Kritik der Konsumkritik

POLITISCHE BILDUNG ZUR DEMOKRATIE

Kapitel 1. Weshalb Demokratie?


1. Vorwort
2. Kapitel 1. Weshalb Demokratie?

Otmar Jung

1. Demokratie ist die Herrschaftsform der Freiheit
In einer Demokratie leben heißt, wesentliche Bereiche des Lebens nicht als Schicksal erfahren müssen. Demokratie schafft ein Ensemble von Institutionen und Verfahren, die es den Menschen erlauben, ihr Leben weitgehend selbst zu bestimmen und die gesellschaftlichen Angelegenheiten - gemeinsam mit anderen Menschen - selbst zu gestatten. So wird für den Einzelnen und zugleich für Alle die größtmögliche Freiheit erreicht, weiche die Menschen einander immer wieder neu zugestehen, indem sie bereit sind, sich - ebenfalls stets von neuem - über die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu verständigen. Die geltenden Rechtsverhältnisse sind nichts anderes als Ausdruck der vergangenen Verständigungsanstrengungen im Rahmen des Verfassungsstaates.
Wenn man über Demokratie spricht, sollten zunächst Utopien ausscheiden. Utopisch ist die Vorstellung des autarken - und daher auch autonomen - Einzelnen. Realistischerweise ist nicht von Robinson auf seiner Insel auszugehen, sondern von einer verstädterten Millionenbevölkerung, wobei die Menschen mannigfach gesellschaftlich abhängig sind (wer kann im modernen Leben auch nur seine Nahrungsmittel selbst produzieren, von allen anderen Bestandteilen der so genannten Daseinsvorsorge ganz zu schweigen?). Ebenfalls utopisch ist die Idee, eine solche große und komplexe Gesellschaft könne sich herrschaftsfrei selbst organisieren: der Traum der Anarchisten, aber auch die Prophezeiung der Klassiker des Kommunismus, wonach der Staat dereinst absterben und an die Stelle der Regierung über Personen nur "die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" treten sollte (...). Dass die Entwicklung im real existierenden Sozialismus" in die entgegengesetzte Richtung einer immer stärkeren Rolle des Staates verlief, sei nur nebenbei festgehalten. Der Anschauungsunterricht der Gegenwart aus Ländern, in denen der Staat "ausgefallen" ist (Somalia, Afghanistan), lehrt: Eine Gesellschaft steuert sich keineswegs von selbst durch Vernunft. Manches regelt eine radikale Anwendung des Marktprinzips von Angebot und Nachfrage. Weithin gilt einfach das "Recht" des Stärkeren, d. h. es regiert die Gewalt, etwa in Gestalt so genannter "Warlords", Kriegsherren, die über so und so viel Bewaffnete verfügen. Die Menschen und ihre Gesellschaft brauchen also den Staat. Eine Diskussion über Demokratie ist nur sinnvoll als eine Diskussion über eine Form staatlicher Herrschaft.
Herrschaft bedeutet immer, dass Freiheit eingeschränkt ist. Aber diese Einschränkung wird erträglicher, wenn die Menschen selbst an der Herrschaft mitwirken und wenn sie selbst bestimmen können, wer die Herrschaft ausübt und wie sie ausgeübt werden soll. Von der Gesellschaft insgesamt her gesehen verwirklicht demokratische Herrschaft in der Tat Selbstbestimmung: Die Gesellschaft eines demokratischen Staates ist grundsätzlich frei.
Vom Einzelnen her betrachtet sieht die Lage anders aus. Schon aus Gründen praktischer Entscheidungsfindung muss in der Demokratie ja das Mehrheitsprinzip gelten - die Alternative wäre ein unendliches Palaver bis zum irgendwann einmal erreichten Konsens Aller, womit ein Staat handlungsunfähig würde. Wenn aber die Mehrheit entscheidet, fühlt sich die unterlegene Minderheit auch in der Demokratie durchaus - mit Recht! - "fremdbestimmt". Für sie erweist sich sogar der demokratische Staat als Herrschaftsorganisation, die sie notfalls in eine Richtung zwingt, in die sie selbst gar nicht will.
Damit die Menschen auch diese Erfahrung der Herrschaft noch hinzunehmen bereit sind, hat die rechtsstaatliche Demokratie Vorkehrungen entwickelt, die alle auf dem Grundsatz basieren: Die Mehrheit darf keineswegs alles machen, was sie will.

  • Erstens: Bestimmte, höchst wichtige Lebensbereiche sind der staatlichen Bestimmung - und damit der Geltung des demokratischen Mehrheitsprinzips - überhaupt entzogen. Historisch entwickelt hat sich dieser Gedanke bei der Religionsfreiheit: Was ich glaube, unterliegt prinzipiell keiner Fremdbestimmung. Notfalls vertrete ich meine Oberzeugung allein gegen alle. Im modernen Staat sind in dieser Weise alle Grundrechte des Einzelnen der staatlichen Verfügung entzogen (wenngleich es um des Zusammenlebens in der Gemeinschaft willen selbstverständlich Schranken der Grundrechte geben muss).
  • Zweitens: Grundentscheidungen der Gesellschaft kann nicht die einfache Mehrheit treffen und dann die - womöglich starke - Minderheit zum Rechtsgehorsam auffordern, sondern diese Entscheidungen müssen von einer breiten Mehrheit getragen werden. Nur wenn die Minderheit sozusagen unter die Grenze der Erheblichkeit sinkt, wird ihr Nachgeben zugemutet. Dieser Ansatz liegt den modernen Verfassungen zugrunde, die - im Unterschied zum einfachen Gesetzesrecht - denn auch nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden können. Beim Grundgesetz bedarf es einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, aber es gibt auch Staaten mit noch höheren Anforderungen.
  • Drittens: Demokratische Entscheidungen müssen grundsätzlich revidierbar sein, damit die unterlegene Minderheit die Chance hat, demnächst - bei Wahlen - zur Mehrheit zu werden und dann eine neue Entscheidung in ihrem Sinne zu treffen. Diese Maxime ist nicht immer durchzuhalten. Manchmal stehen technische Zwänge dagegen: Ein Beispiel bietet die friedliche Nutzung der Atomenergie. Wenn ein Atomkraftwerk einmal in Betrieb gegangen ist, kann man es zwar wieder abschalten, aber die gesamte Problematik des Schutzes vor radioaktiver Strahlung bzw. der Entsorgung strahlenden Materials ist in der Welt und als solche nicht mehr "rückgängig" zu machen. Gleichwohl behält die Maxime im politischen Bereich ihren Sinn. Von daher ist es prinzipiell nicht demokratisch, wenn Politikerinnen und Politiker nicht nur eine Entscheidung treffen, sondern darüber hinaus erklären, sie wollten diese Entscheidung "unumkehrbar machen". (...) Damit maßen sie sich Herrschaft an über die Zeitspanne hinaus, für die sie zum Regieren befugt sind. Die Umkehrbarkeit von Entscheidungen gibt den periodischen Wahlen sachpolitische Substanz. Wenn in der Sache "doch nichts mehr zu ändern" ist, verlieren Wahlen einen Gutteil ihres Sinns.

Dank dieser drei Vorkehrungen wird in der Demokratie zwar nicht die weitest denkbare, aber die - angesichts der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft und staatlicher Entscheidungsfähigkeit - größtmögliche Freiheit der Einzelnen erreicht.
Was man üblicherweise als die Einrichtungen und Verfahren der Demokratie kennt, sind durchweg Produkte einer altehrwürdigen Rechtskultur, vor allem seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Verfassung, Parlament, Wahlen, Abstimmungen, aber auch Rechnungshöfe, Verfassungsgerichte und Rechtsregeln für Parteien sind aus einer Fülle praktischer politischer Erfahrung "gereift". In Deutschland hat sich dieser Reifungsprozess besonders schmerzlich vollzogen, weil das Land und seine Menschen durch verschiedene Staats- und Regierungsformen mit verlustreichen Brüchen dazwischen hindurchgingen: konstitutionelle Monarchie, demokratische Republik von Weimar, nationalsozialistische Diktatur, demokratischer Neubeginn unter alliierter Aufsicht. Die USA und Großbritannien haben insoweit eine glücklichere Geschichte erlebt. Gleichwohl besteht heute auch in Deutschland durchaus Grund zur Zufriedenheit: Demokratie ist die Herrschaftsform der Freiheit. Sie ist nach utopischem Maßstab nicht ideal, und sie ist praktisch immer verbesserungswürdig. Aber eine grundsätzlich überlegene Lösung des Herrschaftsproblems ist weit und breit nicht zu sehen.

2. Demokratie verwirklicht die praktisch mögliche Bestenauslese
Das demokratische Prinzip, Ämter durch Wahl und auf Zeit zu vergeben, führt mittel- und langfristig zu der praktisch möglichen Bestenauslese. Spätestens bei der Nachfolgefrage wird die Überlegenheit jenes Prinzips deutlich. Die Ablösung einer verbrauchten Führung vollzieht sich in der Demokratie dank der periodischen Wahl geradezu elegant. Im so genannten parlamentarischen Regierungssystem nutzt die Demokratie die Kraft des Wettbewerbs zweier politischer Mannschaften: Die eine Mannschaft - die Regierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit - übt gerade die politische Macht aus, während die andere - die parlamentarische Opposition - bereitsteht, um mit vergleichsweise geringen Einarbeitungskosten die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Das demokratische Prinzip, Ämter durch Wahl und auf Zeit zu vergeben, verwirklicht nicht nur den Anspruch einer Gesellschaft auf Selbstbestimmung (Input). Sie führt auch im Ergebnis zu der praktisch möglichen Bestenauslese (Output). Pointiert gesagt: Demokratische Herrschaft ist die wahre Aristokratie (und keine fingierte oder angemaßte wie bei der Herrschaft eines Geburtsadels). Diese Aussage mag nicht einleuchten, wenn man einzelne große Monarchen oder charismatische Führer mit diesen oder jenen demokratischen Politikern vergleicht. Aber sie ist mittel- und langfristig wahr, und dies nicht etwa, weil man in der Demokratie so viele gute politische Führer bekäme, sondern weil man die schlechten so rasch Jos wird". Es handelt sich also nicht eigentlich um eine Auswahl der Besten, sondern um die Ausscheidung der Schlechtesten - auch so kann man die durchschnittliche Qualität heben, ein Gedanke, den Karl Popper eindrucksvoll formuliert hat (...).
Demokratische Herrschaft ist kurze Herrschaft. Ober das Prinzip der Ämterverleihung auf Zeit hinaus sorgen zum Beispiel Wiederwahlklauseln dafür, dass der US-Präsident nicht länger als acht Jahre (zweimal vier) oder der französische Staatspräsident nicht länger als zehn Jahre (zweimal fünf) im Amt ist. Aber selbst da, wo keine Rechtsbestimmung die Wiederwahl begrenzt, führen die regelmäßigen Wahlen und der auf den Akteuren lastende Erfolgsdruck dazu, dass sie nicht "ewig" regieren. Die 14 Jahre der Kanzlerschaft Konrad Adenauers und gar die 16 Jahre der Regierung Helmut Kohls kommen einem in der demokratischen Republik schon sehr lange vor; als normal gelten eher die Amtszeiten der anderen Kanzler, die zwischen knapp drei (Kurt Georg Kiesinger 1966-1969) und achteinhalb Jahren (Helmut Schmidt 1974-1982) lagen. Regelmäßige Wahlen und Erfolgsdruck bedeuten tendenziell auch Herrschaft Jüngerer, während davon gelöste Herrschaft unvermeidlicherweise zur Überalterung der Regierenden führt. Gut erinnerlich sind noch die "Gerontokraten", die vergreisten Diktatoren der Sowjetunion, der DDR und der Volksrepublik China, und als eine Art politisches Fossil erscheint der Revolutionsführer Fidel Castro, der Kuba seit über 43 Jahren regiert.
Das Problem ist immer, dass die Ablösung einer verbrauchten Führung in solchen Regierungsformen nur mit Gewalt bzw. um den Preis einer politischen Katastrophe möglich ist. Bei periodischer Wahl und Ämtervergabe auf Zeit hingegen lösen sich diese Probleme geradezu elegant. Im so genannten parlamentarischen Regierungssystem steigert die Demokratie noch den positiven Output, indem sie die Kraft des politischen Wettbewerbs nutzt. Während andere Regierungsformen sich mit der Frage quälen "Und wer kommt dann?", arbeitet dieser Typ von Demokratie - vergleichbar den redundanten Systemen bei anspruchsvoller Technik (zwei voneinander unabhängige Computersysteme für eine Raumfähre) - institutionell mit doppelter Besetzung durch zwei politische Mannschaften: Die eine Mannschaft - die Regierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit - übt gerade für eine bestimme Zeit die politische Macht aus, während die andere - die parlamentarische Opposition - in dieser Zeit erstens durch ihre Kritik anspornt und zweitens bereitsteht, um mit vergleichsweise geringen Einarbeitungskosten die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

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