Aktionsraum Gießen

RECHERCHEMETHODEN: UMGUCKEN, UNDERCOVER, SUCHEN IM WEB ...

Mal genau(er) hingucken ...


Mal genau(er) hingucken ... · Undercover · Recherchen im Internet · Direkte Kontakte · Anfragen · Materialien und Links

Fast alle politischen Aktionen haben Gegner_innen: Firmen, Politiker_innen, ein hasserfüllter Mob oder andere. Denn der Protest wendet sich gegen deren Projekte. Andere Aktivitäten sollen Neues schaffen ... und treffen auf die Gegenwehr der Statthalter des Bestehenden. Um sich in der öffentlichen Meinung oder im politischen Entscheidungskampf durchsetzen bzw., mindestens genauso wichtig, viele Menschen von den eigenen Ideen und Positionen überzeugen zu können, bedarf es neben kreativer Aktionsideen und guter Strategien möglichst einleuchtender Argumente.

Zwei Wege sind bisher typisch, aber - aus verschiedenen Gründen - problematisch:
  • Vereinfachte, oft populistische Parolen: Die überzeugen oft zwar schnell Massen, aber sie schaffen die Welt mit, die aus emanzipatorischer Sicht wenig wünschenswert ist - die des flachen Denkens, der einfachen Gut-Böse-Schemata, der Ausblendung komplexer Ursachen- und Wirkungsketten und der eigenen Verflechtung in die (kritisierten) Verhältnisse (siehe die Infoseite zu "Den Kopf entlasten - Kritik vereinfachter Welterklärungen").
  • Fachliche Expertise, gestützt auf eigene Fachleute oder externe (angeblich "unabhängige") Studien: Das schafft zwar oft wichtige Informationen und kann auch überzeugend sein, zieht eine politische Debatte aber aus der Breite in eine kleine Schicht Privilegierter. Die Masse der Menschen wird zu staunenden (spendenden?) Zuschauer_innen. Die politische Debatte ent-demokratisiert sich. Zwar wäre auch denkbar, die fachliche Expertise mit der Organisierung konkreter Proteste (von unten) zu verbinden - tatsächlich geschieht das aber eher selten. Studien und Fachexpertise fressen erhebliche Ressourcen und stellen Distanz zu praktischen Aktionen her, um den Schein der Wissenschaftlichkeit zu behalten.

Zum Glück gibt es eine dritte Möglichkeit für schlagkräftige Argumente, die zudem mit anderen Argumentationsmethoden verbindbar ist: Die Texte der Gegenseite. Regelmäßig werden auch von denen, die umweltzerstörende, menschenverachtende oder sonst anti-emanzipatorische Politiken oder Projekte durchziehen, auf Tagungen, in eigenen (oft dann nicht veröffentlichten) Studien, in Protokollen oder an anderen Stellen Schwächen oder die eigentlichen Ziele benannt. Wenn es nun gelingt, ein Projekt oder eine politische Position mit Texten derer, die für sie eintreten, zu diskreditieren, ist das daraus gewonnene Argument kaum zu widerlegen - weil es ja von denen selbst kommt, die es gerne widerlegen würden.

Beispiele aus den Kampagnen und Aktionen gegen die Agrogentechnik:
  • "Die Möglichkeiten, eine Pflanze durch gentechnische Veränderungen zu verbessern, sind gering. Dies ist einer Reihe von Ursachen geschuldet. So lassen sich die Effekte eines spezifischen Gens auf das Wachstum der Pflanze, deren Entwicklung und Reaktionen auf die Umwelt nicht genau vorhersagen. Dazu kommt die geringe Erfolgsrate bei der gentechnischen Manipulation, der Mangel an präziser Kontrolle über das Gen, sobald es in das Genom eingebaut worden ist, und andere ungewollte Effekte, die mit dem Geschehen bei der Gentransformation und dem Verfahren der Zellkultur zusammenhängen." ... schrieb die weltführende Agrogentechnikfirma Monsanto selbst. Es stand in einem Patentantrag für eine nicht gentechnisch veränderte Pflanze, in der sie begründeten, warum sie auch dort jetzt Patente bräuchten - nämlich weil es die Gentechnik nicht bringt und sie unkontrolliert ist.
  • Uwe Schrader, Chef des Gentechnik-Lobbyverbandes InnoPlanta, beschrieb 1999 als Grund der Einführung von Gentechnik im landwirtschaftlichen Bereich "die Aussicht, in dem stagnierenden Pflanzenschutzmittelmarkt durch Anwendung der Pflanzenbiotechnologie Positionsverbesserungen zu erzielen". Es bedarf keiner großen Statistiken und Studien, dass der Gifteinsatz steigt. Das war immer Ziel der Gentechnikbranche. An den Spritzmitteln ist nämlich mehr Kasse zu machen - und darum ging es. Immer.
  • Der Gentechnikpressesprecher von BASF, Thomas Deichmann schrieb "Die Menschheit hat kein Recht auf einen konstanten Meeresspiegel“ in seinem Buch "Warum Angst vor grüner Gentechnik?" und "Wir können unseren Kindern gerne Windräder vorenthalten, aber auf keinen Fall Kernkraftwerke." in seiner damaligen Zeitung Novo Nr. 40, 5-6/1999.

Sehr ähnlich ist das in anderen Politikbereichen möglich. Als die Proteste gegen die Zwangspsychiatrie stärker wurden, ergab eine Recherche in den Texten der leitenden Ärzt*innen und Gutachter*innen bemerkenswerte Zitate (siehe Seite dazu im Antizwangspsychiatriebereich). Nur eine Kostprobe: "Die Meta-Analysen der Straftäterbehandlung zeigen, dass erfolgreiche Programme ... eher in Freiheit als in Institutionen stattfinden", schrieb der damalige Chef der geschlossenen (forensischen) Psychiatrie (Psychoknast) in Gießen und Haina, Rüdiger Müller-Isberner, in seinem "Praxisbuch Maßregelvollzug". Darauf ist leicht ableitbar: Weg mit den Mauern und Zäunen!

Ganz ähnlich im Kampf gegen Braunkohleabbau und -verstromung: In ca. den 70er Jahren machten RWE & Co. massiv Werbung für mehr Atomkratwerke - mit Hetze gegen die Braunkohle. Sehr deutlich formulierten sie damals selbst, dass Kohlendioxid das Klima verändern wird und eine weitere Verbrennung daher nicht zu verantworten sei. Wozu also noch teure Studien und Vorträge voller Fachbegriffe?

Recherche lohnt also, um sich mit Argumente zu wappnen, die treffsicher und unwiderlegbar sein. Das aber ist nur ein Ziel. Es gibt noch weitere: Wer mehr über die Gegenseite weiß, kann diese besser einschätzen, kann auf Verflechtungen z.B. von Konzernen, Behörden usw. hinweisen. Außerdem braucht ein zielgerichteter Widerstand gegen Veranstaltungen, Bauprojekte oder andere Vorhaben Details über den Stand der Planung, Lagepläne, Abläufe usw.

Hier folgen Ideen, wie mensch an all das herankommt, also Karten, Pläne, Texte, O-Töne und Informationen aller Art.

Akteneinsicht
Kaum zu glauben, aber wahr: In Deutschland und anderen, zumindest den EU-Ländern gibt es ein umfangreiches Akteneinsichtsrecht in alle möglichen Unterlagen beim Staat, bei staatlichen oder von ihm beauftragten Institutionen. Das gilt für die Bundes- und für die Landesebene, für Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden. Um es salopp zu sagen: Ihr könnt dort einfach reinmarschieren und in den Akten blättern. Das ist sehr wichtig, schließlich ist der Staat und die öffentliche Hand der wichtigste Akteur in heutigen Gesellschaften. Von Planverfahren über Geldvergabe, Personalwesen, Bildungseinrichtungen bis zu Strafjustiz oder jeder kleinsten Behörde ist alles staatlich dirigiert. Auch die Wirtschaft ist zu großen Teilen staatlich geprägt, sind Staat oder Kommunen doch an sehr vielen Unternehmen beteiligt oder schließen mit diesen Verträge ab. Als Genehmigungsinstanz und Aufsicht haben sie zudem mit vielen Vorgängen der Privatwirtschaft zu tun, so dass über einen Einblick in staatliches Handeln auch viele Informationen über Vorgänge in der Wirtschaft zugänglich sind. Weil das so wichtig ist, gibt es eine Extraseite zur Akteneinsicht in Behördenakten nach Umweltinformations-, Verbraucherinformations- oder Informationsfreiheitsgesetz.

In speziellen Politikfeldern oder bei persönlicher Betroffenheit gibt es weitere Regelungen für die Akteneinsicht:

Bibliotheken
Im Zeitalter von Wikipedia und anderen digitalen Informationsquellen gerät beschriebenes Papier immer mehr in Vergessenheit. Der Informationszugang im digitalen Netz ist auch tatsächlich wichtig und bei schlauer Nutzung (siehe unten) eine deutliche Verbesserung der Recherchemöglichkeiten. Doch schon aus Gründen verschiedener Blickwinkel auf ein Thema oder Projekt wäre das zusätzliche Forschen in Büchern und Skripten spannend. Denn kaum etwas weist so stark politisch motivierte Blickwinkel auf wie das Internet, lassen sich abweichende Meinungen dort doch beliebig entfernen und ein Text in Echtzeit an den mainstream oder bestimmte Interessen anpassen. Mit etwas Geschick lassen sich zwar auch frühere Seiten rekonstruieren, aber oft ist nur das zu sehen, was wir auch gerade sehen sollen. Die Fülle der Seiten und Akteur*innen im Web erlaubt dann zwar, sich selbst ein Bild zu machen, welches auf verschiedenen Quellen fußt. Doch meistens dürfte es sinnvoll sein, auch im klassischen Blätterwald nachzuschauen. Denn Bücher, Zeitschriftentexte und vor allen all die "graue Literatur", d.h. die nicht über offizielle Kanäle verbreiteten Schriften z.B. politischer Gruppen, von Künstler_innen oder aus unbekannten Quellen, bieten unersetzliche Zusatzinformationen, die zudem nicht so einfach veränderbar, d.h. die Sichtweise zum Zeitpunkt ihres Erscheinens unabänderlich festhalten. Insofern ist eher bedenklich, dass sowohl im offiziellen Betrieb von Aus- und Fortbildung als auch durch Gruppen mit eigenen Interessen kaum noch auf solches Material zurückgegriffen wird.

Es gibt verschiedene Bibliotheken - und alle können, je nach Thema, ihren Wert haben.
  • Öffentliche Büchereien, Stadtarchive usw. enthalten oft besonderes Material zur jeweiligen Region/Stadt.
  • Uni- und Präsenzbibliotheken enthalten neben Spezialliteratur vielfach auch Haus- und Studienarbeiten. Da jährlich Tausende davon entstehen, ist in und um Hochschulstädte oft jeder Flecken Erde, jedes Unternehmen und jedes lokalpolitische Thema schon auf diese Art und Weise "abgegrast". Hier nach vorhandenen Abhandlungen zu suchen, kann viel eigene Zeit sparen.
  • Mehr oder weniger unabhängige, politische Bibliotheken und Archive, die vor allem bei der "grauen Literatur" stark sind (siehe zum Beispiel das kabrack!archiv der Projektwerkstatt). Hierzu zählen auch viele Spezialarchive, die zu einem oder wenigen Themen Material angehäuft haben.
  • Private Sammlungen z.B. von Personen, die in politischen Themen engagiert waren, als Hobby ein bestimmtes Thema oder die Geschichte einer Firma verfolgt haben und nun Berge von Material hüten, welches oft kaum noch genutzt wird.

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