Aktionsraum Gießen

AKTUELLE THEORIEANSÄTZE: WORÜBER ANARCHISTINNEN NACHDENKEN, WENN SIE DENKEN

Zu wenig: Das traditionelle Verständnis von Herrschaft


1. Einleitung
2. Zu wenig: Das traditionelle Verständnis von Herrschaft
3. Verschlafen oder vergessen: Moderne Herrschaftsanalyse
4. Das Menschenbild im Anarchismus
5. Links

Die Welt wimmelt von Unterschieden zwischen den Menschen. Diese entstammen nicht nur der Individualität und Eigenartigkeit von Menschen, sondern auch aus sozialen Zwängen, systematischer Ungleichheit beim Zugang zu Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen, Diskursen und anderen Arten der Beeinflussung, die von privilegierten Gruppen gesteuert werden. Wer mit einem emanzipatorischen Anspruch Politik betreibt, also Herrschaft abbauen und auf eine herrschaftsfreie Utopie hinwirken will, muss diese Vielfalt an Formen der Unterdrückung, Verhaltenssteuerung und Fremdbestimmung aufdecken. Der Einsatz für Verbesserungen verspricht zwar punktuell Erfolg, nie aber sollte vergessen werden, dass es viele Formen der Beherrschung gibt und Befreiung deshalb an vielen Orten nötig und möglich ist.
Der überwiegende Teil anarchistischer Debatte um Theorie und Praxis, so diese überhaupt stattfindet, dreht sich um wenige, schon länger bekannte, d.h. "klassische" Herrschaftsformen.

Im Original: Klassiker: Klare Ablehnung formaler Macht
Michail A. Bakunin: Gott und der Staat. Grafenau: Trotzdem Verlag
Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale Ehre, geschichtliche Rechte, juridische Rechte, politische Freiheit, öffentliches Wohl.

Erich Mühsam (1926): Staatsverneinung. In: FANAL, Jahrgang 1, Nummer 1, Oktober 1926
Es gibt keine andere Unterwerfung von Menschen unter die Macht anderer als ihre Fesselung in wirtschaftliche Hörigkeit. Das politische Zwangsinstrument dieser wirtschaftlichen Fesselung ist der Staat.

Michail A. Bakunin: Gott und der Staat. Grafenau: Trotzdem Verlag
Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. [...] Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen.

Rudolf Rocker: Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus
Auf diese Weise entwickelte sich der moderne Staat (...). Die neu entstandenen besitzenden Klassen benötigten ein politisches Machtinstrument, um ihre ökonomischen und sozialen Privilegien gegenüber den Massen des Volkes zu behaupten.

Aus: Junge Linke*: Kritik am Anarchismus
Dafür, daß es AnarchistInnen um Herrschaftslosigkeit geht, ist ihre Theorie, was Herrschaft ist, oft erstaunlich schlicht. Herrschaft wird zumeist als reiner Zwangszusammenhang mißverstanden, d.h. die mittels eines Gewaltapparats aufrechterhaltene Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit. [...] Die Untertanen tauchen ausschließlich als Opfer staatlicher Gewalt auf.
*Die Junge Linke ist eine marxistische Organisation, die mit diesem Text und thematisch ähnlichen Seminaren den Anarchismus denunzieren wollte. Daher weigerten sie sich auch, anarchistische TheoretikerInnen zu ihren Seminaren einzuladen, um ihre These der Theorielosigkeit, die über weite Strecken zutrifft, widerspruchslos verkünden zu können.

Kategorien, aber keine Einheiten: Klassen, Geschlechter, Rassen
Anarchistische Theorie und Praxis beziehen sich immer wieder auf die klassischen Unterdrückungsformen. Diese fußen auf der Zuweisung vermeintlicher oder bestehender körperlicher oder sozialer Verhältnisse zu eindeutig abgrenzbaren Gruppen. Seit Jahrzehnten Gegenstand politischer Theorie und Kämpfe sind dabei drei Kategorien, die sich allerdings von ihrer Logik her grundsätzlich unterschieden. Rassen sind frei erfunden. Sie basieren auf einem willkürlich gewählten Körpermerkmal (Hautfarbe), ignorieren dabei andere Merkmale und insgesamt die Vielfalt von Merkmalen des Aussehens. Die ist vielmehr so groß, dass ihre Kombination jeden Menschen zu einer völlig einmaligen Erscheinung macht. Es gäbe, wenn Aussehen zu Kategorien führt, also bei 7 Milliarden Menschen genau 7 Milliarden Rassen. Da aber nur die Hautfarbe zählt (und nicht Augenfarbe, Haarwuchs, Armlänge, Bauchumfang, Ohrläppchenform oder was ansonsten noch mit der gleichen wissenschaftlichen Begründetheit - nämlich keiner - hätte ausgewählt werden können), gelang die Konstruktion von Rassen. Allerdings wurde selbst dann noch ausgeblendet, dass überall Übergangsformen möglich sind, d.h. schon bei der Hautfarbe kein Bruchpunkt erkennbar war, der eine Grenzziehung ermöglicht hätte. Es bedurfte daher einer konstruierten Rassentheorie, um - ideologisch unterfüttert - den Glauben in die Köpfe zu trichtern, es gäbe Rassen.

Nur leicht anders sieht es bei den Geschlechtern aus. Im gesellschaftlichen Alltag und in den, für die Ausbreitung gesellschaftlicher Diskurse wichtigen Schulbüchern und Kinderspielzeugen, ist die Welt einfach: Es gibt Männer und Frauen, also zwei Geschlechter. Näher betrachtet würde diese Zweiteilung zwar schnell ins Wanken geraten, denn in der gesteuerten Wahrnehmung werden die vielen Misch- und Übergangsformen regelmäßig ausgeblendet oder chirurgisch beseitigt, d.h. angepasst. Es sind nicht wenige Kinder, die nach ihrer Geburt zwecks Herstellung eindeutiger primärer Geschlechtsmerkmale erstmal auf dem Operationstisch landen.
Zudem stellt bereits die Fokussierung auf bestimmte, als primär benannte Geschlechtsmerkmale eine gerichtete Wahrnehmung dar. Denkbar wäre, mehr Merkmale aufzunehmen - und tatsächlich: Es gibt Regionen und Kulturen auf der Welt, in denen mehr Geschlechter eingeteilt werden. Außerdem können sich optische Zuordnung und gefühltes Geschlecht unterscheiden - auch hier ist dann rein willkürlich, dass die optische Zuordnung zur formal gültigen wird.

Im Original: Mehr als zwei Geschlechter
Aus Wikipedia zu Intersexualität
Die Idee, dass eine strikte Aufteilung aller Menschen in zwei Geschlechter (z.B. Adam und Eva) den natürlich vorhandenen Gegebenheiten nicht gerecht werde, ist nicht neu. In einigen Kulturen und Religionen werden Intersexuelle (oft zusammen mit Transgender-Personen) als Angehörige eines dritten Geschlechts betrachtet, wie die Two-Spirit vieler nordamerikanischer Indianerstämme, indische Hijras (humsafar: Erklärung der Untergruppen (Englisch)), die Khanith Omans oder thailändischen Katoys.

Obwohl Geschlechter und Rassen ganz erfunden oder mit hohem Grad an Willkürlichkeit zugeordnet sind, bilden sie den Ausgangspunkt sozialer Stigmatisierung und prägen Diskurse über vermeintlich einheitliche Eigenschaften. Die ungefragte Zuordnung und das Überstülpen sozialer Etiketten sind Formen der Herrschaftsausübung. Sie unterwerfen Menschen als ganze Persönlichkeit diesen Schubladen, in dem sie sie einerseits so behandeln und andererseits das Denken über sich selbst so beeinflussen, dass die Menschen regelmäßig tatsächlich zum Produkt ihrer Zurichtung werden, d.h. ihre Rolle annehmen. Dann bestätigen und betätigen sie selbst den Diskurs.

Anders sehen die Verhältnisse bei der dritten großen Kategorie aus, die in den Debatten um Unterdrückungsverhältnisse benannt wird: Den Klassen. Sie beruhen auf dem Verhältnis zum Kapitalbesitz, also des Eigentums an Produktionsmitteln. Wer über dieses verfügt, kann es einsetzen, um für sich ein finanzielles Auskommen zu sichern oder gar Gewinne anzuhäufen. Wer keinen solchen Besitz hat, muss die eigene Arbeitskraft verkaufen, um im Kapitalismus das Überleben zu sichern. So würde sich die Welt in die besitzende und die Arbeiterklasse spalten, welche sich gegenüberstehen und, so wird mitunter behauptet, prinzipiell unterschiedliche Interessen haben. Befreiung sei daher ein Klassenkampf.
Nun weist dieses Einteilen auch hier eine Menge eine Reihe von Fragwürdigkeiten auf. Da ist zum einen das Kriterium des Kapitalbesitzes. Das mag vor 200 Jahren, als FabrikbesitzerInnen ihren ArbeiterInnen gegenüberstanden, noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben. Aber heute? Die meisten Firmen sind Kapitalgesellschaften oder Ähnliches, d.h. sie gehören nicht mehr konkreten Personen, sondern zum Teil - welch Ironie - zu guten Teilen denen selbst, die sich von ihnen ausbeuten lassen. Die Topmanager und wenigen -managerinnen, die absurde Gehälter beziehen, weil sie andere Menschen mehr oder weniger erfolgreich ausbeuten, sind selbst auch keine KapitalbesitzerInnen, wohl aber die AntagonistInnen der ArbeiterInnen. Zwischen Chefetage und befehlsempfangenden Ausführenden gibt es jede Menge Übergänge. Eine klare Grenze ist nirgends mehr zu erkennen.
Zudem bilden die Sphären keinerlei Einheitlichkeit. Der Konkurrenzkampf um die Plätze ist oben wie unten gleich. Autoritäre und antiautoritäre Charaktere, Machtmenschen und Softies, Nazis und AnarchistInnen - das alles gibt es auf allen Ebenen. Wenn sich auf den Straßen Dresdens am 13. Februar Nazis und Antifas prügeln, dann sind es beides vor allem Angehörigen der vermeintlichen "ArbeiterInnenklasse". Stellen sich schlecht bezahlte, aber gut ausgerüstete Prügelcops dazwischen und dreschen im Zweifel auf beide anderen Gruppen drein, so gehören auch sie dieser Klasse an.

Das Ganze ist aber ohnehin löcherig: Mit den drei Kategorien, die mit dramatischen Unterdrückungserscheinungen verbunden sind, ist es nämlich nicht getan. "Triple oppression", also die dreifache Unterdrückung, die sich auf die genannten drei Kategorien bezieht, ist immer noch zu wenig. Menschen werden nach Alter (stigmatisiert als "minderjährig" oder "alt"), körperlichem Zustand ("krank", "verrückt", "dick" usw.), aus der Norm fallenden sozialen Verhaltensweisen ("kriminell", auch hier "verrückt" usw.) oder anderen Merkmalen in Schubladen gesteckt und aufgrund dieser stigmatisiert. Für etliche dieser Unterdrückungsformen sind noch nicht einmal Fremdwörter oder Fachbegriffe geläufig - untrügliches Kennzeichen, dass sie noch nicht einmal im Bewusstsein angekommen sind.

Mensch kommt mit den groben, bis zur Verfälschung und Willkürlichkeit gehenden Einteilungen also nicht weiter, wenn die deutlich komplexeren gesellschaftlichen Verhältnisse erfasst, analysiert und verändert werden sollen. Das bedeutet nicht, dass es überflüssig ist, Rassismus, Sexismus und Klassenunterschiede überhaupt noch zu denken. Denn die gesellschaftliche Realität wird nicht nur von denen geprägt, die sie verändern wollen. Klassen, Rassen und Geschlechter werden gemacht. Die Befreiung der Menschen geht mit der Auflösung dieser - und weiterer - Kategorien einher. Solange sie oder ihre Voraussetzungen aber hergestellt, d.h. konstruiert werden, gehört die Zertrümmerung der Verhältnisse und Beziehungen, die die Kategorien herstellen, Menschen zuordnen und dann aufgrund der Kategorien in Rollen stopfen oder mit unterschiedlichen Möglichkeiten versehen, zur Praxis der Befreiung dazu. Daher sind Antisexismus, Antirassismus und Antikapitalismus längst keine Geschichte, sondern weiterhin bitter nötig. Aber eben nicht nur sie.


Ökonomische Gewalt: Profit, Wert und Eigentum
Der unterschiedliche Zugang zu Produktionsmittel mag - zumindest heute - nicht mehr zu Abgrenzung von Klassen taugen. Er ist aber dennoch real und Teil von ökonomischen Verhältnissen, die systematisch ungleiche Möglichkeiten und damit Privilegien sowie Diskriminierung schaffen. Diese Formen ökonomischer Unterdrückung werden auch von ihren Mechanismen her bereits länger diskutiert, so dass sie an dieser Stelle zu den "klassischen" Formen der Beherrschung gerechnet werden.
Dabei kann zwischen Zwängen, die das gesamte Geschehen und damit alle Beteiligten betreffen, und solchen, die nur bestimmte, nicht-privilegierte AkteurInnen im wirtschaftlichen Raum treffen, unterschieden werden. Ein alle im Zwangsgriff haltender Einfluss ist der nach ständiger Wiederverwertung drängende Wert aller Sachen. Im Kapitalismus ist der Sinn alles Wissens, aller Produktionsmittel und Produkte sowie der des universellen Tauschmittels Geld, wieder der Verwertung zugeführt zu werden in der Hoffnung, dass sich der Wert dadurch ständig erhöht. Geld soll zu mehr Geld gemacht werden, Produktionsmittel müssen Produkte erzeugen, die sich zu - in Geld messbarem - Wert machen lassen. Und all das immer fort.
Diese ständige Wertlogik kann auch als Profitorientierung oder -zwang beschrieben werden: Kapitalistische Wirtschaft bedeutet nicht Bedürfnisbefriedigung, sondern schafft eine endlose Spirale der ständigen Erzeugung neuer Werte durch alten Wert. Ständig müssen neue Profitquellen erzeugt, weitere Lebensbereiche der Profitlogik unterworfen (aktuell: Patente auf Leben, Zertifikate für Luftnutzung, Weltraumreisen und Protestagenturen) und der Umsatz erhöht werden. Innerhalb dieser ewigen Zwangsmaschine zur Verwertung aller Dinge und der menschlichen Denk- und Arbeitskraft bestehen massive Unterschiede zwischen den Beteiligten aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Abschlüsse, ihres Besitzes, ihrer Zuordnung zu Kategorien wie Geschlecht oder Rasse, ihrem Alter und vielem mehr. Der Zwang zu Verwertung und folglich zu Profit trifft zwar alle, aber in unterschiedlicher Weise. So schaffen die ökonomischen Verhältnisse Hierarchien und damit Unterdrückung. Sie schaffen Privilegien und damit als Kehrseite auch Diskriminierung. Sie schaffen Eigentum und damit einerseits Reichtum, andererseits Elend und verschiedene Abhängigkeiten.

  • Die Seite zu Produktivkraft und ökonomischer Beherrschung bei "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"

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