Fiese Tricks von Polizei und Jostiz

AUSWERTUNGSTEXTE ZU JUBILÄEN

14 Jahre Utopie als Feldversuch: Projektwerkstatt in Saasen (im Jahr 2004)


1. 1990 bis 1993: Alter Bahnhof Trais-Horloff
2. Zehn Jahre in Saasen
3. 14 Jahre Utopie als Feldversuch: Projektwerkstatt in Saasen (im Jahr 2004)
4. 25 Jahre: Ja ... und?

Wir schreiben das Jahr 2004. Ganz Deutschland ist von der Marktwirtschaft erfasst - Menschen hecheln nach Geld, einem Arbeitsplatz oder normierten Lebenswegen hinterher. Müde quittieren sie die tiefen Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme mit ein paar lauen Latschdemos. AusländerInnen werden gejagt, sog. "SozialschmarotzerInnen" beschimpft und aus den Innenstädten verdrängt, neue Kameras und PolizistInnen stellen sich scharf, das böse Finanzkapital wird als Übel wiederentdeckt. Politischer Protest wird repressiv zurückgedrängt oder findet freiwillig nur noch in den Nischen der Splittergruppen statt - kontrolliert auch dort, ob die Menschen die richtige Kleidung, Gesinnung und passende Parolen mit sich rumtragen. Deutschland ist (wie andere Länder auch) auf dem Weg in die autoritäre Republik, ohne je ein freies Land gewesen zu sein.
Ganz Deutschland? Nein, nicht ganz. An einigen Orten wehren sich Menschen und versuchen den Spagat: Gleichzeitig einen Freiraum aufzubauen, zu verteidigen und zu entwickeln, an dem Lohnarbeit, Marktorientierung, Anpassung an Fördergeldquellen und interne Hierarchien nicht alles prägen, sondern der Willen der Beteiligten und ihre Kooperation. Und die Position nach außen zu tragen, keine Insel bilden, sondern mit den eigenen Ideen in politische Bewegung, Alltag und das Herz von Staat bzw. Markt hineinzustrahlen, Reibung zu wollen, Kritik und Utopien zu benennen.
Diesen Anspruch - uneinlösbar, aber doch anziehend - tragen die AkteurInnen in und um die Projektwerkstatt in Saasen mit sich.

Der folgende Text wurde in der Zeitung "Grüner Weg 31a", Ausgabe Sommer 2004 veröffentlicht.

Kleine Geschichte
Das Jahr 1990, in dem die Projektwerkstatt entstand, liegt in der "heißen Phase" der Jugendumweltbewegung - genau am Scheideweg zwischen dem Willen nach unabhängiger und inhaltlich radikaler Ökologiearbeit und der Anbiederung an Staat und Firmen seitens der großen Verbände. Dort hatte etliche Jugendliche rebelliert, die Jugendvorstände erobert und in Hessen sogar den Landesvorstand des Naturschutzbundes gestürzt. Da zog der Bundesvorstand die Konsequenz und setzte seine aufmüpfige Jugend vor die Tür. Den Ausschlüssen folgten viele Austritte, die auch überregional vielfältige und intensive Arbeit verlagerte sich aus den Verbänden heraus und suchte neue Organisierungsformen. Utopie und Praxis sollten verbunden, u.a. die Hoffnung auf Herrschaftsfreiheit in den eigenen Gruppenstrukturen. Nach einigem Ringen war es eher ein Zufall, der eine Lösung brachte. Der "Alte Bahnhof Trais-Horloff" in Hungen (Kreis Gießen) war von der örtlichen Vogelschutzgruppe gekauft worden. Die brauchten nicht alle Räume - und so entstand die erste "Naturschutz-Öffentlichkeitswerkstatt", kurz danach in "Projektwerkstatt" umbenannt. Dahinter stand die Idee, statt Verbandsstrukturen offene Treffpunkte und Räume zu schaffen, in denen alle gleichberechtigt agieren und sich austauschen können. Verbunden war das mit ökologischen Vorhaben wie biologischem Ausbau, Essen und mehr sowie sozialen Zielen. Das Beispiel schlug ein, innerhalb der folgenden zwei Jahre entstanden ca. 50 Projektwerkstätten in verschiedenen Städten, von Freiburg bis Greifswald. Doch der Aufbau währte nicht sehr lange, nach den Höhepunkt-Jahren 1992 und 1993 (mit dem AufTakt-Festival in Magdeburg, das von 10.000 Menschen besucht wurde) begann ein Prozeß der Auflösung, Etablierung und Spaltung. Der Jugendprotest flachte ab, Räume zerlegten sich oder wurden zu modernen Managementbüros umgebaut. Teile der ehemals radikalen Jugendumweltbewegung waren wesentlich an der Entwicklung neuer öko-neoliberaler Konzepte wie ethische Geldanlagen, Ökosteuer oder Klima-Zertifikate beteiligt, schoben die Agenda 21 oder im Jahr 2000 die moderne NGO Attac in Gang.
Die älteste Projektwerkstatt im "Alten Bahnhof Trais-Horloff" gehörte zu dem Flügel der auseinanderfallenden Bewegung, die den alten Zielen verhaftet blieb und sie an vielen Punkten sogar ausdehnte. Im Jahr 1993 erfolgte der Umzug in ein größeres Gebäude nach Reiskirchen-Saasen, weiter mit eigenem Bahn- sowie mit überregionalem Radwege-Anschluß. Die Abkoppelung von marktförmigen oder staatsorientierten Beziehungen (Arbeit, Förderungen, Kauf und Verkauf) wurde stark vorangetrieben, das Haus lebte von vielen direkten Beziehungen des Tausches, der Kooperation und der Geschenkökonomie. Das wurde schließlich zu einem wichtigen Grund des materiellen Reichtums im Haus - Menschen stellten ihren Besitz in die offenen Räume, weil sie die dort selbst weiter nutzen konnten, aber weil andere auch so handelten, sogar eine bessere Infrastruktur vorfanden. Prägend war immer die politische Aktion - gegen Umgebungsstrassen, Abschiebungen, für einen Bürgerbus und Direktvermarktung, gegen Schulzwang und repressive Behörden, für die Wiedereröffnung einer Bahnlinie oder Eine-Welt-Läden. Mehrfach versuchten Menschen, die Ideen gelebter Utopie auszubauen, aber alle scheiterten: Ein KünstlerInnenhaus sollte entstehen, Landwirtschaft oder gar ein großer Ökohof, der dann am Konkurrenten Golfplatz scheiterte. Die Projektwerkstatt hat viele Menschen gesehen, die von einem anderen Leben träumten, aber von Ängsten befallen wurde, als aus dem Traum Wirklichkeit werden sollte. Das Geborgenheitsgefühl der vertrauten Normalität von Arbeit, Wohnung usw. zog viele wieder in den Trott des Bisherigen zurück.
Nach einem Durchhänger Ende der 90er Jahre, als verschiedene Personen aus der Wohngemeinschaft im Haus wegen Streitereien, Frustration oder persönliche Etablierung ausstiegen, füllte sich das Haus ab 2002 wieder. Inzwischen war der Schwerpunkt "Umweltschutz" gänzlich von einer thematisch nicht begrenzten Breite an Diskussionen, Veröffentlichungen und Aktionen verdrängt - doch das Haus und das Leben dort haben bis heute eine ökologische Orientierung. Zentral wurde die Kritik der Herrschaft und die Diskussion um herrschaftsfreie Gesellschaft - in dieser allgemeinen Form und in jedem gesellschaftlichen Thema sowie bei jeder Organisierung von Veranstaltungen, Gruppen, Vernetzung und Aktionen. Damit stehen die meisten Menschen aus der Projektwerkstatt heute nicht nur in einer konfrontativen Position zu den Eliten der Gesellschaft (Staat, Wirtschaft, Medien, Repressionsorgane, Führungsgremien wichtiger Verbände), sondern auch innerhalb politischer Bewegung, denn die Kritik an Dominanzstrukturen und Machtverhalten dort sowie an verkürzten politischen Theorien wird von denen, die in den Teilen von Bewegungen das Sagen haben, ebenso gnadenlos ausgegrenzt wie das in der herrschaftsförmigen Gesellschaft insgesamt der Fall ist. Umso erfreulicher bleibt ein Fazit: Auch 14 Jahre nach dem Start ist die Projektwerkstatt ein offenes Experiment. Erfolgsmeldungen gibt es nicht außer der, dass das Experiment weiter läuft. Das ist aber bereits eine kleine Hoffnung in einem Meer gescheiterter, etablierter oder von Machtstrukturen durchzogener Projekte, die sonst die politische Bewegung und die Gesellschaft ausmachen.

Die Utopie diskutieren
Theorie und Praxis haben eine enge Verflechtung - sie bedingen sogar einander. Denn eine Theorie, die sich im Experiment der Erreichung nicht in der Praxis misst, unterlässt wesentliche Möglichkeiten der Hinterfragung und integriert nicht gesellschaftliche Reaktionen. Umgekehrt ist eine Praxis ohne Theorie ziellos - sie lebt von der Hand in den Mund und orientiert die inhaltlichen Positionen und Forderungen oftmals daran, wofür es Förderungen gibt oder was in den Medien angesagt ist. Das bisherige und aktuelle Handeln der meisten Verbände und politischen Gruppen ist davon geprägt. Die Verbindung von Theorie und Praxis, von Utopie und Pragmatismus ist der Reiz, sie stellt aber hohe Anforderungen und schließt quasi aus, jemals "erfolgreich" zu sein, wie viele politische Gruppen und vor allem NGOs das in ihren Jahresbilanzen immer herbeiphantasieren - weil wer keine Ziele hat, sie auch nicht verfehlen kann.
In und um die Projektwerkstatt laufen ständig viele Debatten um Utopien und die eigenen Ziele:
- Utopie bedeutet dabei das Ringen um gesellschaftliche Entwürfe, für die ganze Welt oder für eine Fragestellung, z.B. was in einer herrschaftsfreien Gesellschaft die Strafe ersetzen würde (Knast, Polizei ...). Inzwischen ist ein Buch ("Freie Menschen in Freien Vereinbarungen") entstanden, mehrere weitere Texte (siehe unter www.herrschaft.siehe.website), in Seminaren und Infoabenden wurde diskutiert sowie gerade in den letzten Jahren auch zunehmend versucht, konkrete Aktionen für gesamtgesellschaftliche Utopien zu entwerfen. Ein Beispiel dafür ist das Utopie-Camp im Sommer 2003, der Versuch, eine Gegenstadt in der Mitte Giessens aufzubauen - was in kleinen kreativen Aktionen auch gelang, aber als Ganzen in einer gigantischen Verteidigungsschlacht von Stadtregierung, Kirche, Polizeieinheiten, Ordnungsamt usw. unterging.
- Die Ziele beziehen sich auf konkrete Aktionen, die Projektwerkstatt und ihre Ausstattung selbst usw. Sie werden für Einzelfälle formuliert - da aber sind sie immer wichtig. Eine Aktion steht nicht für sich, sondern folgt einer Idee, einem formulierten Ziel. Meist soll Erregung oder Interesse erzeugt und dann eine Kritik oder eine Utopie formuliert und vermittelt werden. Optimal ist, wenn sich Diskussionen aus einer Aktion ergeben und daraus wiederum konkrete Projekte oder weitere Aktionen.

Die Utopie in die Praxis runterbrechen ...
Im Laufe der Jahre sind sehr viele konkrete Formen entstanden, mit denen ein Stück der Utopie in die Praxis umgesetzt werden sollte. Die Utopie, durch die Diskussion ständig erweitert und hinterfragt, wirkt dabei wie ein Magnet, der die konkrete Praxis zu sich zieht und eine ständige Reflexion, Weiterentwicklung und Neuentwurf von Aktionsformen und -inhalten bewirkt. Aus dem Sammelsurium von Erfahrungen sollen hier einige vorgestellt werden.

Offene Plattform
Die Projektwerkstatt will "offene Plattformen" schaffen, d.h. alle Infrastruktur steht ohne Einschränkung allen zur Verfügung. Es gibt keine Besitzrechte mehr und keine Räume einzelner Gruppen. Keine Schlösser und keine Paßwörter. Alles, was vorhanden ist, dient als Plattform für alle mit ihren Ideen: Archive, Bibliotheken, Computerräume, Direct-Action-Werkstätten usw. Das Haus entwickelt sich ständig weiter durch die dort Agierenden. Es gibt keine formalen Gremien, die sich kümmern, sondern die Möglichkeiten ergeben sich aus dem, was Menschen an Infrastruktur aufbauen. Ständig kommen Ideen und damit neue Materialien hinzu, denn Menschen bemerken, dass es auch ihre Möglichkeiten verbessert, wenn ihre nicht dauernd gebrauchten Materialien zusammen mit denen anderer eine hervorragende Ausstattung ergeben, die sie auch selbst wieder nutzen können. Leider gibt es aber auch Gruppen und Personen, die durch Klau oder Zerstörung die offene Plattform einschränken. Klau bedeutet in einer offenen Infrastruktur die Reprivatisierung, denn Eigentum entsteht wieder.
Infos: www.projektwerkstatt.de/plattform

Niemand vertritt andere oder das Ganze
Das Menschen sich gegenseitig vertreten, ist eine Form der Instrumentalisierung und damit der Dominanz. In der Projektwerkstatt spricht niemand für die anderen mit, niemand darf als "Projektwerkstatt" auftreten. Kollektive Identität wird abgelehnt und als Form diskursive Herrschaft offensiv kritisiert - durchaus auch in politischen Bewegungen, wo fast alle Gruppen auf solche Identitätskonstruktion durch Sprache, Label, Kleidung, Ab- und Ausgrenzung stehen. Was in Saasen versucht wird, findet sich als Idee auch in weltweiten Prozessen - wenn auch die großen NGOs sind einfach nicht dran halten. "Die Treffen des Weltsozialforums beraten nicht im Namen der Institution Weltsozialforum. Daher ist niemand berechtigt, im Namen eines der Foren zu sprechen oder eine Position als die aller Teilnehmer wiederzugeben. Die Teilnehmer dürfen nicht aufgefordert werden, als Institution Erklärungen oder Aktionsvorschläge anzunehmen, die jeden oder die Mehrheit binden und den Eindruck erwecken können, mit ihnen würde das Forum als Institution etabliert. Es stellt daher keinen Ort der Macht dar, um den die Teilnehmer in den Treffen ringen. Ebenso wenig hat das Forum den Anspruch, die einzige Form der Zusammenarbeit zwischen den teilnehmenden Organisationen und Gruppen zu sein" (6. Absatz der WSF-Grundsätze). In diesem "Geist" bewegen sich ProjektwerkstättlerInnen seit der Gründung.

Raus aus den Fesseln des Marktes
Die Ansicht und leider auch die alltägliche Erfahrung, dass Menschen sich wie ein Naturgesetz bekämpfen und miteinander konkurrieren verstellt den Blick auf die Ursachen dafür, warum Menschen heute gegeneinander arbeiten. Erst der Markt und das Verwertungsprinzip setzt die Menschen in ein Konkurrenzverhältnis: Wenn ich irgendwo fleissig bin, nehme ich anderen was weg - ohne dass es meine Absicht ist oder sein muss. Der Markt zwingt die, die bei ihm mitmachen, dazu, gegeneinander zu arbeiten - Konkurrenz ist sein Wesen. Als Gegenentwurf wurden kooperative Verhältnisse genannt, die nicht auf Gegeneinander, sondern freiwilliger Zusammenarbeit bauen. Ziel ist, Zusammenhänge so zu gestalten, dass kooperative Beziehungen im Eigeninteresse der Menschen liegen.
Durch diese Kooperation entsteht ein gemeinsamer Reichtum, der allen gehört und jeder nutzt: Bei vielen Sachen ist es einfach viel schöner für alle, wenn Räume und Materialien kollektiv angeschafft und verwaltet werden. Bücher, Computer und Drucker sind da nur die nahgelegenen Beispiele. Ohne die Kooperation wäre ein solcher Reichtum wieder nur so zu erreichen, dass sich Einzelne in Lohnarbeit abschuften, dadurch viel Zeit und Kraft für sich verlieren.
Ausserdem soll das Tauschprinzip des Marktes überwunden werden. Statt eines alternativen, "gerechteren" Wertmassstabes soll Verwertung selbst aufgelöst werden. Der Anreiz für freie Vereinbarungen liegt nicht in der Erwartung, dass ich möglichst viel von anderen bekomme - sondern dass sich durch sie selbst vielfältige Möglichkeiten auftun. Wenn ich innerhalb einer Kooperation irgendetwas für andere mache, erwarte ich nicht, deshalb etwas zurück zu bekommen - belohnt zu werden. Die Möglichkeiten der Kooperation schaffen einfach ein ganz anderes Lebensgefühl, geben auch Sicherheit - egal, ob mensch sie vielleicht nie in Anspruch nimmt. Das bedeutet auch: keine muss sich anderen verpflichtet fühlen, weil ihr geholfen wurde. Wo keine Tauschlogik mehr ist, gibt es auch keine "Schuld", die zu begleichen wäre! Menschlich wäre diese Überwindung des Kosten-Nutzen-Denkens ein superschöner Fortschritt.
Probleme dabei: zur Zeit stecken (fast) alle Menschen in bestimmten, eingefahrenen Rollen - auch in radikal-politischen Zusammenhängen. Wenige MacherInnen erledigen alles für alle, beuten sich selbst aus. Es steht daher die Frage offen, wie dieses Problem gelöst werden kann.
"Denn der Wille, dagegen zu sein, bedarf in Wahrheit eines Körpers, der vollkommen unfähig ist, sich einer Befehlsgewalt zu unterwerfen; eines Körpers, der unfähig ist, sich an familiäres Leben anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierungen des traditionellen Sexuallebens usw. (Sollten Sie bemerken, dass ihr Koerper sich diesen 'normalen' Lebensweisen verweigert, so verzweifeln Sie nicht - verwirklichen Sie Ihre Gaben!). Doch der neue Körper muss nicht nur radikal ungeeignet für die Normalisierung sein, sondern auch in der Lage, neues Leben zu schaffen" (aus: Empire, Intermezzo: Gegen-Empire, Seite 227, by Hardt/Negri 2000)

Selbstorganisierung im Alltag
"Während es langsam wieder mehr werden, die grundsätzlich gegen kapitalistische Gesellschaft aktiv werden, stecken fast alle selbst tief in den Strukturen drin, die mensch eigentlich überwinden will. Unter den Bedingen von Lohnarbeit ist es für viele Menschen kaum möglich, sich jenseits vom Feierabend-Aktivismus einzubringem, weil ihnen einfach die Zeit fehlt und sie durch die zwanghafte Schufterei krank sind. Und es ist ganz klar widersprüchlich, wenn Menschen, die gegen warenförmiges Wirtschaften angehen, ihren privaten Bedarf ganz "normal" einkaufen. Es ist deshalb wichtig, nach Möglichkeiten zu suchen, schon heute aus Lohnarbeit und Markt auszusteigen - individuell wie kollektiv" (Aus dem Protokoll des Seminars zu "Selbstorganisation in Alltag und Politik", 15. - 17.6.01 in Stuttgart).
Was hier als Theorie formuliert steht, soll vor Ort zur Praxis werden. Nach 14 Jahren ist die Projektwerkstatt eine Fundgrube für Ideen geworden, was ohne Geld organisiert werden kann. Die in der Projektwerkstatt aktiven Menschen gehen keinen regelmäßigen Jobs nach, die meisten haben gar keine Einnahmequellen. Aber das Haus und die Menschen überleben doch - und zwar gut. Die Projektwerkstatt ist hochkarätig ausgestattet als politischer Aktionsraum, als Bibliothek und Seminarhaus. Obwohl öffentliche Zuschüsse nie, Geldspenden äußerst selten und Löhne für die Beteiligten kaum fließen, gibt es keine finanziellen Sorgen. Seit Jahren gelingt es mehr oder weniger gut, die materielle Reproduktion über Gemeinschaftsökonomie, Tausch und Kooperationen sicherzustellen. Allerdings: Viele der Menschen, die in die Projektwerkstatt eingestiegen sind, sich an Selbstorganisierung und Herrschaftsfreiheit gescheitert. Zwischen Selbstwahrnehmung und Realität klaffen bei vielen "Linken" extreme Lücken. Fühlen sich viele als "autonom", unabhängig, kritisch und selbstbestimmt, so zeigt sich gerade dann, wenn das auch gelebt werden könnte, dass die Zurichtung auf Autoritäten, Normen und mehr deutlich mehr prägt als Menschen von sich glauben.
Infoseiten: www.alltagsalternativen.siehe.website und www.projektwerkstatt.de/von-unten.

Umweltschutz von unten
Die Projektwerkstatt besteht aus Müll und biologisch verträglichen Materialien. Für ersteres ist keine Umwelt neu zerstört worden, weil alles sonst auf der Müllkippe gelandet wäre. Zweiteres ist relativ umweltschonend hergestellt. Ein Grasdach, Solar- und Regenwasseranlagen, Wolle, Hanf und Papierfasern als Dämmung, natürliche Farben und mehr prägen das Haus. Ähnlich sieht es im Alltag aus: Umweltfreundliche Materialien oder das, was im Kapitalismus zu Müll abgestempelt wird, werden verwertet. Das geschieht mit einem hohen strategischen Anspruch, so dass aus allem ein "Reichtum" entsteht. Askese und Verzicht sind etwas anderes als dass, was im Haus zu sehen ist. Doch die Ökobilanz dürfte beeindruckend sein - doch an Zahlenexperimenten hat niemand Interesse. Leider auch noch nicht am kleinen Windrad, das zusammengebaut und angebracht werden soll, an Tandem und Solar-Soundsystem als Hänger oder weiteren Ideen, die noch auf Verwirklichung warten.
Umweltschutz wird nicht nur praktiziert, sondern auch diskutiert. Unter den Begriffen "Umweltschutz von unten" und "emanzipatorische Ökologie" entstanden Ende der 90er Jahre Modelle für Umweltschutzstrategie, die Ökologie und Selbstbestimmung miteinander verbanden. Sie standen deutlich im Gegensatz zu dem, was aktuell unter Umweltschutz läuft und vor allen eine verdeckte Modernisierung von Profitmaximierung und ökonomischer Totalität ist. Leider stießen die Konzepte sowohl bei Regierungen wie auch Umweltverbänden auf taube Ohren.
Mehr: www.umwelt-und-macht.siehe.website, www.baubiologie.siehe.website und www.biotopschutz.siehe.website.

Direkte Aktion für Utopien und Schritte dorthin
"Direct Action" ist eine Form kreativen Widerstandes, die wir als Teil gesellschaftlicher Intervention gegen Herrschaft und Verwertung sowie als Eröffnung von Diskussionen um visionäre, emanzipatorische Gesellschaftsformen verstehen. Sie versteht sich als gleichberechtigter Teil zu anderen kreativ-emanzipatorischen Handungsstrategien wie Gegenöffentlichkeit, Freiräume und Aneignung, versucht aber, Erstarrungen in den Aktionsformen und -strategien zu überwinden, z.B. die Wirkungslosigkeit vieler vereinheitlichender Aktionsformen (Latschdemo, Lichterkette ...) oder das Gegeneinander aufgrund verschiedener Aktions- und Ausdrucksformen.
"Direkte Aktion" ist mehr als nur mal hier eine Blockade oder da ein Steinwurf. Sie ist eine Methode, ein Aktionskonzept und eine Idee für eine Politikform, die nicht mehr nur Einzelnes angreift - aber auch mehr will als schwächliche Miniveränderungen innerhalb von umweltzerstörenden und menschenverachtenden Verwertungs- und Herrschaftsstrukturen. Direkte Aktion will die Köpfe erreichen. Und den Kopf benutzen. Das erste Ziel einer direkten Aktion ist die Schaffung eines "Erregungskorridors" in der Gesellschaft: Aufmerksamkeit, Irritation, Freude oder Wut sind alles solche Formen. Wie das erreicht werden kann, ist vielfältig: Kommunikationsguerilla, verdecktes Theater, Blockade von Castor-Zügen, Sabotage, Internet-Hacken usw. Wo die Erregung entsteht, ist dann Platz für politische Positionen und Visionen - aber auch deren Vermittlung will durchdacht sein. Ideen für kreative Vermittlungsformen sind nötig. Direkte Aktion ist alles drei: Die kreative, direkte Aktion, der entstehende Erregungskorridor und die politischen Positionen/Visionen. Im Workshop soll über direkte Aktionen geredet und an konkreten Beispielen gezeigt werden, wie Langeweile und Wirkungslosigkeit politischer Arbeit überwunden werden kann.
Infoseiten: www.direct-action.siehe.website.


Emblem einer der aktiven Gruppen im Umfeld der Projektwerkstatt

Herrschaft intern abbauen
Ein unendliches Ringen stellt der Versuch dar, herrschaftsförmiges Miteinander in der Projektwerkstatt, in Gruppen und in der Vernetzung mit anderen zu überwinden. Das Haus selbst ist schon von der Architektur der Gruppen- und Seminarbereiche auf die Förderung von Kreativität und Autonomie ausgelegt, eine feste Gruppe zusammen mit Menschen aus anderen Städten hat über Jahre Texte und Methoden gesammelt, um sie in einem Reader zusammenzustellen. Ständig wird weiter experimentiert und hinterfragt. Auch hier zeigt sich: Lippenbekenntnisse machen noch keinen Sommer ...
Mehr: www.hierarchnie.siehe.website.

Fazit: Ernüchternde Bilanz, aber das Experiment läuft weiter
Die Versuche sind beschrieben, nach 14 Jahren "Projektwerkstatt" ist sogar einiges geschaffen worden - allen voran die Projektwerkstatt selbst als offene Plattform, zudem eine mobile Aktionsplattform, die auf Camps, Kongresse und Aktionen mitgenommen werden kann. Zudem konnten politische Aktionen in und um Gießen so verändert werden, dass sie erhebliche Aufmerksamkeit, direkte Kommunikation und vor allem utopische Debatten anstießen. Doch aus der Vogelperspektive wirkt alles ernüchternd. Law-and-Order-Politik, Sozialabbau und -ausgrenzung, autoritäre Gesellschaftsstrukturen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen verschärfen sich auch rund um die Projektwerkstatt. Und intern beginnen die immer selben Kämpfe gegen die eigene Zurichtung auf markt- und herrschaftsförmiges Verhalten ständig von vorne. Details können zufrieden stellen, mehr nicht. Nur im Vergleich mit dem, was wir in politischen Bewegungen rundherum (zumindest in Deutschland) wahrnehmen, lässt das Ganze besser aussehen: Wir sind unabhängig geblieben - als Projekt und als Personen. Wir haben nach einem Durchhänger den Freiraum wieder neu gefüllt und sogar radikalisiert, d.h. konsequenter aus Markt und Staatsabhängigkeit herauszuführen versucht. Das Experiment läuft und läuft ... mehr meist nicht, aber immer noch das. Leider muß mensch das angesichts etablierter Kommunen, verbürgerlichter ex-besetzter Häuser, staatskneteorientierter NGOs und neoliberaler Ökogruppen wohl schon als Erfolg werten ...

Die Projektwerkstatt kennenlernen oder nutzen
Das Haus steht offen. Jede und jeder kann einfach kommen, mitmachen, uns ausfragen, hier ein Seminar machen, an eigenen Projekten werkeln, Kooperationen suchen oder einfach relaxen. Wer hier ist, kann von Beginn an loslegen. Wer auf ChefInnen wartet, wird langweilige Tage erleben ...
Alles weitere vor Ort oder unter www.projektwerkstatt.de/saasen.

Projektwerkstatt
Ludwigstr. 11
35447 Reiskirchen-Saasen
06401/903283, Fax 06401-903285
saasen@projektwerkstatt.de ++ Info- und Kontaktformulare

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