Wahlquark

WAHLEN ALS LEGITIMATION

Losen - demokratischer als Wählen?


1. Was sind Wahlen?
2. Zitate zu Wahlen und Abstimmungen
3. Funktion von Wahlen
4. Manipulation
5. Wer wählt?
6. Wahlboykott - eine Alternative?
7. Losen - demokratischer als Wählen?
8. Links und Materialien

Heute besteht Demokratie im Großen und Ganzen daraus, einen Teil der Privilegierten durch Wählen bestimmen zu dürfen - wobei die Nicht-Privilegierten aufgrund ihrer geringeren Mittel kaum eine Chance haben, gewählt zu werden. Das war nicht immer so - und müsste auch nicht so sein. So wurden in der attischen Demokratie, die ständig - und damit fälschlicherweise - als Anfang der modernen Demokratie interpretiert wird, die Posten gelost. Alle hatten folglich die gleiche Chance, ein Amt zu bekleiden. Außerdem war die Amtszeit eng begrenzt, d.h. jede Person musste fürchten, in der nächsten Periode in der Position desjenigen zu sein, über den sie gerade zu entscheiden hatte. Ein sehr interessantes Modell ...

Aus: David Van Reybrouck (2016), "Gegen Wahlen", Wallstein Verlag in Göttingen
Bei Aristoteles heißt es unumwunden: "Es gilt z.B. für demokratisch, die Staatsämter (arche) durchs Los, und für oligarchisch, sie durch Wahl zu besetzen." ... (S. 74)
Die Position des „Berufspolitikers“, die uns heute allen evident erscheint, hätte ein Durchschnitts-Athener als völlig bizarr und absurd empfunden. Aristoteles knüpfte einen sehr interessanten Gedanken über Freiheit daran: „Grundlage (hypóthesis) der demokratischen Verfassung ist die Freiheit [...] Von der Freiheit nun aber ist zunächst ein Stück, dass das Regieren und Regiertwerden reihum geht." ... (S. 75)
Die athenische Demokratie wird oft als .direkte. Demokratie umschrieben. Verdin erzählte uns von der großen monatlichen Volksversammlung, an der Tausende Bürger direkt teilnahmen. Im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit trat sie sogar fast wöchentlich zusammen. Aber das Gros der Arbeit fand in jenen anderen, spezifischeren Einrichtungen wie dem Volksgericht, dem Rat der 500 und den Magistraturen statt. Dort sprach nicht das ganze Volk, sondern eine Zufallsauswahl, die durch das Los zusammengestellt worden war. ... (S. 75)
… Erkenntnis, die Aristoteles zwei Jahrtausende zuvor bereits gewonnen hatte: „Wahl durch Los [le suffrage par le sort] entspricht der Natur der Demokratie, Wahl durch Abstimmung [le suffrage par choix] der Natur der Aristokratie." (S. 83)

Der Autor Reybrouck hat seinen Vorschlag fürs Losen vor allem in Hinblick auf Staaten präzisiert. Fraglos würde das dort auch zu erheblichen Veränderungen führen, voraussichtlich aber mit weniger Wirkung als in den alltäglichen Beziehungen zwischen Menschen. Denn Staaten sind per se etwas Abgehobenes, welches durch eine Reihe von Normen und Diskursen zusammengehalten wird, die starke Wirkung auf das Denken der Einzelnen entfalten und deshalb regelmäßig das Phänomen auftritt, dass der Wechsel von Personen, Parteien und Institutionen nur geringe Veränderungen im Gesamtgefüge bringt. Der Staat modernisiert sich schwerfällig mit dem Wandel des Zeitgeistes.
Die Idee des Losens auf die staatliche Ebene zu beschränken, wäre aber schade, weil sich die Strukturen, die im Staat im Großen wirken, in allen Subräumen der Gesellschaft wiederholen – wenn auch kleiner, oft persönlicher und dadurch durchschaubarer.

Wahlen und Abstimmungen sind demokratisch, also nicht fair
Subräume der Gesamtgesellschaft weisen sehr ähnliche Verhältnisse auf wie die Gesellschaft insgesamt. Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten, verrechtlicht oder nur informell, durchziehen Familien, Gruppen, Arbeitsprozesse, Freizeitaktivitäten – einfach alles. In bemerkenswert vielen sozialen Räumen schaffen sich die Menschen Hierarchien, gründen Vereine, Parteien, Firmen und füllen sie mit dem notwendigen formalen Prozeduren. Wer hat was zu sagen? Wer macht was? Wer ist zuständig? Die Zuweisung von Kompetenz oder zu erfüllenden Aufgaben folgt demokratischer Entscheidung oder einfach den gegebenen Hierarchien. Rollen- und Erwartungshaltungen unterscheiden sich je nach Alter, Kulturkreis, Geschlecht und anderen Merkmalen, die durch die sozialen Verhältnisse zu relevanten Kriterien bei der Verteilung von Macht, Ressourcen und zu leistenden Arbeiten werden.
Reichen internalisierte Rollenmuster und Hierarchien nicht aus, um Privilegien bzw. Arbeitsverteilung zu steuern, kommt es zur Entscheidungsfindung – von klaren Befehlen Einzelner über Andere bis zu formalisierten Abstimmungen oder Wahlen. Letzteres gilt es „demokratisch“, es ist geradezu systembildend für diese Form gesellschaftlicher Organisierung. Aber das schafft keine Gleichberechtigung. Ganz im Gegenteil: Wer in der Gesellschaft über Privilegien verfügt oder den höheren sozialen Status besitzt, hat auch in Abstimmungen und Wahlen bessere Chancen – und kann dann die ohne schon vorhandenen Vorteile durch die zusätzliche formale Macht erweitern. Zudem verändert die Aussicht auf eine finale Abstimmung oder Wahl das Verhalten im Streitfalle. Das Verschweigen von Schwächen der eigenen Person oder des eigenen Vorschlags macht Sinn, das einseitige Herausstreichen der Stärken ebenso. Dazu würde die Überbetonung der Schwächen eines Gegenvorschlags oder -kandidaten passen. Abstimmungen und Wahlen führen zu Konkurrenzsituationen. Das Nebeneinander von Unterschiedlichkeiten, im günstigen Fall die Kooperation zwischen Verschiedenen weicht dem Kampf um Hegemonie. Verschiedene Ideen, wie innerhalb des demokratischen Systems des Abstimmens und Wählens Verbesserungen möglich sind, wirken nur begrenzt oder werfen neue Probleme auf.
  • Basisdemokratie: Statt der Wahl von Repräsentant*innen sollen hier alle Fragen per Basisabstimmung (direkt oder indirekt im Rätesystem mit imperativen Mandat) geklärt werden. Die informellen Unterschiede werden dadurch gar nicht berührt. Sie wirken sich sowohl in den Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Basisversammlungen aus (Rhetorik, Taktiken, Seilschaften) als auch darin, wie Menschen außerhalb der gemeinsamen Strukturen agieren können. Wer über ausreichend Kontakte, Geld, Geräte, Erfahrung usw. verfügt, kann in der Versammlung gelassener agieren als eine Person, die die Rückendeckung der Gruppe braucht, um überhaupt eine Idee verwirklichen zu können.
  • Konsensdemokratie: Der Theorie nach sollen hier Privilegien aufgehoben werden, weil alle Personen über ein Vetorecht verfügen und somit als Einzelperson erhebliche Wirkung entfalten können. Allerdings sieht das in der Praxis meist deutlich anders aus. Zum einen entsteht oft erheblicher mentaler Druck, wenn tatsächlich eine Einzelperson ihr Veto einlegt. Sie riskiert viel, bis zum Ende des Mitmachens in der jeweiligen Gruppe. Die Ausstiegs“kosten“ sind aber nicht für alle gleich.
    Zum zweiten gibt es auch bei Konsensverfahren versteckte Manipulationsmöglichkeiten. Das unterschiedliche Wissen, basierend auf den unbearbeiteten informellen Hierarchien, führt dazu, dass diese nicht von allen gleichermaßen angewendet oder überhaupt erkannt werden können. Zentrale Steuerungsmittel sind die in Abhandlungen über Schwärme oft gut beschriebenen Aktionen einiger Einzelner, die die Gruppe scheinbar zusammenhanglos, oft aber sehr gut abgesprochen in gewünschte Richtungen lenken.

Völlig ungeklärt bleibt meist die bei Abstimmungen und Wahlen eigentlich sehr zentrale Frage, wer überhaupt dazugehört – also abstimm- oder gar vetoberechtigt ist. Die Grenzziehung zwischen Innen und Außen, welche konstituierend für die Bildung jedes Abstimmungskollektiv und damit für alle Formen der Demokratie ist, stellt den größten Blindfleck der Demokratie dar. Sie teilt die Welt in Nationen, die Gesellschaft in Vereine, Familien, Parteien und viele andere formale Strukturen – und nichts und niemensch scheint das zu stören. Es wirkt wie ein Naturgesetz, dabei ist es bei näherem Hinsehen völlig willkürlich. Warum bilden Menschen aus Konstanz mit anderen aus Flensburg ein Wahlkollektiv namens BRD, während sie mit ihren Nachbar*innen aus Kreuzlingen nie gemeinsam abstimmen? Warum stimmen Vereine oder WGs über Sachen ab, die auch andere betreffen – aber regelmäßig gar nicht alle aus dem Verein?

Losen statt Abstimmen/Wählen überall
Die benannten und viele weitere Probleme verringern sich oder verschwinden, wenn gelost statt abgestimmt bzw. gewählt wird. Denn kein Privileg, keine formale oder informale Macht hat Einfluss auf das Losglück (solange Manipulation ausgeschlossen ist). Die Diskussion im Ringen um (verschiedene) Lösungen muss nicht taktisch geführt werden. Das Zugeben eigener argumentativer Lücken oder konzeptioneller Schwächen verringert die Chancen nicht, erhöht aber die Chance gemeinsamen Nachdenkens und Verbesserns des Vorschlags. Das Losen erfolgt schließlich nur, wenn am Ende verschiedene Vorschläge übrig bleiben und es entweder nicht möglich oder nicht gewollt ist, sie einfach neben- bis miteinander zu verwirklichen. Insofern besteht ein Interesse aller, die einzelnen Vorschläge zunächst zu verbessern, denn für das Lösen erhöht das nicht die Chance des „Siegs“ – aber für alle ist es besser, wenn das Losglück am Ende zwischen optimierten Varianten entscheidet.
Schon die Art der Diskussion wird also deutlich beeinflusst, weil es nicht mehr um Propaganda, Diskreditierung oder Abstimmungstaktiken geht. Ebenso ist die Lage nach der Entscheidung per Los entkrampft, denn niemensch ist „Schuld“ an der Entscheidung.

Beispiele:
  • Eine Aktion bzw. ein Projekt soll durchgeführt werden. Es sind verschiedene Aufgaben zu verteilen. Die Runde bietet die Möglichkeit, dass sich Menschen ihre Tätigkeit frei wählen können. Hier könnten sich Dominanzen auswirken, wenn z.B. eine andere Person ihre Lieblingstätigkeit nicht nennt, weil eine sozial höherstehende Person diese übernehmen will. Helfen kann geheimes Wählen: Alle geben einen Zettel ab, was sie gerne übernehmen wollen – vielleicht auch eine Rangfolge: Das am liebsten, das am zweitliebsten … Wo es Überschneidungen gibt, wird dann gelost. Das würde auch die Rollenmuster aufheben, die sonst oft auftreten, wenn sich Menschen das wünschen, auf was sie sozialisiert sind, was von ihnen erwartet wird oder was sie schon häufig gemacht haben.
  • Menschen teilen sich einen Schlafraum. Es gelingt keine Einigung, wer welches Bett erhält. Am besten: Sofort losen! Das spart Zeit, es gibt keine Ränkespiele und keine Schuldigen am Ergebnis.
  • Reales Beispiel: Für den Direct-Action-Kalender 2018 wurden in der Redaktionsgruppe zwei Titelbilder entworfen. Die Gruppe war nicht in der Lage, sich zu einigen. Schnell erfolgte die Einigung, im Falle einer Nichteinigung zu losen. Daraufhin wurden zunächst in gegenseitiger Anregung beide Entwürfe verbessert. Als dann immer noch keine Einigung erzielt werden konnte, entschied das Los.
  • In der Wohngemeinschaft, Familie, auf dem Camp, bei … sind verschiedene Versorgungsarbeiten zu leisten. Die Gruppe einigt sich von Beginn auf das Losverfahren bei den Tätigkeiten, die sonst oft nach Rollenmustern, vor allem entlang der Geschlechter, vergeben werden. Klo putzen, Abwaschen, Containern oder Einkaufen – das Los verteilt.

In Einzelfällen kann es dazu kommen, dass Ämter und Funktionen für eine gewisse Zeit vergeben werden müssen, z.B. die Vorstandsposten in einem Träger-/Förderverein, die Person mit Kontakt zu Polizei oder Presse usw. Auch hier schützt das Losverfahren vor dem Rückfall in Rollenmuster. Da niemensch weiß, wer welche Funktion übernimmt, haben alle ein Interesse, die zu vergebenden Rollen nicht so zu gestalten, dass es zu starken Benachteiligungen der Ausgelosten oder der nicht Ausgelosten kommt. Daher sollten Vereinbarungen über die Art der Ausführung des Amtes vor dem Losen getroffen werden. In der Regel wird das zu Begrenzungen der Machtfülle, zu Einschränkungen der Vertretungsbefugnisse und zu starker Transparenz führen. Weiter verstärkt werden diese Effekte bei Wahlen, wenn die Amtszeit der Ausgelosten zeitlich begrenzt wird. Das verhindert
Ein weiterer Effekt des Losens ist, dass es das Scheitern eines Einigungsprozesses sehr deutlich sichtbar macht. Das kann dazu führen, dass Kommunikation und Kooperation gestärkt werden – um das Losen zu verhindern. Es wirkt als „Niederlage“ der Arbeitsfähigkeit einer Gruppe, wenn das Los entscheiden muss – ohne dass dieses allerdings irgendwelche „Schäden“ wie Schuldgefühle oder Vorwürfe nach sich zieht. Denn es ist ja niemensch da, der das Ergebnis des Losentscheids beeinflusst haben kann.

Eine spannende Verknüpfung: Losen und John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit
Ein zentraler Baustein von John Rawls Vorschlägen war sein Gedankenexperiment einem fiktiven Urzustand („original position“). Danach würde das Höchstmaß an Gerechtigkeit erreicht, wenn sich die Beteiligten frei von Privilegien und ohne Wissen, welche formalen, sozialen oder ideellen Positionen sie später einnehmen werden, auf eine Ordnung des Zusammenlebens einigen. Rawls glaubte, dass sie dann den persönlichen und politischen Grundfreiheiten hohes Gewicht einräumen würden. Denn schließlich wüssten sie nicht, wo sie später landen. Starke Ungerechtigkeiten zu vereinbaren, wäre gefährlich, wenn mensch nicht steuern kann, dann später „unten“ zu stehen. In Hierarchien (einschließlich der – ja auch hierarchischen – Demokratien ist das hingegen kalkulierbar, auch wenn es zu Irrtümern und einzelnen Abweichungen kommt). Auch wirtschaftliche Ungleichheiten würden nur insoweit zulassen, als sie auch für die am schlechtesten Gestellten noch erträglich sind, denn schließlich kann es eine*n schnell auch selbst treffen.

Aus John Rawls (1971): Eine Theorie der Gerechtigkeit (zitiert nach Ladewig, Bernd/Pongrac, Timo (Hrsg., 2013): Moderne politische Theorie – Materialband)
… In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturstand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefaßt, die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt.' Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, daß dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Obereinkunft oder Verhandlung. …
Zunächst ist festzustellen, daß das Unterschiedsprinzip den Gesichtspunkten des Ausgleichsprinzips einiges Gewicht gibt, des Prinzips nämlich, daß unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten. Da nun Ungleichheiten der Geburt und der natürlichen Gaben unverdient sind, müssen sie irgendwie ausgeglichen werden6. Das Prinzip besagt aiso, wenn alle Menschen gleich behandelt werden sollen, wenn wirkliche Chancengleichheit herrschen soll, dann müsse die Gesellschaft sich mehr um diejenigen kümmern, die mit weniger natürlichen Gaben oder in weniger günstige gesellschaftliche Positionen geboren werden. Der Gedanke ist der, die zufälligen Unterschiede möglichst auszugleichen. Nach diesem Prinzip würde man vielleicht mehr für die Bildung der weniger Begabtenaufwenden, jedenfalls in einem bestimmten Lebensabschnitt, etwa den ersten Schuljahren.
Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebensowenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft. Ob man den überlegenen Charakter, der die Initiative zur Ausbildung der Fähigkeiten mit sich bringt, als Verdienst betrachten kann, ist ebenfalls fraglich; denn ein solcher Charakter hängt in erheblichem Maße von glücklichen familiären und gesellschaftlichen Bedingungen in der Kindheit ab, die man sich nicht als Verdienst anrechnen kann.
Keiner kennt seine Stellung in der Gesellschaft und seine natürlichen Gaben, daher kann niemand Grundsätze auf seinen Vorteil zuschneiden. Man könnte sich vielleicht vorstellen, daß einer der Vertragspartner droht, sich querzulegen, wenn die anderen nicht Grundsätzen zustimmen, die für ihn günstig sind. Doch wie kann er wissen, was für Grundsätze in seinem besonderen Interesse lägen? Gleiches gilt für die Bildung von Koalitionen: Wollte eine Gruppe zum Nachteil der anderen zusammenhalten, so wüßten ihre Mitglieder nicht, mit welchen Grundsätzen sie sich Vorteile verschaffen könnten. Selbst wenn sie alle anderen zur Annahme ihres Vorschlags bewegen kannten, so könnten sie nicht sicher sein, daß er ihrem Vorteil dient, denn sie können sich ja weder durch Namen noch durch Beschreibungen identifizieren. Das gilt nur in einem Falle nicht, dem des Sparens. Da die Menschen im Urzustand wissen, daß sie Zeitgenossen sind (wenn man die Gegenwart als Eintrittszeit nimmt), können sie ihre Generation bevorzugen, indem sie sich weigern, irgend etwas für ihre Nachfahren aufzusparen; sie stellen einfach zusammen den Grundsatz auf, daß niemand die Pflicht hat, für die Nachwelt etwas zu tun.

Diese Überlegungen zum Entstehen von Gerechtigkeit nun machen das Losen interessant. Zwar entsteht dadurch nicht insgesamt der „Urzustand“, den sich Rawls wünschte. Schließlich würden gesellschaftliche Rahmenbedingungen nicht aufgehoben, wenn mensch sich einigt, bei einer anstehenden Entscheidung zu losen statt abzustimmen bzw. zu wählen. Aber kein*e Beteiligte*r kann sich sicher sein, in den – weiter bestehenden – sozialen und formalen Systemen oben zu stehen. Das könnte zu einer starken Neigung führen, ausgewogene Verhältnisse zwischen den Beteiligten an einem Projekt, Verein, Wohngemeinschaft, Staat … zu schaffen. Verstärkt würde dieser Effekt, wenn beim Auswählen von Funktionsträger*innen per Los deren Amtszeit stark begrenzt wird. Dann würden die ausgelosten Personen nämlich auch während ihrer Amtsausübung berücksichtigen, dass sie in der nächsten Periode „unten“ stehen könnten. Egoistische Bereicherung oder Ermächtigung würde so erstens zeitlich beschränkt und zweitens verringert, da offensichtliche Ungerechtigkeiten in der Folgeperiode geahndet werden könnten.
Der vollständigen Theorie von Rawls könnten sich alle gesellschaftlichen Subräume annähern, die gerade neu geschaffen werden, also z.B. neu gestartete Projekte oder zeitlich begrenzte Zusammenkünfte (experimentelle Versuche, wenn auch mit anderen Methoden, gab es z.B. früher auf den Jugendumweltkongressen).


Losen statt Wählen im Staat
Aus herrschaftskritischer Sicht sind Staaten insgesamt keine sinnvolle Einrichtung. Ihre territoriale Abgrenzung ist nur von oben und willkürlich möglich, die Integration der dort lebenden Bevölkerung als "Volk" in den Staat erfolgt ohne Zustimmung und damit ohne Legitimatiion außer der Waffengewalt des norm- und grenzensetzenden Apparates. Das Losen beim Besetzen von Funktionen und Ämtern plus zeitlicher Begrenzung kann aber die Willkürlichkeit der Ausübung von Herrschaft deutlich mildern. Viele heutige Übergriffe und Unterdrückungsformen resultieren aus der Annahme der Herrschenden und Privilegierten, ihre erhobene Position auch weiterhin halten zu können - was unter den heutigen Herrschaftsverhältnissen auch stimmt. Losen und Amtszeitbegrenzung würden das aufheben.

Aus "Wahlen sind nicht demokratisch" (Interview mit David Van Reybrouck, in: Spiegel 31/2016, S. 116ff)
Das Losverfahren hat eine lange Geschichte, die im antiken Griechenland beginnt. Die Republik Florenz hat über Jahrhunderte ihre politischen Entscheidungen mit einem komplizierten Losverfahren getroffen. In unserem politischen System gibt es das Losverfahren auch immer noch: bei Geschworenengerichten - die gut funktionieren und verantwortungsvoll schwierige Urteile fällen. Im Grunde heißt Losverfahren nichts weiter, als dass per Los eine repräsentative Gruppe ausgewählt wird, um Entscheidungen zu treffen oder Ratschläge zu geben.
SPIEGEL: Warum ist das besser als Wahlen?
Van Reybrouck: So lassen sich Entscheidungen herbeiführen, die das langfristige Gemeinwohl betreffen. Die Wahldemokratie kann das ganz offensichtlich nicht. Es gibt einen belgischen Minister, der sagte, er wisse genau, was für das Klima gut wäre, wenn er das mache, werde er nie wieder gewählt. Das ist zynisch, aber so ist es. Der Kern des Losverfahrens ist: Die Bevölkerung soll mitreden. Dafür benutzt unsere Demokratie im Augenblick die falschen Werkzeuge. Wahlen und Volksabstimmungen sind primitiv und alt. Sie sind dem Leben im 21. Jahrhundert nicht angemessen. ... (S. 117)
Das interessanteste Beispiel dürfte lrland sein. Dort wurde 2013 eine Versammlung einberufen, um Änderungen der Verfassung zu beraten. Sie bestand aus 100 Mitgliedern, darunter 66 irische Bürger, die durch das Losverfahren bestimmt wurden. Diese Leute sollten über acht Artikel der irischen Verfassung diskutieren. Am komplizierten der über die Ehe, die gleichgeschlechtliche Ehe sollte eingeführt werden. Alle, die nicht ausgelost worden waren, konnten über das Internet nehmen, sagen, was sie denken. Es war eine lange Debatte. Am Ende sprachen sich 80 Prozent der Versammlungsteilnehmer dafür aus, den Verfassungsartikel über die Ehe zu öffnen. Dann gab es ein Referendum. Bei dem es beinahe eine Zweidrittelmehrheit für die gleichgeschlechtliche Ehe gab.
Spiegel: Im katholischen Irland.
Van Reybrouck: Ohne dieses Verfahren wäre es nicht dazu gekommen. Es hat der Entscheidung ihre Legitimität verliehen. ... (S. 118)
Meine Erfahrung ist die, dass normale Bürger, die sich sonst bei Facebook beschimpft hätten, nicht nur miteinander reden wie zivilisierte Menschen, sondern darüber hinaus die Komplexität politischer Probleme akzeptieren. Menschen, die wie Stimmvieh behandelt werden, verhalten sich wie Vieh. Wer sich ernst genommen fühlt, verhält sich dementsprechend. (S. 119)


Funktions- und Deutungseliten gegen egalitäre Losverfahren statt Wahlen
Aus: David Van Reybrouck (2016), "Gegen Wahlen", Wallstein Verlag in Göttingen (S. 129)
Als heftigste Gegner erweisen sich immer wieder politische Parteien und kommerzielle Medien. ... Kommt das, weil Presse und Politik es gewohnt sind, als Türhüter der öffentlichen Meinung zu dienen, und dieses Vorrecht nicht gern aus der Hand geben? Das ist sicher ein Punkt. Weil Presse und Politik zum alten elektoral-repräsentativen System gehören und daher auf neuere Formen der Demokratie nur schwer Einfluss nehmen können? Möglich. Weil jemand, der top-down arbeitet, vielleicht am ehesten Probleme bekommt durch das, was bottom-up entsteht? Nicht ausgeschlossen.

Plädoyer für Losverfahren bei Ämtern - als Übergang für eine von zwei Parlamentskammern
Aus: David Van Reybrouck (2016), "Gegen Wahlen", Wallstein Verlag in Göttingen (S. 158ff)
Die Panik, die die Idee des Losverfahrens bei vielen auslöst, zeigt, wie sehr sich durch zwei Jahrhunderte elektoral-repräsentatives System ein hierarchisches Denken in den Köpfen festgesetzt hat, der Glaube, dass Staatsangelegenheiten nur durch außergewöhnliche Individuen wahrgenommen werden können. Hier einige Gegenargumente:

  • Es ist wichtig, sich bewusstzumachen, dass die Gründe, die man heute gegen ausgeloste Bürger anführt, häufig mit den Gründen identisch sind, die man seinerzeit gegen die Verleihung des Wahlrechts an Bauern, Arbeiter oder Frauen anführte. Auch damals wandten Gegner ein, dass dies wohl das Ende der Demokratie sein würde.
  • Eine gewählte Volksvertretung verfügt zweifellos über mehr technische Kompetenzen als eine ausgeloste. Andererseits ist jeder der Experte seines eigenen Lebens. Was hat man von einem Parlament voller hochausgebildeter Juristen, wenn nur noch wenige von ihnen den Brotpreis kennen? Durch das Losverfahren erhält man in der Legislative einen besseren Querschnitt durch die Gesellschaft.
  • Auch Gewählte sind nicht immer gleichermaßen kompetent. Warum haben sie sonst Mitarbeiter, Berater und wissenschaftliche Dienste zu ihrer Verfügung? Warum können Minister manchmal von einem Tag auf den anderen das Ressort wechseln? Doch nur, weil sie von einem professionellen Stab umgeben sind, der technische Expertise liefert?
  • Eine ausgeloste Volksvertretung würde nicht allein dastehen: Sie kann Experten einladen, auf Gesprächsleiter zählen und Bürger befragen. Außerdem bekommt sie Zeit, um sich einzuarbeiten, und eine Verwaltung, um die Dokumentation vorzubereiten.
  • Da ausgeloste Bürger sich nicht mit Parteibetrieb, Kampagnenführung und Medienauftritten beschäftigen müssen, verfügen sie über mehr Zeit als ihre gewählten Kollegen in der anderen gesetzgebenden Kammer. Sie können sich fulltime der legislativen Arbeit widmen: Sachkenntnis erwerben, Experten hören, untereinander beratschlagen.
  • Jeder bringt sich nach seinen Fähigkeiten und Ambitionen ein. Wer sich zu harter Regierungsarbeit imstande fühlt, kann sich für die Auslosung beim Agenda Council, den Review Panels, dem Rules Council oder dem Oversight Council bewerben. Wer konkrete Ideen für bestimmte Gesetze hat, ist bei einem Interest Panel willkommen. Wer es lieber ruhig angehen lässt, wird sehen, ob er einmal für einen oder mehrere Tage in die Policy Jury berufen wird. Das ist wie wählen gehen, auch wenn man die Politik nicht täglich verfolgt.
  • Ausgeloste Laienjurys in der Rechtsprechung beweisen, dass Menschen ihre Aufgabe für gewöhnlich sehr ernst nehmen. Die Furcht vor einem Parlament, das sich leichtsinnig und unverantwortlich verhält, ist unbegründet. Wenn wir uns darüber einig sind, dass zwölf Menschen nach bestem Wissen und Gewissen über Freiheit oder Unfreiheit eines Mitbürgers entscheiden können, dann dürfen wir darauf vertrauen, dass ein Vielfaches von ihnen dem Interesse der Gemeinschaft auf verantwortungsvolle Weise dienen will und kann.
  • Alle Experimente mit Bürgerforen zeigen, wie engagiert und konstruktiv ausgeloste Teilnehmer sich verhalten und wie ausgefeilt ihre Empfehlungen häufig sind. Bedeutet das, dass keine Schwächen möglich sind? Natürlich nicht, aber Schwächen gibt es auch bei gewählten Volksvertretern. Auch deren Gesetze weisen mitunter Mängel auf.
  • Warum akzeptieren wir, dass Lobbys, Thinktanks und alle möglichen Interessengruppen Einfluss auf die Politik ausüben dürfen, und zögern, normalen Bürgern, um die es doch geht, selbst auch ein Mitspracherecht zu verleihen?
  • Eine Kammer mit ausgelosten Bürgern wäre überdies nicht die einzige. In dieser Phase der Demokratie würde Gesetzgebung gerade durch das Zusammenspiel zwischen der gewählten und der ausgelosten Volksvertretung zustande kommen. Idioten an die Macht? Wenn i man so will, aber nicht als Alleinherrscher.


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