und dem "Anna und Artur halten's Maul" in Verbindung mit der Stellvertretung durch AnwältInnen, EAs und DemoanmelderInnen andererseits wurde jahrelang erbittert geführt. Offenbar war der Nerv von Bewegungskultur berührt. Abweichende Positionen wurden mit einer Vehemenz attackiert, die dann, wenn es gegen Staat, Konzerne oder andere Institutionen der Macht geht, nur selten bemerkbar ist. Daher: Vorsicht! Wer für kreative Antirepression eintritt, gerät schnell unter die Räder dominanter Politmackerei, in die Mühlen der Ausgrenzung oder die Abgründe der Gerüchteküche. Spitzelvorwürfe sind noch das Netteste - auch Prügel und immer wieder die Verhinderung von Veranstaltungen waren lange an der Tagesordnung. Lachender Dritter waren und sind Polizei und Justiz. Bisher jedenfalls, denn zum Glück weichen die Fronten allmählich auf. Das wird auch Zeit, denn solidarische Kooperation setzt nicht voraus, gleiche Meinungen zu haben. Ganz im Gegenteil: Solidarität ist nicht die Unterstützung der Gleichgesinnten. Die gibt es schließlich ohnehin. Sondern Solidarität bedeutet, auch die anders Gesinnten gegen repressive Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung zu verteidigen - und sei es, um hinterher mit ihnen zu streiten.
Allerdings: Die allmähliche Aufweichung der Fronten ist - zumindest anfangs - nicht das Ergebnis von Debatte und Veränderung, sondern darauf zurückzuführen, dass sich die AkteurInnen kreativer Antirepression nicht durch die geballte Gegnerschaft staatlicher und bewegungsinterner Repression haben beeindrucken lassen und inzwischen gegenüber Polizei und Gerichten bemerkenswerte Erfolge einfahren konnten. Das hat Aufmerksamkeit geschaffen, in deren Folge zahlreiche Einzelkontakte zunächst an den zentralen Apparaten vorbei entstanden, bis letztere selbst auch die Debatte über eine Koexistenz oder gar Kooperation mit dem bislang Ausgegrenzten begannen. Diese wenig prickelnde Geschichte der Ereignisse muss aber nicht verhindern, in der Zukunft einen anderen Umgang zu finden.

Das folgende ist eine Kritik an schematischer und als anti-emanzipatorisch empfundener Rechtshilfetätigkeit. Ausgewählt ist eine Broschüre des Rote-Hilfe-Bundesverbandes. Es hätte auch ein andere Heft von einer anderen Organisation sein können. Es geht nicht darum, die Herausgeber zu brandmarken, sondern sich in den Formulierungen zeigende Denken zu kritisieren.
Die Namensnennungen sind so auch bereits in den Originaltexten vorhanden, also keine Namensveröffentlichung, die Personen gefährden könnte.

Beispiel: Zitate aus Broschüre "Aussageverweigerung"

Warnung vor kreativer Antirepression (Auszug von S. 4 und 12)
Seit einigen Jahren aber nehmen wir als Rote Hilfe zur Kenntnis, dass viele Menschen bei der Polizei Aussagen machen, um entweder ihre eigene ›Unschuld‹ zu beweisen oder weil sie eingeschüchtert sind. ...
Gefördert wird ein solches Verhalten von Gruppen die einen "kreativen Umgang mit Polizei und Justiz" propagieren und damit von Repression Betroffenen das Gefühl vermitteln, die Polizei mit harmlosen Aussagen im Verhör ›austricksen‹ zu können. Aber: Es gibt keine ›harmlosen‹ Aussagen! Jede Äußerung hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen, entweder gegen dich oder gegen andere. Scheinbar ›entlastende‹ Aussagen können entweder andere belasten, oder der Polizei Tipps geben, nach weiteren Beweisen gegen dich zu suchen oder sie zu erfinden. Deshalb: Bei Polizei und Staatsanwaltschaft konsequente Aussageverweigerung! ...
Glaube nicht, die BeamtInnen austricksen zu können. Um sich was Schlaues zu überlegen ist jede Situation günstiger als die, wenn du auf der Wache sitzt.



Die Warnung ist offenbar wichtig - Ausschnitt aus der Startseite www.rote-hilfe.de (30.11.2007)


Als Ursache vieler fataler Pannen vor Gericht und Polizei werden nicht mangelnde Vorbereitung, sondern fehlende Kommandostrukturen und deren mangelnde Effizienz gerügt (S. 4)
Der Trend sich bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder vor Gericht zur Sache einzulassen zeigt, dass Wissen und Bewusstsein über den richtigen Umgang mit Polizei und Justiz nicht selbstverständlich sind. Das liegt vor allem daran, dass die Linke in ihrer Vielfältigkeit eher über lose als verbindliche Strukturen verfügt und damit eine generationsübergreifende Vermittlung bestimmter Grundsätze in der Regel nicht stattfindet.

Aussageverweigerung wird gleichgesetzt mit Klappe halten! (S. 4)
Es gibt keine ›harmlosen‹ Aussagen! Jede Äußerung hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen ...
... welche Konsequenzen eine Aussageverweigerung haben kann und warum es trotzdem richtig ist, die Klappe zu halten.


Zitat von der dazugehörigen Internetseite www.aussageverweigerung.info:
Die Abwehr beginnt mit dem Mundhalten bei Polizei und Staatsanwaltschaft; ... Alles was du sagst, werden die Sicherheitsorgane gegen dich und uns verwenden. ... Jede Äußerung hilft der Polizei immer bei ihren Ermittlungen, entweder gegen dich oder gegen andere.

Damit erfolgt aber eine Festlegung auf eine berechenbare Strategie gegenüber der Polizei (S. 6)
Grundsätzlich empfiehlt es sich, mit PolizeibeamtInnen nur das allernotwendigste zu reden (Verlangen nach Anwaltstelefonat, Toilettengang etc.) bzw. am besten einfach durchgängig zu schweigen. Es empfiehlt sich dringend, jeden Kontakt auf eine ausschließlich formale Ebene zu ziehen, das heißt z.B. sich nicht duzen zu lassen und die BeamtInnen zu siezen.

Unterordnung statt Selbstbestimmung
Immer wieder schimmert durch, dass vor allem Unterordnung erwünscht ist (S. 7, Anregungen zum eigenständigen Handeln finden sich nicht)
... auf Durchsagen der Demo-Leitung zu achten

Angst statt Aufklärung
Die Rote Hilfe arbeitet mit genau dem Trick, der auch Innenpolitiker prägt: Die Polizei sei überlegen, deshalb ist jegliche Handlung gefährlich, geht nach hinten los, gefährdet alles usw. Dass Schweigen ebenso interpretierbar und verdrehbar ist, verschweigt die Rote Hilfe dann jedoch fahrlässigerweise (S. 7)
Fröhliche Plaudereien, politische Diskussionen, aber auch Versuche, die PolizistInnen zu verarschen, sind einfach unangebracht und gehen nach hinten los.
Beispiel Vorkontrolle: Die bei einer Vorkontrolle offensichtlich scherzhaft geäußerte Bemerkung "Wir wollen zum Winterschlussverkauf" – über die die BeamtInnen ebenfalls lachten – fand Eingang in den polizeilichen Bericht über den Vorgang und wurde vom erstinstanzlichen Gericht als Täuschungsmanöver interpretiert, das die wahren Absichten verschleiern sollte.


Statt einer Aufklärung, was Aussage ist, findet sich ständig die verwirrende Gleichsetzung von Reden und Aussage (S. 8)
Redet darüber, dass es Sinn macht, ab sofort konsequent die Schnauze zu halten. ... Jedes Wort nach deiner Ingewahrsamnahme/ Festnahme ist eine Aussage!

Zusätzlicher Kommentar: Solche Sätze machen Angst. "Jedes Wort nach deiner Ingewahrsamnahme/ Festnahme ist eine Aussage!" - was macht die arme verhaftete Person, die da vor den Bullen sitzt, den Satz im Kopf hat und gerne auf Klo möchte. Statt aufzuklären (was emanzipatorisch wäre), wird hier eingeschüchtert und mit der Angst Verhalten normiert.

Widersprüchliche Tipps zur Hausdurchsuchung: Keine Infos an die Polizei, aber namentliche Kennzeichnung (S. 9)
Während einer Hausdurchsuchung werden die PolizistInnen vielleicht fragen "Wer wohnt hier denn noch?" und in dieser beschissenen Situation, im Gefühl des Ausgeliefertseins, der Angst, entsteht das Bedürfnis nach einem Gespräch – genau darauf warten die darauf ausgebildeten ErmitterInnen. ...
... in einer WG: Die einzelnen Zimmer namentlich kenntlich machen (damit nicht alle Zimmer durchsucht werden dürfen).


Kommentar: Kreative Ideen passen nicht zum normierten Denken. Das führt manchmal zu geradezu lächerlichen Ergebnissen. War bis zu dieser Stelle die ganze Broschüre noch voller Drohungen, ja nichts zu sagen, so soll nun plötzlich genau gekennzeichnet werden, wer welchen Raum bewohnt. Hier wird dann deutlich sichtbar, wieweit diese Art von Rechtshilfe letztlich der Polizei schlicht die Arbeit erleichtert. Aber wo Kreativität verpönt ist, sind ursprünglich sinnvolle Gedanken (Räume anderer zu schützen) eben nur innerhalb enger Denkbahnen umsetzbar. Sonst hätte hier gestanden, Phantasienamen o.ä. an die Zimmer zu kleben statt denen, die da wirklich wohnen.

Und leider immer wieder das Bild: Du bist doof, DeinE AnwältIn ist super (S. 10 und 13)
Alle möglichen Verteidigungsstrategien, wirklich alles ist auch nach umfassenden Gesprächen und nach Akteneinsicht durch deine VerteidigerInnen noch möglich! ...
Hier wollen wir kurz auf die Ermittlungsakte eingehen; bei vielen Verfahren mag der Anlass und der Vorwurf ja auf der Hand liegen, aber generell kann bis zur Einsicht in die Ermittlungsakte (über Anwältin/Anwalt) NIEMAND wissen, in welchem Zusammenhang genau ermittelt wird.


Kommentar: Das mit der Akteneinsicht ist eine rechtliche Falschauskunft. Auch ohne VerteidigerInnen ist Akteneinsicht möglich. Es sind vor allem RichterInnen, die Angeklagte mit dieser Plattitüde immer wieder belügen. Dass das nun auch von der der Roten Hilfe kommt, macht Angeklagte zu Objekten, die als dumm konstruiert werden und schweigen sollen. Stattdessen wird der ExpertInnenrepublik gefrönt: Die AnwältInnen sollen alles regeln, sie machen offenbar keine Fehler und geben die Strategien vor - obwohl sie von RichterInnen finanziell abhängig sind, mit StaatsanwältInnen und RichterInnen zusammen studiert sind und den kulturellen Code teilen. Das soll keine Aufforderung sein, auf AnwältInnen zu verzichten. Vorsicht ist aber schon geboten, sich durch diese nicht in die vor Gericht gewünschten Verhaltensmuster drängen zu lassen. Zudem bedeutet eine emanzipatorische Politik immer, Menschen zu Selbständigkeit zu verhelfen. Dieses wird hier deutlich verfehlt.

Gefahr des Schweigens (S. 10)
Da, wo die Betroffenen die Aussage total verweigern, ist es für die PolizistInnen entscheidend, die Beschuldigten zum Reden zu bringen – egal, über was. Ist erst einmal der Anfang gemacht und aus der Sicht der PolizistInnen der Durchbruch geschafft, ist schnell nichts mehr zu retten. Diese Einschätzung wird so auch in Bezug auf politische Verfahren in der entsprechenden Fachliteratur der Polizei vertreten.

Kommentar: Genau weil das so ist, können offensive Strategien in vielen Situationen oder für viele Menschen einfacher sein - vor allem, wenn sie gut vorbereitet/trainiert sind.
Nochmal erinnert - die Situation mit dem Wunsch, auf Klo zu wollen während einer Vernehmung. "Egal über was" stand aber in der Broschüre. Natürlich haben die AutorInnen damit nicht den Wunsch, pinkeln zu gehen, gemeint. Aber sie haben es eben so formuliert. Wahrscheinlich weil sie auf Kraftausdrücke und Befehlston stehen oder ihn für notwendig halten, weil sie die AkteurInnen eben als IdiotInnen im Kopf konstruieren.

Widersprüche
An einer Stelle gibt die Rote Hilfe sogar zu: Auch Schweigen bringt Informationen (S. 10)
Es ist kaum möglich, sich dieser Situation zu entziehen und selbst wenn du nichts sagst, keinen Kaffee und keine Zigaretten annimmst, so lieferst du damit doch ein Bild von dir, auf das sich die PolizistInnen in aller Regel schnell einstellen.

Und plötzlich ist sogar "Nerven" angesagt - wie geht denn das ohne jegliche Aktivität??? (S. 11)
Unter Umständen kannst du die PolizistInnen solange nerven, bis sie ein Telefonat mit deiner Anwältin/deinem Anwalt erlauben.

Politisch geführte Prozesse ohne jegliche Politisierung im Prozess - wichtiger sind auch hier Kollektivität, AnwältInnen usw., nur die Öffentlichkeitsarbeit bleibt da als politische Handlung erlaubt (S. 18)
In der Praxis zeigt sich, dass bei politisch geführten Prozessen mit der Frage, ob und welche Aussagen, Einlassungen und Erklärungen vor Gericht gemacht werden, sehr differenziert umgegangen werden muss. Alle Äußerungen, die von Seiten der/des Angeklagten gemacht werden, besitzen eine politische Tragweite, sowohl in der Prozessführung als auch nach außen. Dabei muss immer bedacht werden, dass Aussagen hier auch besonders viel Schaden anrichten können.
Unter politisch geführten Prozessen verstehen wir (im Idealfall):
• kollektiv vorbereitete, durchgeführte und nachbereitete Prozesse, und zwar durch Soli- und Prozessgruppen, EA oder Rote Hilfe,
• die juristische Vertretung erfolgt durch RechtsanwältInnen, die mit dem politischen Umfeld des/ der Angeklagten konstruktiv zusammenarbeiten,
• vor, während und nach dem Prozess wird Öffentlichkeitsarbeit gemacht,
• Voraussetzung dafür ist eine Grundübereinstimmung zwischen Angeklagten, Rechtsbeistand und Unterstützungsgruppen.


Im Schnellverfahren vor Gericht: Sei passiv! Tue nichts! (S. 20)
Wenn es zur Verhandlung kommt, solltest du auch nichts sagen (auch nicht zum Tatvorwurf oder zur Festnahmesituation) und nichts unterschreiben. Du solltest keine Anträge stellen und auch keine Einverständniserklärung abgeben, aber unbedingt Widerspruch gegen eine Verlesung von Zeugenaussagen etc. einlegen. Wirst du verurteilt, kannst du innerhalb einer Woche Berufung dagegen einlegen. Danach ist genügend Zeit, dich auf den Berufungsprozess vorzubereiten.

Kommentar: Das klingt nach einem Aufruf, sich widerstandslos abschlachten zu lassen. Das Bild mit dem Spruch von Funny van Dannen (siehe oben) auf der zweiten Seite der Broschüre bildet einen absurden Kontext zu dieser Passage - und auf der Seite mit diesem Text findet sich das Bild rechts ... gruselig!

Der folgende Satz der Roten Hilfe könnte auch gegen sie sich selbst gemeint sein (S. 34)
Lasst euch keine Angst machen.

Angstmache am Beispiel: Polizei ist superschlau! (S. 38)
Prinzipiell gilt, dass die MitarbeiterInnen der Repressionsorgane keine dummen Fragen stellen.

Das Ziel von allem: Die Rote Hilfe stärken, nicht die Angeklagten und politischen AkteurInnen - siehe das "Nur" (S. 47)
Nur eine kontinuierlich arbeitende und überparteiliche Solidaritätsorganisation, die mitgliederstark ist, bietet die Gewähr dafür, dass möglichst allen politisch Verfolgten in möglichst großem Umfang geholfen werden kann.

Gefährlich: Hoffen auf Solidarität kann trügerisch sein!
Rote Hilfe und auch manche EAs suggerieren, für alle da zu sein, zu helfen. Die Rote Hilfe behauptet von sich sogar, eine gemeinsame strömungsübergreifende Soli-Organisation zu sein. Das stimmt nicht. Wer den Anweisungen und Anforderungen von autoritären Rote-Hilfe-FührerInnen nicht folgt - und die sind vor allem im Westen Deutschlands weit verbreitet - wird schnell fallengelassen. Dann waren Zitate wie dieses nichts als Täuschung (von www.aussageverweigerung.info):
Wir lassen niemanden alleine, wenn du rauskommst, ist deine Wohnung nicht gekündigt, man kümmert sich um die kleinen, alltäglichen Probleme, Anwältin wird besorgt, usw.

Richtig aber ist auf jeden Fall: Keine Aussagen!
Allerdings: Statt des Kommandotons, wie er in der Broschüre vorherrscht, sollte genau erklärt werden, warum welche Verhaltensweisen gefährlich sein können. Und was eine Aussage ist - denn Aussageverweigerung ist notwendig und richtig. Schweigen und Passivität folgt daraus aber nicht zwingend! Die Warnung vor Aussagen in der Broschüre ist sinnvoll (S. 6):
Auch wenn dir Sachen vorgeworfen werden, mit denen du gar nix zu tun hast, möglicherweise auch Sachen, die du nie tun würdest – halte bitte trotzdem die Klappe. Was dich entlastet, kann jemanden anderes belasten. Hat von zwei Verdächtigen eine/r ein Alibi, bleibt der/die andere übrig. Auch Informationen darüber, was du nicht getan hast, helfen dem Staatsschutz, ein Gesamtbild gegen dich und andere zu konstruieren.

Mehr Beispiele aus der Roten Hilfe
Die Broschüre "Aussageverweigerung" ist das krasseste Beispiel autoritärer Einschüchterungspolitik der Roten Hilfe, untermauert mit Falschinformationen. Aber es ist nicht das einzige. Ständig findet sich in Texten ein Durcheinander von "Aussage", "Äußerung" und "jedes Wort". In der Regel wird das sogar gleichgesetzt. Jedes Wort ist dann eine Aussage und sollte unterlassen werden. Für die Betroffenen macht das viel Angst. Wie das eigene Telefonat, den Kontakt zum Anwalt oder den Gang zur Toilette durchsetzen, wenn "jedes Wort" schädlich sein kann? Wie gegen Maßnahmen Widerspruch einlegen, wenn alles, was mensch sagt, gegen eine_n verwendet werden kann?

Aus "Aussageverweigerung und Verhörmethoden" von Rote Hilfe vom 3.11.07 (Quelle: antiatomaktuell Nr. 185, S. 45)
Die Abwehr beginnt mit dem Mundhalten bei Polizei und Staatsanwaltschaft ... Dagegen hilft nur Mund halten: Alles was du sagst, werden die Sicherheitsorgane gegen dich und uns verwenden. ... Jede Äußerung hilft der Polizei immer bei ihren Ermittlungen, entweder gegen dich oder gegen andere.

Im Original: Weitere Zitate und Widersprüche
G8-Repression: Rote Hilfe will AktivistInnen auf die Rolle des Zuschauers zurechtstutzen
Rote-Hilfe-Funktionär Jan Steyer im Interview mit der Jungen Welt, 4.9.2007 (S. 3)
Frage: Wie kann man die Betroffenen unterstützen?
Die sinnvollste Solidarität ist die finanzielle Unterstützung. Wir bitten daher weiterhin um Spenden auf das Solidaritätskonto der Roten Hilfe. Mit dem Geld werden wir die Betroffenen bei der Bezahlung von Strafbefehlen, Anwalts- sowie Gerichtskosten unterstützen. Niemand soll allein auf den Kosten sitzen bleiben – diese Last sollte kollektiv von allen gemeinsam geschultert werden.
Anmerkung: Das ist die vollständige Antwort. Widerstand, Aktionen usw. kommen im Denken des Rote-Hilfe-Kaders gar nicht mehr vor. Stattdessen ist die Niederlage schon Teil des Konzeptes, denn die aufgezählten Kosten fallen nur im Rahmen einer Verurteilung an.

Defensives Verhalten pur
Aus "Freibrief für die Polizei" in: Junge Welt, 4.9.2007 (S. 3)
Die Rechtshilfe- und Solidaritätsorganisation Rote Hilfe rechnet mit über 3000 Verfahren, die im Laufe weiterer Ermittlungen durch Polizei und Justiz gegen linke Aktivisten eröffnet werden könnten. Zwar würden viele davon wahrscheinlich in Strafbefehlen münden, jedoch sei es klar im Interesse der Staatsanwaltschaft, anhand einiger Fälle Exempel zu statuieren, so die Rote Hilfe weiter.
Kommentar: Aus dem Blickwinkel kreativer Antirepression wären 3.000 Verfahren das Beste, was passieren kann. Alle mit kreativer Widerständigkeit geführt, würde die Justiz lahmlegen und Verurteilungen unmöglich machen bis erschweren. Was die Rote Hilfe hier hofft, nützt Polizei und Justiz - nämlich die Konzentration auf einige Modellverfahren und -verurteilungen.
Eine ganz ähnliche Formulierung fand sich auch in der Rote-Hilfe-Schrift zum G8-Gipfel (S. 69):


Aufruf zum Nicht-Handeln statt Ermächtigung zum Tun
Aus einem Aufruf über Spitzel in der Bewegung, die beim Castorprotest 2008 Fotos mit Handys machten (in: Interim 682, S. 26)
Jedes Foto, jeder Film (auch von Handys!!!) kann und wird vor Gericht gegen uns verwendet. Überlasst daher die Dokumentation des Widerstandes der Anti-Atom-Presse. Sprecht auch andere darauf an.

Jedes Wort ist zuviel ... aber ohne Worte auf Rechte bestehen ... bitte wie?
Verwirrend Widersprüchliches aus "Der Ermittlungsausschuß (EA) Köln informiert !!! Verhalten bei Demos, Aktionen, Festnahmen, Verletzungen und hinterher" ...
Nimm Deinen Personalausweis oder Paß, gegebenenfalls Aufenthaltsgenehmigung mit Meldebescheinigung mit. ...
... In Bezugsgruppen gehen ... Ketten bilden ...
... Verlange, den Grund Deiner Festnahme zu erfahren ... Alles, was Du hier sagst, wird gegen Dich verwendet. Nur nichts zu sagen ist sicher ! ... Telefongespräche. Bestehe darauf ... lege sofort Widerspruch ein ... Laß Dich auf keinerlei Gespräche ein ...


Für eine Neuauflage der Broschüre zu Aussageverweigerung wurde von einer Aktiven der RH der Vorschlag eingereicht, den Text zu Akteneinsichtsrecht wie folgt zu formulieren:

Sobald der Fall bei Gericht liegt, hast du als Angeklagte_r Akteneinsichtsrecht, es ist jedoch nicht immer einfach das gegenüber dem Gericht auch durchzusetzen und manchmal gibt es Einschränkungen (wenn z.B. „Rechte Dritter“ durch die Akteneinsicht „gefährdet“ sind, kann es zur Verweigerung oder Schwärzung von Teilen der Akte kommen).

In der endgültigen Version der Broschüre heißt es (ohne dass das mit der sSchreibenden Person nochmal rückgekoppelt worden wäre) dann:

Sobald der Fall bei Gericht liegt, hast du als Angeklagte_r Akteneinsichtsrecht. Dieses sollte allerdings durch eine_n Anwält_in beantragt werden, da dir selbst von der_dem Staatsanwält_in oder der_dem Richter_in nur die Teile der Akte zur Verfügung gestellt werden, die zur Verteidigung notwendig sind. Um welche Teile es sich dabei handelt, entscheidet die_der Staatsanwält_in bzw. die_der Richter_in. Neben diesen willkürlichen Entscheidungen bedeutet das für dich einen nicht unerheblichen bürokratischen Aufwand. Die_der Verteidiger_in erhält hingegen die gesamte Akte einschließlich Beweismittelordner und das in der Regel deutlich schneller, so dass mehr Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung bleibt. Darüber hinaus ist der juristisch geschulte Blick beim Aktenstudium überaus hilfreich.

Also weiterhin: Anwält_innen sind oberschlau, die Aktivistis hingegen eher blöd. Und das Akteneinsichtsrecht wird auch falsch dargestellt, um den Menschen den Mut zu nehmen, selbst zu agieren.


Beispiele aus der Rote-Hilfe-Schrift "Was tun, wenns brennt" (Seiten 14 und 15): Aufforderung, keine Anträge zu stellen. Damit würde der Beschuldigte zur totalen Passivität verdammt, denn (formale) Anträge sind gerade das Mittel, um - ohne Aussage zur Sache - aktiv in die Prozesse hinein zu wirken. Außerdem ist die Aufforderung in sich widersprüchlich mit der Wirkung, dass sie nur verwirrt, verängstigt und schwächt. Mensch soll keine Anträge ohne Anwalt stellen - aber wie kommt mensch dann an di*en Anwält*in??? Autoritäre Befehlslyrik ist halt nicht logisch ...


Beispiel: Der Reader "Tipps und Tricks für Antifas und Antiras" (2017, Unrast Verlag)
Die folgenden Zitate folgen innerhalb von vier Absätzen aufeinander (S. 70-72, die Seiten als PDF). Es geht darum, was mensch gegenüber der Polizei sagen mus bzw. sollte. Es fängt harmlos an:

Gegenüber der Polizei bist du nur verpflichtet, Angaben zu deiner Person zu machen, das sind ausschließlich: ...

Es folgt dann die Liste, was genauer gemeint ist (Name, Adresse usw.). Soweit so gut. Dann folgt direkt die klare Ansage:

Und das war's dann aber auch maximal! Keinen Ton mehr! Nichts über Eltern, Schule, Firma, Wetter ... ; einfach: gar nix!
Auch diese Angaben kannst du natürlich verweigern, nur lieferst du ihnen damit einen billigen Vorwand, dich zu fotografieren, dir Fingerabdrücke abzunehmen und dich bis zu zwölf Stunden festzuhalten - was sie aber, wenn sie wollen, ohnehin machen können. Ansonsten ist die Verweigerung der Personalien nur eine Ordnungswidrigkeit und kostet dich ein paar Hunderter Bußgeld.


Dann folgt eine Überraschung. War eben noch "gar nix" und "keinen Ton mehr" angesagt, folgt direkt im nächsten Satz das glatte Gegenteil:

Nach der Festnahme hast du das Recht, zwei Telefonate zu führen. Am besten rufst du den Ermittlungsausschuss, bzw. eine_n Anwältin_Anwalt an. Wenn dir - was häufig passiert - der Anrufverweigert wird, nerv die Polizist_innen so lange, bis sie dich telefonieren lassen, droh mit einer Anzeige.

Dann gibt es ein paar weitere Informationen. Einen Absatz weiter greift das Autor_innenkollektiv Schulschluss das Thema noch einmal auf - und jetzt gibt es wieder die Rolle rückwärts zum Anfangsdogma:

Jedes Wort nach deiner Festnahme ist eine Aussage!

Wer das aufmerksam liest und die absurde, autoritären Gedankenmuster linksradikaler Prägung nicht schon kennt und deshalb als Mackerei nicht ernst nimmt, dürfte nachhaltig verunsichert sein. Wie geht das: Die Polizei nerven, aber "kein Ton mehr". Wie mit einer Anzeige drohen, wenn "jedes Wort" eine Aussage ist? Befehle sind Befehle, aber nicht immer schlüssig.

Beispiel: Infokarte des EA Leipzig

Auch hier: "Keinen Ton mehr", gleich nochmal wiederholt (linke Aktive sind nämlich doof!?): "Einfach: gar nix!" ... und ein paar Wörter weiter: "Widerspruch einlegen" - ohne ein Wort zu sagen??? Verwirrender Kommando-Ton auf einer Infokarte des Ermittlungsausschusses (EA) Leipzig

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