Aktionsraum Gießen

MODERNE FORMEN VON HIERARCHIE: FÜHRUNG IN HIERARCHIEKRITISCHEN GRUPPEN

Kontrolle der Außenvertretung


1. Einleitung
2. Modern führen: Methoden für versteckte Dominanz
3. Assimilieren - die sanfte Übernahme
4. Herrschen, ohne dass es jemand merkt: Instrumentalisierung
5. Kontrolle der Außenvertretung
6. Geschichtsschreibung als Herrschaft
7. Bewegungsagenturen und -kraken
8. Aufstehen!
9. Von Staat und Bewegungsoligarchen gefürchtet: Unberechenbarer Protest
10. Links zu Alternativen ...

Es gibt unzählige Veröffentlichungen, Podiumsgespräche usw., bei denen Leute über Strategien politischer Bewegung debattieren. Und auch hier: Immer die gleichen Kreise mit ihren StellvertreterInnen. Selbstorganisierte fehlen, aber manchmal schwingen sich Eliten auf, die behaupten, in ihrem Namen zu reden ...



Daniel Mittler kommt aus dem BUND, Jochen Stay und Felix Kolb sind Bewegungsstiftung, Heike Walk in nahestehenden Projekten zur Bürgergesellschaft. Zusammengefasst also: Hier diskutiert eine bestimmte Clique mit sich selbst - aber über die Strategien und mit dem Anschein der gesamten Bewegung. Quelle: Programm für den Attac/BUND/Grünen/usw.-Kongress McPlanet 2009

Das kleine Beispiel steht für viele, die aufzuzählen den Rahmen sprengen würde. Einige kleine Fallbeispiele der vergangenen Jahre mögen die Logiken der Herrschaftsausübung durch Vereinnahmung und Stellvertretung beleuchten.

Überlabeln

Die einfachste Art ist das Überlabeln, d.h. eine Organisation mit entsprechenden Möglichkeiten bringt zu einer Aktion anderer einfach massenweise Label (auf Fahnen, Aufklebern, Flugblättern usw.) mit und dominiert damit die Aktion optisch. Außenstehende glauben dann, dass die Organisation mit dem Label auch die Aktion durchführt.
Das geht auch im Nachheinein, in dem die Aktionen (anderer) als eigene dargestellt werden, z.B. in Jahresberichten oder auf Internetseiten.

Reden im Namen aller

Aufwändiger ist es, tatsächlich für das imaginäre "Alle" zu sprechen. Aber auch das geht und eröffnet dann mit Möglichkeit, auch eigene Inhalte und Ziele zu formulieren und so zu tun, als wären es die von allen.

Klima-/Antira-Camp 2008 in Hamburg
Das Antira-/Klimacamp im August 2008 in Hamburg gehörte zu den Nachfolgeereignissen des als Erfolg stilisierten G8-Protestes von Rostock. Das stimmte insofern, als wieder Funktionseliten dominierten und für das Camp alle wichtigen Entscheidungen vorher trafen. Die TeilnehmerInnen des Camps waren die Massen, die vorgedachte Aktionen ausführen und ausfüllen sollten. Dabei war nicht eine Gruppe am Werk, sondern mehrere Teile elitärer Strukturen machten ihr Ding - immer schön nach dem Elitenmotto "Eine Hand wäscht die andere" in Abstimmung mit anderen, die an einem anderen Tag dann ihr Ding machten. Jeder Eliteteil bekam seinen Aktionstag. Über dem Ganzen thronten die besonders wichtigen Eliten, die dem Camp ungefragt Themen, Motto und Presseaussagen aufdrückten. Unprivilegierte durften das Pressezelt gar nicht betreten, wo einsame Macher ihre Kreise zogen und den Medien erzählten, wofür auch die Teile des Camps da waren, mit denen sie sich vorher gut gestritten hatten. Auf dem Camp gab es kaum Streit. Die Hierarchien wirkten sich nicht sichtbar nach innen aus. Die Eliten handelten einfach und an den Tafeln stand wie selbstverständlich ein Programm, an dem teilgenommen werden durfte. Eigene Ideen und Spontanität - Fehlanzeige. Als dann eine der Elitenpersonen vor Gericht stand, inszenierte ihn sein Umfeld erfolgreich als Chef: "Hier sollte um jeden Preis der Sprecher des Klimacamps verurteilt werden, das Land will die Anti-Kohle-Bewegung einschüchtern" (aus einem Text bei Indymedia, 11.2.2009, als AutorInnen genannt wurde X-tausendmal quer HH - also: Eine Elitehand wäscht die andere).
  • Kritiktext aus dem Öko-Anarcho-Barrio (Kritik an NGO-Eliten, aber eher noch herkömmlich gedeutet)
  • Kritische Reflektion von Leuten aus dem Öko-Anarcho-Barrio


Die Pressekonferenz, in der der "Sprecher" Tadzio Müller (zweiter von links) von anderen VertreterInnen wichtiger Eliteteile präsentiert wurde. Unerwünschte Basiszusammenhänge wurden von der Konferenz ebenso gar nicht informiert wie diejenigen, die die Aktion durchführen, an deren Rand es zu der Festnahme kam. Durch solche Inszenierungen werden Stellvertretungsfunktionen geschaffen - nicht nur des Sprechers für das Gesamte, sondern die anderen Personen als SprecherInnen für Teilströmungen (z.B. G8-Landwirtschaftsnetzes, einer Minigruppe von Personen, die dadurch auffällt, dass sie sich als Netzwerk zu Themen wie Landwirtschaft, Gentechnik usw. in linksradikalen Kreisen inszeniert und damit alle anderen, die dort arbeiten, aus den Organisierungsvorgängen herausdrängen). Kritiktext zum Vorgeplänkel ...

Flughafen Frankfurt: Waldbesetzung 2008/2009 und später
Kern des Protestes sind seit Jahren viele BürgerInneninitiativen. Sie haben formale Strukturen mit SprecherInnen oder sogar Vorständen. Doch 2009, als der Neubau einer Landebahn im Kelsterbacher Wald näher rückte, kletterten plötzlich bislang weniger aufgefallene AktivistInnen auf die Bäume, errichteten Hütten und versuchten, durch direkte Aktion Widerstand zu leisten. Das klappte nur begrenzt, was auch an fehlender Fähigkeit zu Selbst- und Aktionsorganisierung lag. Dennoch entstand ein Kristallisationspunkt außerhalb der im Laufe der Jahre immer biederer gewordenen BI-Szene, die sich als ziemlich verschlafen zeigte und erst aufwachte, als die Flugzeuge auf der neuen Bahn landeten - und zwar laut. So stand das Wald-Hüttendorf lange im Zentrum - und die modernen HierarchistInnen rüsselten nach der öffentlichen Aufmerksamkeit. Für die Graswurzelrevolution (GWR Nr. 3/2009, S. 1) war klar, dass "seit Mai 2008 gewaltfreie AktivistInnen einen Teil des Waldes besetzt" hatten. So wurde eingemeindet. Passte es andersherum besser, ging das auch locker von der Hand. Als das Auto eines Fraport-Managers Feuer fing, titelte die Frankfurter Rundschau (12.3.2003): "Gewaltsamer Protest" und sammelte Zitate wie nach einem Bombenangriff: "Das kann man sich gar nicht vorstellen" und "Ich bin dankbar, dass es keinen getroffen hat". Das Bild in der FR war so aufgenommen, dass es wirkte, als sei der Wagen von einer Bombe zerstört worden. Tatsächlich zerstörte der Brand aber nur eine vordere Ecke. Interessant die Stellungnahme des LKA dazu, die zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Beweise hatten, dass es überhaupt ein Brandanschlag war. Sichtbar versuchte die FR hier, ein noch gar nicht geklärtes Kleinstereignis zu einer Art Terror aufzuspielen und auch gleich denen eine Plattform zu bieten, die das billige Spiel der Spaltung mitmachten. Passend dazu platzierte sie daneben einen Artikel "Erinnerungen an die Schüsse", mit dem daran erinnert wurde, dass bei Auseinandersetzungen an der Startbahn West einst zwei Polizisten erschossen wurden..

Einige BIs, gefördert als Sprachrohre in bürgerlichen Medien
Aus einem Interview mit Winfried Heuser, von der FR als "Sprecher des Bündnisses der Bürgerinitiaven" (so treten etliche auf!) dargestellt, in: FR, 12.3.2008 (Hessen D3)
Wir arbeiten auf sachlicher, fachlicher Ebene mit Argumenten. ... Radikal ist bei uns niemand. Die Leute sind alle friedlich. Manche mögen im Aussehen nicht immer den bürgerlichen Idealen entsprechen, aber von der Gesinnung her sind sie die treuesten Staatsbürger. Gewalt oder gar Terrorismus sind keine Lösung für gesellschaftspolitische Konflikte. Wir setzen auf Vernunft und gute Argumente.
Sascha Friebe, der vielfach selbst bei der Waldbesetzung mitmischte und nicht nur als Sprecher von Bürgerinitiativen vom Rand aus wichtig sein wollte. Er sagte in der Jungen Welt vom 13.3.2009 (S. 8)
Aber es gibt natürlich unterschiedliche Gruppierungen. Auch solche, die jetzt lieber eine härtere Gangart einschlagen würden. Es wäre wenig überraschend, wenn die Wut nun zum Ausbruch kommt. Fraport hat den Ausbau mit Mitteln durchgesetzt, die einer Gewaltausübung gleichkommen. Mit Macht hat man versucht, die Presse fernzuhalten, um Berichterstattung über die Räumung des Widerstandscamps zu verhindern. Journalisten wurden mit Kameras überwacht. Nach der öffentlichen Kritik dieser Methoden entschuldigte sich der Flughafenkonzern zwar – machte aber munter weiter. Man hängte nur Schilder auf mit der Aufschrift "Kamera überwacht". Die Natur, die Medien und wir, die Waldbesetzer, wurden vergewaltigt. Diese Uneinsichtigkeit provoziert. Doch unabhängig davon, wie man zu militanten Aktionen steht, finde ich es nicht gut, die Verantwortlichen für den Flughafenausbau in ihrem privaten Umfeld anzugreifen.

Ohnehin war bei den BIs alles wohlsortiert. Damit keine unerwünschten Menschen zu ihren Versammlungen kamen, wurden Namenslisten, Anmeldezwang und Eingangskontrollen eingeführt: "Die Teilnehmer sind namentlich gemeldet und werden am Eingang kontrolliert. Zu diesen strengen Maßnahmen sind wir leider gezwungen. Das hat einen wichtigen Grund. Ausnahmen wird es keine geben", gab die informelle Chefetage der BIs bekannt.

Aus einem Mailwechsel zwischen einer interessierten Person, die beim Wald-Hüttendorf aktiv war, und der BI-Koordination:
Daher wurde statt der großen Halle, ein kleinerer Saal angemietet. Jetzt läuft der Saal über und Ingrid hat mich gebeten die Anmeldungen aus Mainz zu reduzieren. Da fängt für mich natürlich das große Problem an. Wen soll ich bitten, sein Meldung zurück zu ziehen? Meinen Bemühungen weitere Arbeits- und Aktionsgruppen aufzubauen würde es schlecht anstehen, wenn ich jetzt die Sprecher der Arbeitsgruppen ausladen würde. Ich möchte Dich daher bitten, Deine Teilnahme zurück zu ziehen und hoffe, dass Du mir nicht böse bist.
Das war offenbar eine Lüge. Der Angeschriebene zog seine Teilnahme nicht zurück. Sondern schrieb:
Ich persönlich brauche nicht unbedingt einen Sitzplatz, sondern kann gerne an der Wand stehen oder mich zeitweise auf den Boden setzen. In dieser Hinsicht bin ich recht anspruchslos und durchaus pflegeleicht. Auch kann ich gern meine eigene Verpflegung selbst mitbringen.
Daraufhin wurde die Mail regider:
Die Teilnehmer sind namentlich gemeldet und werden am Eingang kontrolliert. Zu diesen strengen Maßnahmen sind wir leider gezwungen. Das hat einen wichtigen Grund. Ausnahmen wird es keine geben.

Stuttgart 21
2010 eskalierte ein Streit um große Umbaumaßnahmen in der baden-württembergischen Bahninfrastruktur. Auffälligster Umbau sollte der Abriss des bisherigen Kopfbahnhofs in Stuttgart mit Neubau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs sein. Dagegen hatte es schon viele Jahre Protest gegeben - oft aber in der typischen Form der NGO-Arbeit. Auf der Straße sichtbar wurde er erst, als die Bagger rollen wollten. Dann eskalierte er schnell: Ramboallüren der führenden Politiker, Beratungsresistenz bei der Bahn-Führung und ein gewalttätiger Einsatz der wieder mal Profitinteressen durchsetzenden VollstreckerInnen in Uniform machten aus dem bis dahin provinziellem Thema einen bundesweiten Nachrichtenhit. Die damalige schwarz-gelbe Landesregierung geriet unter Druck, die Grünen schossen in den Wahlumfragen nach oben (aufs Wählen degradierte Massen vergessen schnell ...), Demonstrationen wurden Woche für Woche größer. CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus zauberte trotzdem eine Lösung aus dem Ärmel. Sehr schlau nutzte er - offenbar lernfähig nach anfänglicher Stümperei in der Protestbekämpfung - die Steuerungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Diskurse und moderne Integrationsmethoden von Protest: Heiner Geißler wurde als Schlichter eingesetzt. Er ist CDU-Mitglied, aber auch bei Attac. Die um Medienerwähnung buhlende NGO hatte Geißler auch immer wieder selbst in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt. Das nutzte Geißler nun geschickt aus. Es kam zu einem Runden Tisch. Dort saßen fast nur noch PolitikerInnen und FunktionärInnen (darunter auf beiden Seite je eine Frau), die live im Fernsehen übertragenen Schlichtungsgespräche boten den Flair von Duellen vor Wahlen. Der Protest auf der Straße ging fast auf Null zurück. Eine Einigung erreichte die Schlichtung nicht, aber den bundesweiten Applaus für eine ungewöhnliche Fernsehunterhaltung. Der als Moderator geschickt agierende Geißler erntete derart viel Lob, dass er zum Abschluss ganz allein ein Ergebnis präsentierte. Als "Schlichterspruch" getarnt warb er für den Bau des unterirdischen Bahnhofs - selbstverständlich ein bisschen grün angestrichen.
Nun geschah etwas Beeindruckendes: Ob Ministerpräsident, Bahnchef oder der Grünen-Bundesboss Özdemir - sie alle kündigen an, dem Schlichterspruch folgen zu wollen. Innerhalb weniger Wochen war aus dem völlig unbeteiligten Geißler der König der Stuttgart-21-Debatte geworden. Gereicht hat ihm ein mediales Schauspiel erster Güte, das ihm die Chance bot, als diskurssetzende Institution wichtiger zu werden als sämtliche sonstigen gesellschaftlichen Einflussgrößen. Eine beachtliche Leistung, die nur gelang, weil Geißler mit dem Label Attac und seiner beachtlichen Medienschläue als großer Integrator erschien.

Im Original: Zitate zu Stuttgart 21
Geißlers Erfolg
Aus "Stuttgart, sonnig, warm", in: SZ, 2.12.2010 (S. 3)
Die Werte der CDU sackten ab. Ein halbes Jahr vor der Landtagswahl. Jetzt aber hat der Schlichter gesagt: weiterbauen. Das ist das, was für Mappus zählt. Weiterbauen. Heiner Geißler, den doch fast alle toll finden, dem fast alle vertrauen, er hat sich mit seiner ganzen moralischen Autorität für Stuttgart 21 ausgesprochen. Plötzlich müssen die anderen erklären, warum sie diesem Schlichter nicht folgen. Stefan Mappus dagegen steht jetzt endlich auf der richtigen Seite. Er ist jetzt der Friedfertige. Und er gibt sich dieser Rolle mit der ganzen Inbrunst hin, mit der er früher die andere Rolle gespielt hat ...
Heiner Geißler hat ihm den Weg geebnet. Ausdrücklich hat der Schlichter gesagt, die jetztige Landesregierung sei nicht schuld an der Bürgerbeteiligung. "Das hätte schon vor vier, fünf Jahren stattfinden sollen", hat Geißler gesagt. Es ist ein Freispuch erster Klasse für Mappus, zumal Geißler auch dessen Vorstoß lobt, eine bessere Vermittlung bei Großprojekten künftig per Gesetz zu regen. Mappus ist jetzt ein Guter. Draußen rufen Demonstranten schon wieder: "Mappus weg!". Aber die sind jetzt die Bösen, die Unbelehrbaren, die Kompromisslosen.


Möglichst viele integrieren und harmonisieren, gegen den Rest hetzen und spalten
Aus einem Interview mit Heiner Geißler nach der Schlichtung, in: SZ, 2.12.2010 (S. 2)
Ich habe den Konflikt humanisiert. Man kann Konflikte nicht einfach beseitigen, vor allem nicht, wenn sie so kontradiktorisch angelegt sind. Aber wir können die Austragung des Konfliktes harmonisieren und humanisieren. ...
Frage: Erwarten Sie, dass die Zeit des aufeinander Eindreschens nun vorbei ist?
Ja, zwischen den Schlichtungsteilnehmern und ihren Gruppen. Aber niemand kann die Verantwortung übernehmen für kleine Gruppierungen wie die "Aktiven Parkschützer", die an der Schlichtung nicht teilgenommen haben. Das vielleicht 15 Leute mit vielleicht noch einmal 50 Anhängern. Sie sind keine Massenbewegung, sie sind nicht die eigentlichen Träger des Alternativkonzepts. Die Träger sind vielmehr die Zehntausenden Bürger von Stuttgart, ganz normale Leute, die die Methoden der Parkschützer ablehnen.


BILD-Zeitung am 2.2.2010 (zitiert in: Junge Welt, 3.12.2010, S. 4)
Sie wollen wieder Demo, Krawall, Bäume besetzen. (...) Wer jetzt noch weitermacht, als habe es keinen Schlichterspruch gegeben, verletzt entweder die Regeln von Anstand und Rechtsstaatlichkeit oder er ist nur der nützliche Idiot für Leute, die einen anderen Staat wollen.

Aus Demirovic, Alex: "Es geht ums Ganze", in: ak 15.10.2010 (S. 29)
Unter der Regierungs Schröder gab es beides, einerseits die Einschränkung des Verbandsklagerechtes, das Verfahrensbeschleunigungsgesetz, die Verlagerung von Entscheidungen in Kommissionen und andere Formen von Governance - aus Angst, politische Entscheidungen könnten durch zu viel Mitsprache von unten "zerredet" werden. Andererseits wurde die Partizipationsbereitschaft der Zivilgesellschaft nicht nur gefordert, sondern auch gefördert, die Lichterketten, die NGOs, das Engagement und die Courage der BürgerInnen, die Zivilgesellschaft. ...
Es ist demokratisch-popularer Kampf gegen diejenigen, die seit Jahrzehnten in der Gestaltung der Verhältnisse immer so weiter machen, die Macht ausüben und gesellschaftlichen Reichtum aneignen, um an morgen Macht ausüben und Reichtum aneignen zu können. ...
ört zu den definierenden Merkmalen der Demokratie, dass der demokratische Souverän das Recht zur Revision seiner früheren Entscheidungen hat.

Aus Sternstein, Wolfgang: "Die gewaltfreie Revolte gegen 'Stuttgart 21'", in: GWR Dez. 2010 (S. 1 und 7)
Ungewöhnlich an diesem Protest ist die Mischung aus Zorn und Heiterkeit, Erbitterung und Volksfeststimmung. Sie äußert sich in einer Vielzahl von einfallsreichen, witzigen Transparenten, Plakaten, Luftballons und Verkleidungen. ...
Unter zivilem Ungehorsam in der Tradition von Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King versteht man die bewusste Übertretung von Gesetzen oder gesetzesähnlichen Vorschriften sowie die Gehorsamsverweigerung gegenüber polizeilichen Anweisungen mit dem Ziel, staatliches Unrecht oder staatliche Korruption zu beseitigen.
Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne sollte "zivil", also offen, dialogbereit und gewaltfrei sein. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung oder die Gehorsamsverweigerung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. ...
Wer zivilen Ungehorsam leistet, dem geht es um die Verbesserung der Demokratie, nicht um ihre Zerstörung. Durch ihre Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken. ...
Selbst wenn Staat und Wirtschaft ein Projekt mit aller Macht durchsetzen wollen, werden sie am gewaltfreien Widerstand der betroffenen Bevölkerung scheitern, vorausgesetzt - und diese Bedingung ist entscheidend - sie ist bereit, den Preis zu bezahlen, den gewaltfreier Widerstand kostet.

Aus einem Kommentar von Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2010 (S. 4)
Geißler sagt "Ja, wenn" zu Stuttgart 21. Dann lässt er eine Kette von (zum Teil unübersehbaren Bedingungen) folgen. Wenn es gutgeht, sorgen diese Bedingungen für einen wackeligen Frieden in Stuttgart. Wenn es wirklich gutgeht, dann wird es vor dem Bahnhof nicht wieder Bilder von gewalttätigen Polizeieinsätzen geben. Wenn es noch besser geht, wird aus dem umstrittenen Projekt Stuttgart 21 ein halbwegs akzeptiertes Projekt "Geißler 21". ... Geißler hat in einer vorbürgerkriegsähnlichen Situation aus Kriegern wieder Bürger, aus Feinden wieder Gegner gemacht ...

Weitere Beispiele
Andreas Beuth (64 Jahre, Rechtsanwalt) schwingt sich als "Sprecher der Autonomen" auf (im NDR)
Wir als Autonome, und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen. Aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also, warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?


Die Steigerung, Stufe 1: Im Namen der gesamten Bewegung
Ein konkretes Projekt, einen Verband, ein Camp oder eine Aktion zu steuern und/oder zu vereinnahmen, erscheint noch recht einfach. Aber die ganze Bewegung? Tatsächlich aber ist das noch einfacher, vorausgesetzt, jemand hat privilegierte Zugänge zu Behörden, Medien oder anderen, vor denen er/sie als "die Bewegung" auftreten kann. Leichter ist das deshalb, weil es "die Bewegung" gar nicht gibt. Sie ist also nicht nur eine Vereinfachung und Hierarchisierung wie bei den selbsternannten oder gewählten SprecherInnen von Organisationen oder Kampagnen. Sondern sie ist komplett konstruiert. Damit verfügt sie aber auch über keine Möglichkeiten, sich den Übergriff der Vereinnahmung zu verbitten. So ging es jedes Jahr im November den vielen Castor-Aktionsgruppen. Sie ketteten sich vor den Zug, baumelten an Seilen zwischen Bäumen oder Brückenpfeilern oder kletterten direkt auf die strahlende Fracht. Doch im Scheinwerferlicht der Kameras und, noch beliebter, in den warmen Fernsehstudios vermittelten die immer gleichen Führungspersonen, warum die da draußen das machten. Da half es nicht einmal, wenn sich Aktionsgruppen dieser Vereinnahmung selbstbewusst entgegenzustemmen suchten. Die Eliten der Bewegung mit ihren besseren Zugängen zu den JournalistInnen trafen auf eine Erwartungshaltung von Medien, die genau passte: Schnelle O-Töne ohne anstrengendes Kraxeln bei Kälte im Gelände.

Das Spiel des Castors ist anderswo Alltag. RednerInnen auf Demos reden im "Wir"-Stil. Bündnisse reden nicht nur für sich, sondern für alle. "Das Transition Town Movement ist monentan der Überbegriff für alle Bewegungen", behauptet dreist ein ein Kölner Mitwirkender der kleinen, revolutionsromantischen Splittergruppe (Contraste, März 2012, S. 1). Ständig werden so Einheit und Gemeinwillen konstruieren, die - wie bei Volk und Regierung - aber erst dadurch entstehen, dass Privilegierte sie verkünden.

Die Steigerung, Stufe 2: Im Namen der Menschheit

Das lässt sich noch weiter toppen: Reden nicht nur für "die" Bewegung, sondern für die ganze Welt. Occupy agiert mit dem Spruch "Wir sind 99%" - eine bemerkenswerte Anmaßung, unverständlich gerade aus kritischen Kreisen, die den Anspruch, für "die Welt" zu handeln, eigentlich energisch zurückweisen müssten statt sich selbst in diese Rolle zu versetzen. Ins Absurde gerät der Spruch vollends angesichts der überwiegend stark auf sich und die kleinen Zeltdörfer bezogenen Aktivitäten.
Neu ist die Idee aber nicht, einfach eine Menschheit herbeizureden, sie zur Einheit zu konstruieren und ihr Eigenschaften bzw. Meinungen anzudichten - um sie als vermeintliches Sprachrohr dann zu verkünden. Auffällig ist die Ähnlichkeit zu Propheten, die sich erst ihren Gott erschaffen, um dann - mit seiner Autorität aufgeladen - in seinen Namen die eigene Meinung zu verpacken.

Im Original: Weitere Beispiele
Im Namen aller Menschen ...
Aus dem Konzept für einen Weltzukunftsrat (Quelle: www.weltzukunftsrat.de) ... mehr hier!
Unsere Welt braucht eine starke Stimme, die für unsere Werte als Weltbürger und für die Interessen des Planeten spricht.
Der Welt-Zukunftsrat wird als Stimme der globalen Vernunft, die sich für gemeinsame menschliche Werte und Traditionen einsetzt ... Unser Ziel ist ein globaler Rat der Weisen, der Pioniere und Vorreiter auf verschiedenen Gebieten sowie engagierter junger Menschen, die für unsere gemeinsamen Werte als Bürger dieser Erde und für die Rechte zukünftiger Generationen sprechen. ... Die Mitglieder der ersten Jahre sollen nach einem breiten Konsultationsprozess ausgesucht werden, mit Hilfe der schon an dieser Initiative beteiligten Organisationen wie EarthAction, Friends of the Earth, B.A.U.M. usw.. Zu einem späteren Zeitpunkt wird es sicher möglich sein, Mitglieder des Rates direkt zu wählen.
Die Legitimität des Rates wird sich aus der Qualität seiner Vorschläge und seiner Zusammenarbeit mit demokratisch gewählten Parlamentsmitgliedern ergeben, deren Unterstützung für die Umsetzung erforderlich sein wird.
Der Rat wird eine Exekutive wählen, die sich mit Notfallsituationen befasst.


Aus Ignacio Ramonet (Attac-Initiator und Ehrenpräsident, Chefredakteur der le monde diplomatique), 2002: "Kriege des 21. Jahrhunderts". Rotpunktverlag, Zürich
... Weltsozialforum im brasilianlischen Porto Alegre. Dort sind fünf von den sechs Milliarden Menschen vertreten, die auf dieser Welt leben. Das Forum von Porto Alegre vertritt die Menschheit. Was sich dort jedes Jahr Ende Januar versammelt, ist zum ersten Mal in der Geschichte - die Menschheit.

Reden im Namen aller
Aus der Schrift "Die Stimmrechtsreform bei Weltbank ..." des eed (Evang. Entwicklungsdienst) ... siehe Scan rechts


Neu ist eine Art Wohlfühltheorie hinter der modernen Steuerung, die Schwarmintelligenz. Der Begriff "neu" bezieht sich hier auf das Jahr 2011, in dem die Idee der Schwarmintelligenz von politischen Bewegungen als positive Idee aufgenommen wurde. Besonders prägnant vollzog sich das innerhalb der Occupy-Bewegung, die ihre Orientierungslosigkeit und fehlende Selbstorganisierung so verschleierte. In den Monaten und Jahren vorher waren verschiedene Bücher und Aufsätze zum Verhalten von Schwärmen (Bienen, Fische usw.) erschienen. Die Übertragung auf Menschen reduziert diese auf Rädchen im System und ist zudem ein klassischer Biologismus, d.h. die Ableitung sozialer Organisierung aus instinktiv gesteuerten Überlebensstrategien in der Natur. Dabei wurde gar nicht verheimlich, dass Schwärme die Steuerbarkeit erhöhen - vor allem dann, wenn die Menschen die "angelernte Neigung" haben, sich nicht selbst zu organisieren, sondern nach Orientierung zu suchen.

Im Original: Steuerung im Schwarm
Aus Len Fisher (2010): "Schwarmintelligenz", Eichborn in Frankfurt
Die Erdbevölkerung besteht aus Milliarden von Menschen, und die Kräfte der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung lassen auch unter uns Strukturen entstehen. Unsere Gesellschaften sind allerdings nicht annähernd so regelmäßig wie das Atomgitter eines Kristalls. Komplexitätsforscher verwenden ein poetisches, wenngleich etwas irreführendes Bild: Die menschliche Gesellschaft befindet sich am Rande des Chaos.
Das ist leicht misszuverstehen, denn das klingt so, als könnte unsere Gesellschaft jeden Moment in der Anarchie versinken. Damit ist jedoch lediglich gemeint, dass der Grad ihrer Organisation irgendwo zwischen völliger Ordnung und völligem Chaos liegt. ... (S. 16f.)
Computermodelle zeigen, dass die Führungsrolle dieser informierten Bienen einfach eine Folge ihres Informationsvorsprungs ist. Mit anderen Worten braucht es nur einige wenige anonyme Anführer mit einem klaren Ziel vor Augen und einer klaren Vorstellung davon, wie dieses zu erreichen ist, um den Rest des Schwarms in eine bestimmte Richtung zu lenken - und zwar ohne dass dieser es bemerkt. Einzige Voraussetzung ist, dass die anderen das bewusste oder unbewusste Bedürfnis haben, bei der Gruppe zu bleiben, und dass sie keine eigenen Ziele verfolgen. ... (S. 45)
Das eben geschilderte Experiment zeigt jedoch, dass es auch andere Möglichkeiten gibt: Wir können eine Gruppe schon allein dadurch führen, dass wir ein Ziel haben, vorausgesetzt natürlich, die anderen verfolgen kein eigenes. ... (S. 46)
Aber im Ernst - die Anwesenheit einiger weniger informierter Individuen in einem Schwarm hat erheblichen Einfluss auf dessen Leistung. Ohne sie reagiert die Gruppe nur auf die Umwelt, genau wie ein Fischschwarm, der einem Hai ausweicht, oder Heuschrecken, die mit dem Wind fliegen. Ohne das Wissen und die Ziele einiger Individuen hält die Schwarmintelligenz eine Gruppe zwar zusammen und ermöglicht ihr, auf die äußeren Umstände zu reagieren, doch es ist dem Schwarm beinahe unmöglich, Eigeninitiative zu entwickeln. ... (S. 47)
Die Vorstellung vom unsichtbaren Anführer, der aus der Gruppe heraus wirkt, ist so alt wie die Menschheit. Ein chinesisches Sprichwort, das Lao-Tse, dem Gründer des Taoismus, zugeschrieben wird, besagt: "Ein Führer ist dann am besten, wenn ihn die Menschen kaum bemerken. Wenn die Arbeit getan und sein Ziel erreicht ist, dann sagen sie, 'Wir haben es selbst vollbracht'."
Neu jedoch ist der theoretische und praktische Beweis, dass ein Anführer (oder eine Gruppe von Anführern) eine Gruppe unerkannt und von innen heraus auf ein Ziel zuführen kann. Daraus lässt sich eine Regel ableiten, die wir nutzen können, wenn wir eine Gruppe in unserem Sinne beeinflussen wollen: Führen Sie von innen heraus (am besten mit einer Gruppe gleichgesinnter Kollegen oder Freunde), aber achten Sie darauf, dass es die anderen Gruppenmitglieder nicht bemerken. Gehen Sie einfach in die Richtung, in die Sie gehen wollen, und überlassen Sie den Rest den Gesetzen des Schwarms.
Das funktioniert in Gruppen, deren Angehörige eine angeborene oder angelernte Neigung haben, sich anderen in ihrer Umgebung anzuschließen. Es reicht schon aus, wenn einige nicht nachahmen, sondern die Führung übernehmen, und schon bald folgt ihnen die gesamte Gruppe. jede Abweichung wird rasch durch negative Rückkopplung korrigiert, und die Abweichler werden durch sozialen oder physischen Druck dazu gebracht, sich dem Rest anzuschließen. je größer die Abweichung, umso stärker der Druck. ...
Polizeibeamte haben uns berichtet, dass es ausreicht, bei Demonstrationen und Straßenschlachten eine kleine Gruppe von Randalierern festzunehmen, um die ganze Menge zu kontrollieren. (S. 48 f.)

Aus "Schlauer im Schwarm", in: Spiegel 22/2008 (S. 151)
In einem zweiten Schritt testeten die Forscher, wie die Gruppe reagiert, wenn einzelne Mitglieder sie in eine bestimmte Richtung lenken sollen. "Die Bewegungen stimmten größtenteils mit dem Modell des Fischschwarms überein", sagt Couzin ...

Kritik in einem Interview mit dem Piratenfunktionär Martin Delius (Berlin) in: FR, 16.7.2012
... auch wenn ich nichts von dem Ausdruck Schwarmintelligenz halte. Politische Veränderungen werden von Einzelnen und kleinen Gruppierungen angestoßen, nicht von einer diffusen Masse aller.

Rechts: Positiver Bezug auf den Schwarm als soziale Formation in der aus fundamentalistisch-christlichen und verschwörungstheorien-besessenen Kreisen gemachten Zeitung "Stimme&Gegenstimme" Nr. 7/2014

Aus Eduard von Wyl (2012): "Von den Quarks ins dritte Jahrtausend", R.G.Fischer in Frankfurt (S. 647f.)
Der theoretische Physiker Giorgie Parisi von der Universität von Rom hat den Flug der Stare erstmals mit einem quantitativen Ansatz der statistischen Physik erforscht. Es wurden 3 synchronisierte Fotoapparate eingesetzt. Die Resultate bestätigen, dass es innerhalb des Schwarms keinen Führer, ja überhaupt keine Hierarchie gibt. Für ihn ist das Schwarmverhalten wie das Verhalten einer Flüssigkeit. Ein Star im Schwarm ist wie ein Molekühl in einer Flüssigkeit, er ändert dauernd seine Position. Es bestätigte sich auch, dass das Verhalten eines Stars sich nach dem Verhalten seiner 6-7 Nachbarn richtet. ...
Forscher des MIT haben die Bildung von Hering-Bänken mittels eines Sonar-Systems analysiert. ... Die Fische schwimmen in die gleiche Richtung und mit der gleichen Geschwindigkeit, so wie ein sehr kleiner Prozentsatz von "Führern" es vormacht. ...
Das zu tun, was der Nachbar tut (Allelomimetismus), findet man überall in der Natur oder in menschlichen Gemeinschaften. Etwa die Händler an der Börse machen meist das das, was die Nachbarn tun. ...
4 Miniroboter wurden zu 12 Küchenschaben gegeben. Der Durchmesser der Arena betrug 1m. Im Innern gab es ein dunkles und ein helles Versteck. Den Minirobotern gelang es, die 12 Kakerlaken zum hellen Versteck zu führen. Die Küchenschaben unter sich wählen stets das dunkle Versteck. Die Miniroboter haben somit eine kollektive Entscheidung bestimmt.

Aus Michael Brückner, "Die Akte Wikipedia" (S. 24 f.)
Schwarmintelligenz - gemeinsam klüger oder dümmer?
Viele Köche verderben den Brei, heißt es im Volksmund. Doch das scheint in Zeiten von Wikipedia und den sogenannten Social Networks eine längst überholte Einstellung von unbekehrbaren Spießern zu sein. Und es klingt tatsächlich durchaus logisch: Weisheit ist die Summe von Wissen. Je mehr Menschen ihr Wissen teilen, desto größer die Weisheit. Sollte man zumindest meinen. Wie kann es dann aber nach wie vor zu spektakulären Fehleinschätzungen kommen, zum Beispiel zu Börsencrashs und Finanz-krisen? Versagt hier die Schwarmintelligenz? Salopp ausgedrückt: Die viel gepriesene Schwarmintelligenz folgt oft dem gleichen Verhaltensmuster wie der Herdentrieb.
An der ETH Zürich wurde dieses Phänomen vor einigen Jahren wissenschaftlich untersucht. Einer Reihe von Studenten wurden Schätzfragen gestellt. Sie sollten zum Beispiel beantworten, wie lang die Grenze der Schweiz zu Italien ist und wie viele Mordfälle es bei den Eidgenossen im Jahr 2006 gegeben habe. Einem Teil der Gruppe wurde anschließend der Durchschnittswert der Schätzungen ihrer Kommilitonen präsentiert. Ein weiterer Teil der Probanden erhielt die Schätzwerte der anderen Teilnehmer vorgelegt. Und dann kam es zu einem bemerkenswerten Effekt: Die Schätzungen näherten sich immer weiter an, es bildete sich sozusagen ein Mainstream heraus. Die Ext-remwerte verschwanden zwar, allerdings kam der Mainstream dem tatsächlichen Wert nicht näher. Menschen neigen also offenbar dazu, sich bei ihrer Urteilsbildung an anderen zu orientieren. Sind viele Menschen einer bestimmten Meinung, kann diese vermutlich nicht falsch sein so die gängige Einschätzung. Die Zürcher Forscher haben die Ergebnisse ihrer Untersuchung im Wissenschaftsblatt Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht. Dirk Helbing von der ETH Zürich bringt das Ergebnis dieser Untersuchung auf den Punkt: "Wenn alle anderen das Gleiche machen wie man selbst, glaubt man, auf dem richtigen Dampfer zu sein.""
Dass der Mainstream nicht unbedingt Ausdruck großer Weisheit sein muss, stellt an sich keine Überraschung dar. je mehr der Mensch weiß, was andere denken, desto be-reitwilliger passt er sich offenkundig an. Das (vermeintliche) Wissen der Masse verringert zwar die Diversität der Antworten, nicht jedoch die kollektiven Fehler. Insofern können interessierte Kreise den Mainstream gezielt manipulieren. Das Individuum ist nicht mehr selbst ein kritischer Denker, es passt sich der Mehrheitsmeinung allzu gern an in der Überzeugung, damit nichts falsch machen und auch nicht anecken zu können.


Aus Lia Polotzek, "Schwarmintelligenz", in: agora42 2/2016 (S. 11)
Schwarmintelligenz (auch kollektive Intelligenz) bezeichnet das Phänomen, dass selbstorganisierte Gruppen im Zusammenspiel eine höhere Problemlösungskompetenz aufweisen als die fähigsten Individuen unter ihnen für sich genommen. ... Schwarmintelligenz funktoniere allerdings nur, wenn drei Bedingungen erfüllt wären: Diversität, Unabhängigkeit und Dezentralisierung.

Aus "Schwarmintelligenz: Gemeinsam sind wir dümmer", in: Spiegel Online, 17.5.2011
Ein Forscherteam von der ETH Zürich hat nun in einem Experiment gezeigt, wie schnell Schwarmintelligenz in Schwarmdummheit umschlagen kann. Sobald Menschen nämlich erfahren, dass andere über ein Problem anders denken als sie selbst, ändern sie ihre eigene Meinung - zumindest ein bisschen.

Aus "Der Etikettenschwindel mit der Schwarmintelligenz", in: Harvard Business Manager, 18.8.2014
Laut Verhaltensbiologe Professor Jens Krause bedarf es hierzu Individuen, die unabhängig voneinander Informationen sammeln und diese in sozialen Interaktionen verarbeiten und zusammenführen, was dann in der Lösung eines kognitiven Problems mündet. ...

Aus "Und nun alle zusammen", in: SZ, 21.5.2015 (S. 38)
In der Gruppe treffen Tiere oft die klügere Wahl, als wenn sie auf sich allein gestellt sind. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen die "Weisheit der Vielen"als eine geradezu mystische Erfolgsformel verklären. Schließlich hat schon Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, im Jahr 1906 mit seiner berühmten Ochsen-Schätzung gezeigt, dass auch Menschen von Schwarmintelligenz profitieren können. (Ironischerweise wollte er eigentlich das Gegenteil demonstrieren, nämlich die "Dummheit der Masse".) Galton analysierte die Beiträge von knapp 800 Wettbewerbs-Teilnehmern, die das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten. Die einzelnen Angaben lagen oft weit daneben. Doch der Mittelwert aller Tipps war erstaunlich genau. Das tatsächlich 1207 Pfund schwere Tier wurde demnach auf 1198 Pfund geschätzt.
Seit diesem Wettbewerb wurden unzählige Angestellte zum vermeintlich effizienten Brainstorming verdonnert, stets in der - mittlerweile lange widerlegten - Hoffnung, damit besonders gute und kreative Lösungen zu finden. Warum funktioniert das nicht? Weil Menschen in so einer Situation nicht auf ihre eigenen Einfälle vertrauen, sondern sich automatisch auch an denen ihrer Nachbarn orientieren. Das Prinzip der Schwarmintelligenz baut hingegen darauf, dass die einzelnen Gruppenmitglieder ihre persönliche Wahl unabhängig voneinander treffen. Erst danach dürfen die Einzelmeinungen zusammengeführt werden. Besonders plastisch wird die Verzerrung durch "soziale Information" - also dem Verhalten anderer - an einer roten Fußgängerampel. Irgendwann marschiert der erste los - und andere folgen ihm. Sie vertrauen der sozialen Information mehr als dem tatsächlichen Geschehen um sie herum, das sie mit eigenen Sinnen wahrnehmen. Eine möglicherweise fatale Entscheidung. Zum Trost für die Menschheit: Auch Tiere geraten in vergleichbare Konflikte.
Vermeiden lassen sich solche Probleme häufig durch kleinere Gruppengrößen. Couzin zufolge bleiben die Mitglieder dann empfänglicher für Reize aus der Umwelt. Die Individuen können die Lage dann sozusagen nicht nur durch Sekundärquellen - das Verhalten ihrer Nachbarn - einschätzen, sondern auch mittels Informationen aus erster Hand. Ob das Argument der kleineren Gruppen aber in jedem Fall gilt, und ob riesige Schwärme diesem Problem vielleicht anders entgegensteuern, ist noch unklar.


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