Fiese Tricks von Polizei und Jostiz

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF: KONTROLLWAHN IN ANARCHISTISCHER THEORIEN UND PRAXIS

Anarchismus von Polizei bis Knast


1. Anarch@s für Kontrolle
2. Anarchismus von Polizei bis Knast
3. Spätestens in der Krise: Demokratisierung von Entscheidungsprozessen
4. Naives Machtverständnis: Hierarchien schöngeredet
5. Gegenentwürfe: Herrschaftskritische Positionen
6. Links

Offenbar trauen AnarchistInnen ihren eigenen Ideen nicht. Gilt Anarchie nur für Schönwetterphasen, also wenn sich alle lieb haben? Muss dann die Keule her, wenn das nicht klappt - sei es in Form von demokratischer Entscheidungskultur oder als anarchistische Polizeitruppen? Wer aber hat oder ist diese, solange sich alle lieb haben? Das bleibt zwar oft verborgen, beeinflusst aber jede Kommunikation durch die Option, jeden Streit im Falle des Falles auch anders entscheiden zu können?

Polizei und Überwachung
"Was ist aber, wenn ...?" ist eine beliebte Frage, wenn es um das Ende von Autorität geht. Menschen sind vollgepumpt mit Ängsten. Es herrscht eine umfassende Angstkultur, denn Angst ist eine wesentliche Legitimation der Autorität, die sich dann als Schutzpatron der Ängstlichen inszenieren kann. Wenn den Menschen klar würde, dass Gewalt und Kriminalität vor allem aus dem eigenen Bekanntenkreis heraus geschehen, dass Armut keine Folge fehlender Ressourcen ist, sondern gezielter Verteilung zu Schaffung profitabler Mängel - bestände dann nicht die Gefahr, dass die Legitimation der Autorität dahin wäre? Also wird Angst geschürt. In der Folge wünschen sich viele Verängstigte dann einen Schutz herbei - und schon dient sich derjenige als Schutz an, der eben noch die Angst selbst geschürt hat.
AnarchistInnen scheinen davon nicht frei zu sein. In ihren Veröffentlichungen blenden sie solche Themen aus oder verfallen selbst in die Idee, die unerwünschte Abweichung mit autoritärer Gewalt zu bekämpfen.

Im Original: Anarchistische Polizei und mehr
Aus Darwin Dante (1993): "5-Stunden sind genug", Manneck Mainhatten Verlag in Frankfurt
Aus den "Prinzipien einer herrschaftsfreien Gesellschaft":
Freiheit und Leben eines jeden Menschen sind unantastbar, es sei denn, er verstößt wissentlich gegen die existentiellen Lebensrechte anderer Menschen. ... Die Bewohner einer Landesregion besitzen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht und stellen in örtlichen Vollversammlungen ihren Mehrheitswillen fest. D.h. die gemeinsamen Handlungsziele einer Bevölkerung werden durch ihren Mehrheitswillen in direkten basisdemokratischen Abstimmungen bestimmt.
Zur Durchsetzung des Mehrheitswillens darf es auf keinen Fall zur Schaffung eines institutionalisierten befehlsempfangenden Gewaltapparates (z.B. als stehende Polizei) kommen, da ein solcher Gewaltapparat immer gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung (zur Durchsetzung des Willens einzelner) entarten wird. Das Recht auf Gewaltanwendung muß immer bei den Bewohnern eines Landes belassen werden und direkt bei denen bleiben, die durch ihren Mehrheitswillen das Recht bestimmen
.

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 28)
"Anarchie ist ... eine Regierungsform oder Verfassung, in welcher das öffentliche und private Gewissen ... allein zur Erhaltung der Ordnung und Sicherstellung aller Freiheiten genügt, in welcher also das Autoritätsprinzip, die polizeilichen Einrichtungen, die Steuern usw. auf das einfachste beschränkt sind, in welcher ... die Zentralisation - durch föderative Einrichtungen und kommunale Gebäude ersetzt - verschwinden." (Proudhon, zitiert nach Souchy in Borries u. a. 1970, 11 f.)


Wie solche Gedankenwelten sich in der Praxis auswirken würden, ist schwer abzuschätzen, denn anarchistische Entwürfe sind weit weg davon, Wirklichkeit zu werden. Selbst in kleinen Subräumen und Organisierungen, in denen anarchistisch orientierte Menschen zusammenkommen, besteht kaum Neigung, die eigenen Idee einmal auszuprobieren. Meist überwiegen demokratische Strukturen mit etwas flacheren Hierarchien als in der umgebenden Gesellschaft - was angesichts der hohen kulturellen Ähnlichkeit der dort aufeinander treffenden Personen aber auch nicht besonders schwer ist. In einigen Fällen sind die Hierarchien im Vergleich zur Umwelt aber sogar gesteigert - nämlich wenn es um politische Dominanz geht. Die Aussicht auf Medienpräsenz, Redezeit auf Kundgebungen oder Spendengelder ruft regelmäßig scharfe Hegemonialkämpfe hervor.

Interne Kontrolle
Ein drastisches Beispiel, wie schnell die Schönwetterlage innerhalb von Gruppen in offene Autorität umschlagen kann, zeigte das antirassistische Camp 2004 in Jena. Eingangskontrollen und endlose Plena deuteten bereits an, dass hier "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" herrschte. Der Höhepunkt war dann eine Camppolizei, die das Recht hatte, Personen, denen Vorwürfe unerwünschten Verhaltens gemacht wurden, "festzunehmen" und in einem dafür bereitgehaltenen Zelt "einzusperren", bis sich die Lage geklärt hatte (was dann auch noch ein seltsames, bürgerliches Verständnis von Wahrheitsfindung zeigte).

Im Frühjahr 2012 wurde eine schon verabredete Veranstaltung mit Lesung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" aus der "Libertären Messe" in Bochum (August 2012) wieder gestrichen - zensiert! Doch von denen, die zensieren, wird das noch nicht einmal so gedacht. Sie lassen den Buchverkaufstisch zu und benennen das "Kompromiss". Damit zeigen sie, dass sie sich auch noch weitergehende Zensurmaßnahmen gut vorstellen könnten.

Im Original: Mailwechsel zum Verbot in Bochum
Mail am 1.5.2012
wir können die veranstaltung mit titel "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen: Grundlegungen für eine herrschaftsfreie Welt" nicht machen. es gab im vorfeld starke bedenken in bezug auf frühere verhaltensweisen deiner person, die wir nicht so bei seite schieben können und jene sonst die anderen veranstaltungen überschatten würden. wir bitten darum diese entscheidung zu respektieren.
diese entscheidung ist unabhängig von dem geplanten verlagsstand, der natürlich nicht davon betroffen ist. der verlag ist auch ein teil des libertären spektrums den es abzubilden gilt. letztendlich kann das entsprechende buch auch da angeboten werden.
libertäre grüsse faudu4


Rückfrage am 2.5.2012:
Ähmmm ... also jenseits aller anderen Gedanken dazu: Die Begründung finde ich so nicht akzeptabel. Mensch kann sich dazu gar nicht verhalten. Letztlich steht da: Irgendjemand hat irgendwas zu irgendwann behauptet. Das hat den Vorteil, weder kritisiert noch bestritten noch widerlegt werden zu können, weil nichts ausgesagt ist. Lässt sich da irgendwie mehr zu kommunizieren? Zumal auch noch verlangt wird, dass ich das respektieren möge - bislang ist mir nicht recht klar, was ich da warum respektieren soll.

Antwort am 2.5.2012
natürlich ist die begründung leider etwas schwammig. tatsächlich bezieht sie sich auf das damalige verhältnis zum vs. und die entscheidung, die es zu respektieren gilt, ist die gruppenkonsens absage zur veranstaltung hinzunehmen. trotzdem finden wir das es ein ausreichender kompromiss ist, wenn du mit dem verlag ausstellen kannst.

Die Liste ist eher lang als dass es nur Ausnahmen wären: In den identitär-anarchistischen Strömungen findet Ausgrenzung und Zensur statt. Auf der Buchmesse Mannheim teilte ein Redakteur der Zeitung "Gaidao" auf Nachfrage mit, dass Artikel des Autors Jörg Bergstedt in der Zeitung nicht abgedruckt würden - "nicht wegen der Inhalte des Artikels, sondern wegen der Person".


Strafen, Überwachen, Recht und Gerichte
Die Logik von Kontrolle, Wahrheitsfindung und Strafe wird selbst in den romanhaften Utopien der AnarchistInnen selten verworfen. Obwohl die AutorInnen hier vom Hickhack des Alltag freier sind, ringen sie sich nicht zu Entwürfen durch, die die bürgerlich-rechtsstaatliche Gedankenwelt hinter sich lassen. Offenbar fehlt das Vertrauen in die Kommunikation und die freie Vereinbarung. Wenn alles gut läuft, können Menschen sich miteinander einigen. Läuft es schlecht, mischt sich die Autorität ein - Anarchismus wird hier zum Plagiat demokratischer, d.h. zur Zeit rechtsstaatlich-kapitalistischer Gesellschaft.

Im Original: Strafe muss sein
Aus Stehn, Jan (1995): "Eine Struktur für die Freiheit"
Der politische Bereich - vier regionale Räte ...
Der Konfliktrat ist den anderen Räten übergeordnet und wird aktiv, wenn er angerufen wird, von Menschen, die sich in ihrer Freiheit ungerechtfertigt beschränkt oder geschädigt sehen. ... Der Konfliktrat mobilisiert die gesellschaftliche Selbstverteidigung gegen Menschen, die (wiederholt) sich der Bearbeitung eines Konfliktes verweigern: Öffentliche Nennung des Konfliktes und des 'Konfliktverweigerers', sozialer und ökonomischer Boykott, Beschlagnahmungen u.ä. ...


Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995)
Das wirksamste Machtmittel der Gesellschaft ist deshalb die soziale Ächtung und der wirtschaftliche Boykott von Rechtsbrechern und Gewalttätern. (S. 9)
Bei Konflikten, sei es zwischen Privatleuten oder mit und zwischen den Räten, kann der Konfliktrat angerufen werden. Er ist allen anderen Räten übergeordnet, denn im Konfliktfall ist er oberste Entscheidungsinstanz. ...
Über verschiedene Sanktionsmittel haben wir innerhalb der Utopie-AG diskutiert:

  • Beschlagnahmung von Einkommen und Vermögen,
  • Öffentlichmachung des Konfliktes mit Namen des verantwortlichen 'Konfliktverweigerers'
  • Aufruf zu verschiedenen Formen des sozialen und ökonomischen Boykotts gegen den Verweigerer,
  • demonstratives 'Begleiten' des Verweigerers, 'Schutzwachen',
  • Überwältigen und auf einer Insel aussetzen ...
Wieder ist es eine Gratwanderung, einerseits der Politik so wenig Machtmittel wie möglich in die Hand geben zu wollen und andererseits der Notwendigkeit, daß sich die Gesellschaft gegen rücksichtslose und machtorientierte Menschen schützen muß. ...
Zur Lösung von Konflikten zwischen den Regionen bestimmen die regionalen Konflikträte einen überregionalen Konfliktrat, der angerufen werden kann, ...
(S. 19 f.)

Aus "Die Wahrheit von morgen" in: Direkte Aktion März/April 2013 (S. 12)
Wenn man den Anspruch ernst nimmt, dass irgendwann alles allen gehören soll, dann darf man keine Cliquen dulden, die allein ihre Interessen durchsetzen, sondern benötigt basisdemokratische Kontrollinstanzen, die den gesamtgesellschaftlichen Anspruch aufrechterhalten. Denn Anarchie ist ja schließlich nicht Chaos, sondern, wie es so schön heißt "Ordnung ohne Herrschaft".

Solange die Idee von Sanktion als Reaktion auf unerwünschtes Verhalten existiert, wird das reale Geschehen mit dem Freiheitsanspruch kollidieren. Sanktion, da ist die bürgerliche Gesellschaft sogar ehrlicher, dient keiner Konfliktlösung und auch nicht dem Schutz der Betroffenen. Stattdessen geht es um die "Sicherung des Rechtsfriedens", wie es das Bundesverfassungsgericht als Ziel von Strafe beschreibt (2 BvR 716/01). Sanktion soll also der abstrakt-autoritären Ordnung Akzeptanz verschaffen - ein unmittelbar anti-anarchistisches Ziel. Fast bemitleidenswert hilflos erscheinen da Versuche, bei gleichzeitiger Befürwortung von Sanktion dieser wenigstens das Hierarchische nehmen zu wollen mit den Beschönigungen, in einer Räterepublik wären RichterInnen mit den Angeklagten irgendwie "gleich" oder die RichterInnen nur freundliche KonflikthelferInnen (klingt irgendwie nach modernen Polizeistrategien ...).

Im Original: Irgendetwas wie Gerichte ...
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (mehr Auszüge)
Da der Anarchismus den Kampf bejaht, kann er nicht eine Abstufung zwischen den äußeren Kampfformen vornehmen und eine Grenze ziehen, jenseits deren der Kampf verneint wird. Auch die Anwendung von Zwang ist nicht allgemein im Widerspruch zu anarchistischern Verhalten. Ein im Kampf bezwungener Gegner muß selbstverständlich verhindert werden, den Kampf weiterzuführen. Ein sozialer Schädling muß genötigt werden, sich in die Notwendigkeit der gemeinsamen Lebensgestaltung einzufügen. Solche Verhinderung und Nötigung ist Zwang. Unzulässig im Sinne anarchistischer Auffassung werden Gewalt und Zwang erst, wenn sie im Dienste einer Befehlshoheit stehen, und daraus erklärt sich eben die oberflächliche Gleichsetzung der drei Begriffe, dass der Staat kraft seiner Macht den Alleingebrauch Gewalt für sich in Anspruch nimmt. Der Anarchismus ist gegen Staatsgewalt und Staatszwang, weil er gegen Staatsmacht ist. Um der Sauberkeit des Denkens willen muß aber unterschieden werden: Gewalt ist Kampfhandlung, bloßes Mittel zur Erreichung eines Zwecks; Zwang ist Maßregel im Kampf und Mittel zur Sicherung des erreichten Kampfzweckes, Macht ist ein Dauerzustand von Gewalt und Zwang zur Niederhaltung von Gleichheitsgelüsten, ist das von oben her verfügte Zwangs- und Gewaltmonopol der Herrschaft. Macht bezeichnet somit die tatsächliche Gegebenheit die aus jedem zentralistischen, obrigkeitlichen, gesetzgebundenen, staatlichen Verhältnis erwächst. Als sittlicher Grundlage ihrer Herrschaftsbefugnisse bedient sie sich des den Menschen eingeimpften Glaubens an die Berechtigung und Notwendigkeit der Autorität. Autorität ist die Maßgeblichkeit fremder Erkenntnis für das eigene Urteil. ... (S. 27 f.)
Zum Beispiel: die Justiz im Staate kann niemals Recht schaffen, weil sie nach zentralen Anweisungen zentrale Behörden über individuelle Handlungen aburteilen läßt. Gerechtigkeit kann nur da an der Rechtsprechung teilhaben, wo die sozial schuldig gewordene Persönlichkeit von Ihresgleichen, mit den räumlichen und seelischen Voraussetzungen der Tat vertrauten Menschen ohne Bindung an einförmige Vorschriften vernommenen, überführt und notfalls an weiteren Schädigungen des allgemeinen Wohls verhindert wird. In der Räterepublik steht der Gleiche vor Gleichen, vor Nachbarn und Genossen. ...
Der Arbeiterrat einer industriellen Anlage, der zunächst wesenseins ist mit der Gesamtbelegschaft, regelt im Werk selbst die Verteilung der Pflichten nach der Art der Beschäftigung, berücksichtigt aber im Falle etwa der Beschlußfassung über einen Anbau die Wünsche und Bedenken aller verschiedenen Tätigkeitsgattungen, die mit dem Betriebe unmittelbar oder mittelbar verbunden sind ... (S. 69 f.)
Recht und Freiheit ist das gleiche, wie Gesellschaft und Persönlichkeit das gleiche ist. Aus dem Recht wächst die Gleichheit des Kommunismus, aus der Gleichheit die Freiheit der Anarchie! (S. 75)

Gerichte und Polizei auf anarchistisch
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft" (S. 7)
Was bei uns Gerichte sind, sind dort KonflikthelferInnen und Schiedsleute ...
Wenn trotz aller Bemühungen keine gemeinsame Lösung und kein Kompromiss gefunden wird, dann ist die einzig gerechte Lösung, einen unparteiischen Dritten entscheiden zu lassen - was die Aufgabe der Schiedsleute ist. ...
Wenn Menschen von Gewalt bedroht sind, kommen Freiwillige, geübt Konflikte zu entschärfen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, um sich einem Gewalttäter entgegenzustellen. Sie scheuen sich nicht, auch einem bewaffneten Menschen mit bloßem Körper und klaren Worten entgegen zu treten. Auch leisten die Komitees - ähnlich wie unsere Polizei - Aufklärungsarbeit, wenn ein Verbrechen geschieht, bei dem die Täter unbekannt sind.
Schärfstes Kampfmittel der Komitees ist der Aufruf zur 'Sozialen Verteidigung', d.h. zur Nicht-Zusammenarbeit. Dieses massive Mittel wird angewendet, wenn Menschen sich weigern, begangenes Unrecht zu klären und Wiedergutmachung zu leisten. Ist ein Boykott ausgerufen, arbeitet niemand mehr mit dem Übeltäter zusammen: Vom Bäcker erhält er keine Brötchen, seine Energieversorgung wird gekappt usw.


Die autoritäre Idee des Strafens und Ausschließens ist voll entfaltet: Übeltäter sind objektiv ausmachbar, "gut" und "böse", TäterIn und Opfer voneinander trennbar, Rache und Sanktion treffen und schützen. So verlaufen die Diskurse. Offenbar ist die Angst vor bösen Menschen ein starker Antrieb für die Installation und Legitimation von Macht. Dass explizit Gewaltfreie über Dinge wie "Überwältigen und auf einer Insel aussetzen" nachdenken, zeigt, welche Macht davon ausgeht, in der Kategorie zu denken, dass "die Gesellschaft" geschützt werden müsse. Die gesamte Idee von Emanzipation und Anarchie geht verloren, wenn sich die autoritäre Gewalt auch in anarchistischen Entwürfen gegen Menschen richtet, um das abstrakte Ganze zu fördern. Auf der Strecke bleibt nicht nur die Frage, wer das eigentlich ist: "die Gesellschaft"?
Problematisch ist zudem, dass die Definitionsmacht darüber, was schädlich ist und was nicht, in den meisten Texten komplett ausgeblendet bleibt. Moderne Herrschaftsanalysen müssen aber gerade solche verdeckten Herrschaftsmomente benennen, denn dort entsteht ein wesentlicher Teil der Machtpotentiale. Ganz nebenbei wird noch verschwiegen, dass Existenz von Sanktionsgewalt auf alle Situationen im Leben wirkt. Es ist ein Unterschied, ob ich in Kooperationen, Kommunikation oder Konflikten mit anderen darauf hoffen kann, eine höhere Gewalt für mich einspringen zu lassen oder nicht.

Was hier als Utopien angeboten wird, ist nur ein Abklatsch demokratischer Logik. 'Volk' und 'Gesellschaft' werden nicht als handelndes Subjekt aufgelöst zugunsten der Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse, sondern neu mit Leben und Handlungsmacht erfüllt. Doch Volk bzw. Gesellschaft bedeutet keine Befreiung der Einzelnen, zudem sind sie nicht die Summe der Vielen in deren Unterschiedlichkeit, sondern abstrakte Konstrukte, in denen privilegierte Einzelne oder Eliten definieren, was der Gemeinwille ist. Sie können damit ihre eigenen Interessen verkleistern und eigene Meinungen überhöhen, indem sie diskursiv die Wahrnehmung erzeugen, dass sei jetzt irgendwie gut für alle bzw. eine wie auch immer definierte Gesamtheit.

Strafe und Verhaltenskonditionierung sind große, blinde Flecken auf der Landkarte des Anarchismus. Gleiches gilt für die wenigen überlieferten Experimente anarchistischer Gesellschaftsorganisierung. Der Verzicht auf Strafe und Sanktion war, soweit sich das überblicken lässt, nie dabei.

Praxis Faustrecht?
Aus Hübner, Jürgen: "Das kurze Leben einer Revolution", in: Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 134 f.)
"Gefängnisse sind ein Symbol der Knechtung des Volkes ... Das freie Volk bedarf keiner Gefängnisse, gibt es die aber, so ist das Volk nicht frei." Soziale und politische Gegner wurden fortan kurzerhand erschossen. ...
Immer wieder wird auch berichtet, wie Gericht gehalten, Gefangene verhört und Hinrichtungen vorgenommen wurden.



Entscheiden und Verregeln
Abwesenheit jeglicher Herrschaft - das soll Anarchie sein. Eigentlich. Da Entscheidungen und Regeln schon im Entscheidungsprozess hochvermachtet sein können und sind, spätestens aber bei der Durchsetzung sanktionierender Gewalt mit privilegiert Handlungsbevollmächtigen bedürfen, müsste eine anarchische Gesellschaft auf all das verzichten.

Aus einem Text auf der Internetseite der basisdemokratischen GWR
Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung: "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht." Und: "Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." ...
Können wir nicht den § 1 der Straßenverkehrsordnung nehmen und als komplett hinreichendes Regelwerk für unsere Gesellschaft verwenden, nur noch ergänzt um die Ermunterung, nach individuellem und kollektivem Glück zu streben? "Die Teilnahme an der Gesellschaft erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Wer an der Gesellschaft teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass niemand sonst geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." Wäre das nicht Anarchie?


Doch offenbar glauben sich das die AnarchistInnen selbst nicht. Statt gedanklich konsequent weiterzugehen und Konzepte, Experimente oder Utopien unter Verzicht auf Regeln und Kontrolle sowie kollektive Entscheidungen zu entwickeln, verfallen sie kleinkrämerisch und mutlos in das Abfassung irgendwelcher Entwürfe für vermeintlich bessere Regeln und irgendwie gute Exekutivorgane.

Im Original: Regeln und übergreifende Normen
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
Da Freiheit gleichberechtige Lebensmöglichkeiten verlangt, versprechen wir einander, für folgende soziale Verpflichtungen einzustehen: Reichtumsunterschiede ... durch Umverteilungen abbauen ... Wenn wir andere Menschen in ihrer Freiheit oder unsere sozialen Verpflichtungen verletzt haben, leisten wir Wiedergutmachung ...
Statt staatlicher Ordnung fand ich in allen Verästelungen der manjanischen Gesellschaft das Prinzip der freien Vereinbarung. Selbstbewußt erklärten mir die Manjanesen: "Nur das gilt, was Menschen frei miteinander vereinbaren" ... Dach all der vielfältigen und unterschiedlichen Vereinbarungen, mit denen die Menschen ihre Beziehungen gestalten, sind in Manjana die 'Gesellschaftsverträge'. In diesen übergreifenden Vereinbarungen versichern sich Menschen ihrer ethischern Grundsätze und Wertvorstellungen. ...
(S. 4 f.)
Die sozialen AnarchistInnen haben fünf Gebote für ein herrschaftsfreies Nebeneinander unterschiedlicher Ideen aufgestellt

  • keine Gewalt gegen Menschen und deren Eigentum
  • keine gravierende Ungleichheit in der Eigentumsverteilung
  • keine Manipulation der Meinung anderer durch Unehrlichkeit
  • keine Zerstörung gemeinsamer Umwelt
  • Lösung von Koflikten durch Gespräche, gemeinsam bestimmte Schiedsleute und versöhnende Wiedergutmachung ...
Weil jeder Mensch ein Recht auf Eigentum hat, wird gravierende Eigentumsungleichheit - wie wir sie etwas in unserer kapitalistischen Gesellschaft kennen - in Manjana nicht akzeptiert. Die AnarchistInnen schützen das Recht auf Eigentum, soweit es nicht in solchem Umfange angehäuft wird, dass andere dadurch am an Eigentum werden. (S. 6)

Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
Auch die Anwendung von Zwang ist nicht allgemein im Widerspruch zu anarchistischem Verhalten. Ein im Kampf bezwungener Gegner muß selbstverständlich verhindert werden, den Kampf weiterzuführen. Ein sozialer Schädling muß genötigt werden, sich in die Notwendigkeit der gemeinsamen Lebensgestaltung einzufügen.

Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995, S. 15 f.)
Der Ökorat kann auch aus Naturschutzsicht wertvolle Gebiete in anderen Regionen erwerben, wenn er den Eindruck hat, daß diese dort nicht ausrechend geschützt werden (vergleichbar mit der Initiative von Naturschutzgruppen, die heute Teile des Regenwaldes erwerben, um diesen zu schützen).

Selbst der Logik des Rechts entziehen sich AnarchistInnen nur selten. Es stellt für sie offenbar einen Garanten der Freiheit und nicht ein Instrument der Unterdrückung und Normierung dar.

Aus "Anarchie - eine Einführung" (Faltblatt ohne AutorInnenangabe)
Nichtsdestoweniger ist es enorm wichtig, mit all denen, die heute in solche Schubladen gesteckt und diskriminiert werden, Rechte zu erkämpfen und gegen das Patriarchat (der Diskurs weißer Männer) zu kämpfen. Dazu zählen die Definitionsmacht, Frauen- und Schwulenrechte, Rechte für Nichtdeutsche in Deutschland und viele mehr.

Doch wo kommt das Recht her? Wer macht es und wer setzt es wie durch? Manche Rechtsgelehrten der bürgerlichen Demokratie sind wieder einmal ehrlicher. Gustav Radbruch, einer der beiden wichtigsten deutschen Rechtsphilosophen, sagt: "Die Rechtsordnung gilt, die sich faktisch Wirksamkeit zu schaffen vermag ... Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist." Rechtsetzung und Rechtsprechung wären demnach Akte der Herrschaft - und damit unvereinbar mit der Idee von Anarchie.
Übersehen wird zudem, dass Regeln und Recht immer konservativ wirken. Gesetze und Normen formen sich als Artikulation dominanter gesellschaftlicher Verhältnisse, prägend durch die Eliten, aber mitunter auch als Ergebnis sozialer Kämpfe. So oder so stellen sie schon zum Zeitpunkt ihres Gültigwerdens den Willensstand der Vergangenheit an. Dann bleiben sie in Kraft, oft Jahrhunderte. Das aktuell geltende Strafrecht im deutschsprachigen Raum ist überwiegend Jahrhunderte alt, stammt also zu großen Teilen aus Kaisers Zeiten. Selbst viele Paragraphen, die unter den Nationalsozialisten geschaffen wurden, gelten bis heute - einschließlich der Rechtsvorgaben durch die Bundesrichter, die über 1945 hinaus ihr faschistisches Gedankengut zu Urteilen schmieden durften, z.B. am Bundesgerichtshof. Emanzipation und Herrschaftsfreiheit aber lebt von der Selbstentfaltung der Menschen - und die verträgt sich nicht mit einem derart strukturkonservativen Element.

Legitimation von Überwachen und Strafen
Natürlich fällt AnarchistInnen auch selbst auf, dass Kontrolle und Sanktion mit ihren hehren Zielen der Herrschaftsfreiheit nur schwer in Einklang zu bringen sind. Statt aber nun das eigene Köpfchen anzustrengen und die gemeinsame Debatte anzufachen, wird dieser Umstand verschleiert durch hilflose bis abenteuerliche Versuche, das Herrschaftsförmige zu legitimieren, um es anarchie-kompatibel zu machen.

Im Original: Verschleierung durch Zustimmungsrituale
Aus Fotopoulos, Takis (2003): "Umfassende Demokratie", Trotzdem in Grafenau
Es sind keine institutionalisierten politischen Strukturen vorhanden, die ungleiche Machtbeziehungen verkörpern. Wenn also beispielsweise an Teile der Körperschaft der Bürger die Autorität zur Verrichtung bestimmter Pflichten delegiert wird (wie zum Beispiel als Mitglieder von Volksgerichten oder von regional- und Förderationsräten), geschieht diese Delegierung prinzipiell durch Los und auf Rotationsbasis und kann jederzeit durch die Körperschaft der Bürger wiederrufen werden. ...
Alle Einwohner eines bestimmten geographischen Gebiets (...) oberhalb eines bestimmten Alters (das von der Körperschaft der Bürger selbst festgelegt werden muss) sind ... am Entscheidungsprozess beteiligt. ...
(S. 225 f.)
Kurz gesagt, ist die grundlegende Einheit, die in einer föderalen Demokratie die Entscheidungen trifft, die Gemeindeversammlung, die ihrerseits Macht an Gemeindegerichte, Gemeindemilizen usw. delegiert. Aber außerdem müssen immer noch viele wichtige Entscheidungen von Vertretern getroffen werden, die durch die Gemeindeversammlungen delegiert werden. Murray Bookchins Beschreibung der Rolle der regionalen und föderalen Räte ist sehr klar:
Was also ist Föderalismus? Er ist vor allem ein Netz von Verwaltungsräten, deren Mitglieder oder Delegierte aus demokratischen, auf direkter Teilnahme der Betroffenen beruhenden Versammlungen der Bevölkerung in den verschiedenen Dörfern, Städten oder auch Vierteln der großen Städte gewählt werden. Die Mitglieder dieser föderierten Räte haben ein imperatives Mandat sind abrufbar und gegenüber den Versammlungen, die sie zum Zweck der Koordinierung und Verwaltung der von den Versammlungen selbst festgelegten politischen Richtlinien auswählen, rechenschaftspflichtig. Uwe Funktion ist demnach rein administrativer und praktischer Art und hat nichts mit politischer Gestaltung zu tun wie es bei den Repräsentanten in republikanischen Regierungssystemen der Fall ist." (Murray Bookchin, "The meaning of confederalism", Society and Nature, Vol. 1, Nr. 3 (1993)). ...
Einem weiteren gängigen Einwand gegen die demokratische Form des Entscheidungsprozesses zufolge führt diese leicht zu einer "Tyrannei der Mehrheit" durch die diverse ? kulturell, ethnisch oder sogar politisch definierte Minderheiten von der jeweiligen Mehrheit einfach unterdrückt würden. So verkünden einige Libertäre, die Mehrheit habe "kein größeres Recht, der Minderheit ? und sei es eine aus einer Person bestehende Minderheit - Vorschriften zu machen als die Minderheit der Mehrheit". Andere heben hervor, dass "demokratische Herrschaft immer noch Herrschaft ist ... auch sie bringt inhärent immer noch die Unterdrückung des Willens zumindest einiger Menschen mit sich" (L. Susan Brown, The Politics of Individualism (Montreal: Black Rose Books, 1993), S. 53). ...
Im Prinzip sollte daher die Frage der Menschenrechte in einer nicht-staatlichlichen Demokratie, wie wir sie definiert haben, gar nicht auftauchen. Und doch bleibt auch in einer umfassenden Demokratie die Frage bestehen, wie man die Freiheit des Einzelnen am besten vor den kollektiven Entscheidungen der Versammlungen schützt. ...
Wo immer Minderheiten geographisch voneinander separiert sind, könnte diese Lösung ihre gesellschaftliche Position schützen. Aber in Fällen, in denen eine derartige geographische Trennung nicht besteht sollten vielleicht andere institutionelle Formen eingeführt werden, die separate Versammlungen für Minderheiten innerhalb der Föderation schaffen oder den Minderheiten vielleicht auch ein Vetorecht in Form von "Blockstimmen" geben könnten. ...
In letzter Instanz hängt die individuelle und kollektive Autonomie von der Internalisierung demokratischer Werte durch jeden Bürger ab.
(S. 248 ff.)

Nehmen wir die AnarchistInnen aber andererseits auch wieder in Schutz - ohne inhaltlich die Kritik zu relativieren: Sie sind nämlich nicht allein. Die Akzeptanz von Strafe und Kontrolle ist in politischen Bewegungen insgesamt weit verbreitet. Statt von einer Welt zu träumen, die von der Geißel ständiger Verhaltensnormierung befreit ist, werden immer neue Konzepte zu guten Gesetzen, fairen Gerichten oder humanitärer Kriegsführung verfasst.

Wirtschaft kontrollieren
Was für die einzelnen Menschen und ihr Verhalten gilt, wird auch auf das wirtschaftliche Geschehen angewendet: Kontrolle soll es bringen. Vielleicht erzielt hier die verdrehende Propaganda der freien (Markt-)Wirtschaft ihre üblen Wirkungen. Diese hat mit Freiheit eigentlich wenig zu tun. Einerseits ist der "freie" Markt selbst gewaltförmig erzwungen als weitgehend alternativloser Ort es Handels, andererseits ist er hochverregelt. Die ihm innewohnenden Zwänge zur Profitabilität und ständiger Verwertung sind keine Naturgesetze und auch keine Folge wirtschaftlicher Freiheit, sondern entstehen aus Regeln, die Eigentum und Akkumulation von Kapital fördern und sichern, während sie Selbstbestimmung und Subsistenz auszuschalten versuchen.
Dennoch wird dieser Kapitalismus mit all seinen Zwängen sowie ausgerechnet seine extremsten Formen mit Begriffen wie Freiheit oder, gewählter ausgedrückt, Liberalismus geschmückt.

Dieses durch die Methoden und Folgen der sogenannten "freien Marktwirtschaft" verschlissene Image der Idee von Freiheit mag seinen Teil dazu beitragen, dass GegnerInnen des Kapitalismus, zu denen auch die meisten AnarchistInnen gehören dürften, nicht wagen, für eine zukünftige Wirtschaft ausgerechnet die Idee der Freiheit vorzuschlagen. Tun sie es doch, so ist mitunter zu erkennen, dass es wieder nur um die Freiheit zu mehr Umsatz oder Gewinn geht (z.B. in Konzepten des manchmal als anarchistisch bezeichneten Ex-Finanzchefs der Münchener Räterepublik, Silvio Gesell).
Die meisten sind durch einen Impuls getrieben, der sich selbst als dereguliert inszenierenden Marktwirtschaft ein Modell der Kontrolle und Regulation entgegen zu stellen. Damit aber fallen sie nicht nur naiv auf den Propagandatrick der eiskalt staatliche Gewalt bis hin zu Eroberungskriegen für ihre "freie Marktwirtschaft" einsetzenden Kapitalismus-Eliten herein. Sondern sie verfallen wieder in das Dilemma, selbst die Normierung gesellschaftlicher Aktivität zu fordern und damit Herrschaftsstrukturen zu legitimieren. Der Fehler aus der Kontrolle von Verhaltensweise und damit einhergehender Legitimierung von Strafe und Überwachung wiederholt sich.

Verbunden ist das, wie bei anderen Vorschlägen für Kontrolle und Sanktion, mit der Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit - wie ohnehin ja er Begriff der Gerechtigkeit immer wieder als Legitimation herrschaftsförmiger Eingriffe in die Selbstorganisierung der Menschen dient. Bei ökonomischen Fragen dominiert die Frage der gerechten Verteilung von Gütern - im Gegensatz zur Selbstbestimmung. Dabei wird übersehen, dass Institutionen, die die Macht haben, etwas gerecht zu verteilen, damit auch die Macht haben, es ungerecht zu verteilen. Es ist immer dieselbe Macht, die etwas so oder so regeln kann. Einzige Alternative ist die Überwindung privilegierter Macht zugunsten des freien Aushandlungsprozesses gleichberechtigter Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse.

Im Original: Reregulierung der Wirtschaft
Noam Chomsky im Interview, in: Freitag, 1.7.2005 (S. 3)
Dann kam es zu einer starken Gegenbewegung, die das Ziel verfolgte, ein System zu untergraben, das es den Regierungen erlaubt hatte, sozialstaatliche Verhältnisse zu schaffen. Der erste Schritt in diese Richtung war die Beseitigung der Kapitalkontrollen, weil man wusste, solche Kontrollen waren unentbehrlich, wollte sich der Staat einen Freiraum für unabhängige Entscheidungen erhalten. Der zweite bestand in der Aufgabe der festen Wechselkurse und führte zu einer explodierenden Währungsspekulation.
Frage: In welchem Zustand bestand sich der Staat nach dieser Zäsur?
Wer genau hinschaut, wird feststellen, dass sie vorwiegend darauf abzielen, demokratische Machtverhältnisse zu beseitigen. Man denke allein an die gewaltigen Möglichkeiten, die sich der Kapitalflucht bieten. Oder an die Privatisierungen, die schon per definitionem die Demokratie untergraben, weil sie wichtige Entscheidungen aus der öffentlichen Arena verbannen. Werden bisher öffentliche Dienstleistungen unter private Kontrolle gstellt, verliert der Staat an Aktionsraum. Wenn in Deutschland immer von der Ohnmacht des Staates die Rede ist, dann ist der Staat daran selbst schuld - er hat es so eingerichtet.
Frage: Lässt sich dieser Prozess noch umkehren?
Natürlich kann man ihn umkehren. Es ist schließlich keine sonderlich radikale Position, wenn man sagt: Stellen wir doch Bretton Woods wieder her. Selbstverständlich will niemand zu genau diesem System zurück, aber doch einen Prozess einleiten, der dessen Codierung wiederherstellt.

Aus Albert, Michael (2006), "Parecon", Trotzdem Verlag Grafenau
So könnte man sie durch eine internationale Kapitalbehörde, eine globale Investitionsunterstützungsbehörde und eine globale Handelsbehörde ersetzen, deren Auftrag es wäre, im Bereich der internationalen Kapital-, Handels- und Kulturbeziehungen für Gerechtigkeit, Solidarität, Vielfalt, Selbstbestimmung und Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts zu sorgen. Sie sollten auch anstreben, die Investitions- und Handelsvorteile vorrangig den schwächeren und ärmeren Partnern zukommen zu lassen statt den stärkeren und reicheren. Sie sollten die Rücksicht auf nationale Ziele, kulturelle Identität und gerechte Entwicklung über die kommerziellen Interessen stellen. Sie sollten sich für die Bewahrung der nationalen Schutzgesetze und -regelungen auf den Gebieten Arbeitswelt, Verbraucher, Umwelt, Gesundheitswesen, Sicherheit, Menschenrechte, Tierrechte und anderer gemeinnütziger Anliegen einsetzen und die Länder belohnen, die in dieser Hinsicht die größten Erfolge aufzuweisen haben. Sie sollten schließlich zur Förderung des demokratischen Gedankens beitragen, indem sie demokratisch kontrollierten Regierungen mehr Entscheidungsspielräume verschaffen und - zu Gunsten des Überlebens, Blühens und Wachsens der kleineren Einheiten - die Forderungen der transnationalen Konzerne und der Wirtschaftsmächte im Zaum halten. ... (S. 11 f.)
Unsere Vision einer den Menschen und der Demokratie verpflichteten internationalen Wirtschaftsordnung konkretisierte sich zunächst in den drei vorgeschlagenen neuen Weltbehörden. (S. 14)

Aus Jörg Huffschmid, "Globalisierte Finanzmärkte" in: Christine Buchholz u.a., 2002, "Handbuch für Globalisierungskritiker", KiWi in Köln (S. 64f)
... ein internationales Kooperationsregime zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern, das auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 konzipiert worden war ... An die Stelle der kooperativen trat die konfrontative Internationalisierung. ... Der Weltmarkt hatte vorher auch bestanden, aber er war politisch reguliert und gezähmt.

Der Logik, dass Wirtschaft kontrollierbar sein muss, folgen dann auch passende Begründungen für die Ablehnung von Großtechnologie. Diese ist nicht problematisch, weil sie einerseits der erzwungenen Zuarbeit von vielen Menschen bedarf und andererseits die Folgen anderen genauso ungefragt auferlegt, sondern die fehlende Kontrolle aufgrund z.B. fehlenden Wissens der allgemeinen Bevölkerung soll dazu führen, dass solche Vorhaben ... tja, was eigentlich, verboten werden?

Im Original: Keine Großtechnologie, weil nicht kontrollierbar
Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 43)
An einer Großtechnologie wie der Kernkraft läßt sich nun verdeutlichen, wie das Ideal einer politischen und sozialen Emanzipation in Widerspruch zu dieser Produktivkraft geraten kann. Ein Atomkraftwerk ist, darauf wird heute häufig hingewiesen, wegen seiner Größe und Komplexität nicht demokratisch zu kontrollieren. Den hochspezialisierten Fachleuten ist die Öffentlichkeit ausgeliefert; sie muß sich ihnen anvertrauen und kann allenfalls aufgrund von Informationen, die diese Fachleute ihnen zukommen lassen, Entscheidungen treffen. Hinzu kommt, daß eine solche Technologie die finanziellen und organisatorischen Aufwendungen für die "Entsorgung" über Jahrzehnte hinaus festlegen und demokratische Nachkorrekturen erheblich einschränken.

Autoritäre oder marktwirtschaftliche Ökologiekonzepte bei Anarch@s
Vorschläge für anarchistische Gesellschaften oder romanhafte Utopien entwickeln eigene Vorschläge für eine vermeintlich andere und bessere Art des Wirtschaftens. Im Vordergrund stehen Kontrolle und starre Regeln.

Im Original: Anarchistisch wirtschaften
Ökorat und Ökosteuer, erhobener Zeigefinger und Privateigentum
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
(Vertreterin "Kinderschutz") Alle drei Jahre wählen unsere Mitglieder ein Parlament umweltengagierter Fachleute. diese erstellen ein Umweltprogramm und bestimmen Obergrenzen für die Menge der Umweltgifte, die wir in unserer Umwelt tolerieren können. ...
Als erstes beraten wir die Betriebe, wie sie ihre Produktion umweltfreundliche umstellen können. Als nächsten Schritt erheben wir auf Umweltschädigungen, die unser Programm überschreiten, eine Umweltschutz-Steuer. Anfangs ist diese Steuer relativ niedrig. Aber die Unternehmen wissen, dass wir unsere Steuer schrittweise solange anheben, bis unser Umweltziel erreicht ist. Diese Kombination von Beratung und langsam sich verschärfendem wirtschaftlichen Druck läßt uns oft in wenigen Jahren unsere Umweltschutziele erreichen. ... (S. 18)
Die Naturschutzorganisationen pachten ökologisch wertvolle Landflächen oder schließen gegen eine Entschädigung mit Nutzern wie Landwirten Verträge über Schutzmaßnahmen ab. ...
Nun gibt es auch in Manjana Menschen, die sich um die nicht unerheblichen Naturschutzkosten drücken, indem sie keiner Naturschutzorganisation beitragen. Als 'Soziale AnarchistInnen', die sich Engagement für den Naturschutz versprochen haben, sind sie dann nicht akzeptiert. ... Wer sich dieser Verantwortung entzieht, muß in Manjana damit rechnen, schief angeguckt und auch angesprochen zu werden. (S. 20)


Anarchie sollte eher das Gegenteil bewirken!
Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 240)
In Hinblick auf eine soziale Ökologie könnten libertäre Perspektiven aus dem Anarchismus bewirken, daß bei notwendigen ökologischen Maßnahmen nicht analog der heutigen ökonomistischen Orientierungen das Ziel der politisch-sozialen Emanzipation vergessen wird oder daß die Ökologie zur Legitimationsideologie etatistisch-autoritärer Herrschaft verkommt.


Auch hier gilt wieder: Die gleiche Macht, die eine ressourcenschonende Nutzung der Umwelt durchsetzen kann, hat auch die Macht, die Ausbeutung zu organisieren. Umweltzerstörung ist vor allem eine Folge der Fähigkeit, Land, Ressourcen und die negativen Auswirkungen ihrer Nutzung ungleich verteilen zu können. Herrschaftsanalytisch ist das aber genau die gleiche Kraft, die angerufen wird, wenn Umweltschutz "von oben" organisiert werden soll.

Der Vollständigkeit halber erwähnt: Anarcho-Kapitalismus
Der ziemlich absurden Idee, dass "freie Marktwirtschaft" nicht nur propagandistisch, sondern auch tatsächlich etwas mit Freiheit zu tun hätte, frönen kleine, vor allem publizistisch aktive Kreise mit einer Steigerung. Sie behaupten, dass ein Wegfallen aller Regulierungen der Wirtschaft zu einer kapitalistischen Form der Anarchie führen würde - und finden das gut. Als VerfechterInnen solcher Ideen treten z.B. etliche ehemalige Öko-Journalistenauf, z.B. Ex-Natur-Chefredaktion Dirk Maxeiner und der HR-Umweltredakteur und Buchautor Michael Miersch, ebenso der Gründer der "Ökologischen Briefe", Edgar L. Gärtner, aber auch Teile der Freiwirtschaftsszene oder einige esoterisch orientierte AnarchistInnen.


Im Zuge der Ausbreitung rechtspopulistischer Welterklärungen (Verschwörungstheorien, platter Antiamerikanismus usw.) entstanden einige Parteien und Organisationen, die sich dem Anarchokapitalismus zurechnen, z.B. die Partei der Vernunft und die Libertären. Bekanntester Vordenker war Oliver Janich, Autor mehrerer Bücher. Den stören auch platteste Widersprüche in seinem Denken nicht - z.B. die Verbindung seiner Absage an den Staat mit einem Klagerecht für Eigentum. Bei wem würde denn dann die Klage eingereicht? Woher kommt überhaupt das Recht und wer setzt es (durch)?

Oliver Janich im Gespräch mit Robert Stein ("Ein Riesenbetrug")
In einer reinen Privatrechtsordnung ohne Staat könnte jeder einklagen ... und ein spezialisiertes Gericht für Umweltfragen anrugen, d.h. die Umwelt wäre dann viel besser geschützt.

  • Jörg Bergstedt und Oliver Janisch über Herrschaftsfreiheit, Anarchie und Anarchokapitalismus bei Radio Lora München

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