Wahlquark

WIDERSTAND ALS UTOPISCHES FELD

Emanzipatorische Organisierung und Strategie


1. Einleitung
2. Emanzipatorische Organisierung und Strategie
3. Widerstand ... ohne sich an Machtkämpfen zu beteiligen
4. Und was heißt das praktisch?
5. Wer schafft den Wandel?
6. Links

Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse bestehen in unterschiedlichen Formen. Politische Bewegung entsteht aus Protest gegen diese oder meist gegen ihre konkreten Erscheinungsformen und Folgen - seien es Nazis, Castortransporte oder der Entzug von Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Etwas zu kritisieren, führt aber nicht dazu, selbst andere Erscheinungsformen zu wählen, also in innerer Organisierung und Aktionsmethoden selbst auch den geforderten und nötigen Wandel zu vollziehen. Das wäre auch eine große Aufgabe, denn jede politische Bewegung ist selbst von herrschaftsförmigen Mustern durchzogen. Ein emanzipatorischer Wandel der Binnenverhältnisse bedeutet mindestens den Abbau der Hierarchien, den gleichen Zugang zu allen Ressourcen und den Verzicht auf Stellvertretung, Vereinnahmung und Bildung kollektiver Identitäten. Positiv ausgedrückt heißt das die Schaffung einer Bewegungswelt, in der viele Welten Platz haben, die aktive Vermittlung von Handlungsfähigkeit der Einzelnen und ihrer Zusammenschlüsse, die Öffnung aller Ressourcen für alle und vieles mehr. Es werden Fragen zu stellen sein, die bislang in politischer Bewegung sehr fremd sind, obwohl sie angesichts der Forderungen nahe liegen würden: Wie ist es mit Zeit- und Reichtumsunterschieden zwischen den Beteiligten? Wie wirken gesellschaftliche Diskurse auch im Inneren? Wo verfügen Apparate und FunktionärInnen über Privilegien und privilegierten Zugang zu den Ressourcen der Organisation? Wo herrschen gar formale Hierarchien?

Emanzipatorsche Bewegungen und Projekte

Der folgende Text basiert auf "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" (1. Auflage, S. 51 ff).

Es gab und gibt Menschen, die sich organisieren, um gemeinsam weitreichende emanzipatorische Ziele umzusetzen, ohne darauf zu warten, dass alle mitmachen oder die Revolution (scheinbar) der Utopie zum Durchbruch verhilft. Solche Gruppen teilen viele Ziele wie den Abbau von Herrschaft und Verwertungszwang. Sie wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen wirklich konkret, ohne durch persönliche oder sachliche Herrschaft eingeschränkt, selbstbestimmt handeln können. Dieser Anspruch besteht in der Regel auch für die Binnenverhältnisse in den Gruppen und Vernetzungen. Paslak (1990) hat sich die Dynamik selbstorganisierter Bewegungen angesehen und für positive Fälle folgende typische Entwicklungen beschrieben:
  • Die Kraft informeller bzw. selbstorganisierter Prozesse geht über die Dynamik einzelner Gruppen hinaus und führt zum Aufbau eines komplexen Netzwerkes von Initiativgruppen;
  • Die selbstorganisierten Strukturen werden nicht von “objektiven” Außeneinwirkungen geformt, sondern entstehen aus jeweils inneren eigenen Entscheidungen über die Bewertung von Situationen und Problemen;
  • Die interne Handlungskoordination ist stets labil und flexibel änderbar. Die Fortsetzung der Struktur ist an die gemeinsame Bindung und Weiterentwicklung gemeinsamer Vorstellungen und Ziele gebunden.

Löst sich die Aktivität der “Gruppe” von diesen Zielen, wird sie zum Selbstzweck, und dies ist die akuteste und häufigste Gefahr, der Gruppen und Bewegungen unterliegen. Das kommt leider - aber auch nachvollziehbarerweise - bei vielen Projekten vor, sobald sie sich “etabliert” und “etwas zu verlieren” haben. Auch die “sozialen Erfindungen” können sich mit einer “Spielwiese” innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen zufriedengeben - Zukunftswerkstätten verloren z.B. den politisch-alternativen Anspruch ihres “Erfinders”, Robert Jungk, weitestgehend.
Kippt die innere Dynamik in Richtung auf den bloßen Selbsterhalt als Selbstzweck um, dann ist die Integration in die herrschende Verwertungs- und Geldmaschinerie nur noch ein kleiner Schritt. Schnell gewinnt die Notwendigkeit, den kapitalistischen Geldzyklen einige Tropfen für den Selbsterhalt abzuringen, die Oberhand. Sobald einige Einzelne oder Teile der Bewegung sich so wichtig finden, dass sie vor allem um ihre eigene Existenz kämpfen, entwickeln sich auch untereinander neue Verhältnisse. Es geht dann nicht mehr darum, die anderen Beteiligten als autonome Subjekte zu betrachten, sondern sie werden instrumentalisiert, um nur noch dem vorgeblich “Ganzen” zu dienen. Die Verfolgung individueller Interessen, die einst Motor der Bewegung waren, wird für den Gelderwerb und Machterhalt anderer eingespannt - die Bewegung wird zersetzt, integriert, bürokratisiert.

Dem Umkippen der Dynamik kann mit klarem Kopf und Bewußtsein der Gefahr begegnet werden. Es gibt niemals unhintergehbare Notwendigkeiten, auch Gruppen unterliegen nicht der Determination durch die Bedingungen: Es handelt sich immer um Entscheidungen. Und Entscheidungen lassen sich so oder anders fällen. Im Ernstfall muss ggf. sogar die Existenz der Gruppe oder z.B. ihr wirtschaftlicher Erfolg in Frage gestellt und aufgegeben werden, wenn die Weiterexistenz den realen Interessen der Beteiligten zuwiderläuft. Ein Beispiel: In der “Sozialistischen Selbsthilfe Mühlheim” (SSM) entwickelte sich aus der Jugendarbeit ein recht erfolgreicher “alternativer Betrieb”, der Entrümpelungen usw. durchführte. “Arbeit” wurde definiert als “alle Tätigkeiten, deren Ausführung die Gemeinschaft für wichtig hält” (Baumaßnahme am eigenen Haus, Abfassen eines Briefes, Flugblattes, eine politische Aktion, Essen kochen für die Gemeinschaft usw.). Dann entstand ein “richtiger” Baubetrieb - mit Anforderung an “möglichst hohe Leistung in möglichst kurzer Zeit ausgedrückt durch möglichst viel Geld”. Es zeigte sich, dass das nur funktioniert, wenn die eigentlichen Ziele, nämlich die realen Bedürfnisse der Menschen (z.B. nach streßfreier Arbeit!) aufgegeben werden und der Betrieb normal-kapitalistisch durchgezogen wird. Die SSM verzichtete auf den möglichen wirtschaftlichen “Erfolg” und ließ lieber ein “Scheitern” dieser Möglichkeit zu, als den Interessen der Menschen zuwider zu handeln (Kippe 1998, 9f).
Wichtige Kriterien für das Binnenverhältnis emanzipatorischer Bewegungen sind also:
  • Bindung an individuell vertretene Ziele, keine Verselbständigung von sich institutionalisierenden Teilen der Bewegung als Selbstzweck,
  • Verhinderung der Instrumentalisierung von Menschen für Zwecke anderer, Schaffung von Strukturen für die Schaffung und Aufrechterhaltung intersubjektiver Beziehungen.

Dazu gehört aber auch der offene Umgang mit Dissens. Das Streben nach Konsens und Harmonie kann dazu führen, dass inhaltliche Positionen unterdrückt werden, die sich diesen “Bauchgefühlen” nicht unterordnen. So entstand auf den Jugend-Umwelt-Kongressen (Jukß) bis zum Jahreswechsel 1999/2000 eine Situation, in der die geforderte Unterwerfung unter “Konsens & Harmonie” zu einer Entpolitisierung führte. Die Position “Kein Streit, wir lieben uns doch alle...” führte zur “Machtergreifung von Kreisen, die politisch nichts oder wenig wollen, die aber Umweltbewegung als Familienersatz und Nestwärme wollen” (Bergstedt, 2000b). Demgegenüber fordert Bergstedt: “Mein Ziel ist, Verhältnisse zu schaffen, die Gleichberechtigung schaffen, bei denen die Menschen aber auch authentisch sein können und nicht in dieser beklemmenden Atmosphäre des ‘Ich darf niemandem zu nahe treten’ agieren. Das ist zu erreichen u.a. durch:
  • Dezentralisierung weg vom Plenum
  • offene, sich ständig verändernde Strukturen
  • Platz für Streit und kreative Prozesse
  • Autonomie für Menschen und Gruppen
  • Klärung in den Diskussionsrunden, auf was ALLE achten (nicht die Verantwortung einer Moderation abschieben) - somit Einleitung eines Lernprozesses aller” (Bergstedt 2000c)

Spehr (1999) kennzeichnet die gegen die Herrschaft kämpfenden und sich deren Handlungslogik entziehenden Gruppen als “Maquis”. [In der französischen Résistance bezeichnete der Maquis (der “Busch”) jene Gegend, die nicht von Nazis oder Kollaborateuren beherrscht wurde. Auch in der StarTrek-Serie “Voyager” gibt es mit dem Maquis eine Zone des Widerstands.] Mit ihren oben genannten Eigenschaften, dem Verwerfen von Führung und Avantgardeanspruch und dem Durchsetzen von Emanzipation und freier Kooperation auch in den eigenen Reihen, stellen sie eine völlig neue Qualität dar, was den Beteiligten oft gar nicht so deutlich bewußt ist.
Praktisch ergeben sich aus den Erfahrungen bisheriger alternativer Bewegungen weitergehende Aufgaben (Bergstedt, Hartje, Schmidt 1999):
  • Schaffung unabhängiger Strukturen (neue Aktionsstrukturen - politische Gegenstrukturen aufbauen),
  • Aufrechterhaltung der selbstbestimmten Aktionsfähigkeit (Flexibilität, Effizienz, Vernetzung, Kooperation),
  • klare Ziele innerhalb umfassender Konzepte,
  • Schaffen von Kristallisationspunkten.

Da die Menschen und die in Bewegungen Aktiven so unterschiedlich sind wie Menschen überall anders auch, haben sie auch unterschiedliche Fähigkeiten, und auch das Maß des Engagements wird verschieden groß sein. Es ist oft so, dass einige Menschen eine Art “Kraftfeld” um sich herum entwickeln. Sie rücken aufgrund ihres Wissens, ihrer Organisationsfähigkeit, ihres menschlichen Verhaltens ins Zentrum des Geschehens, auch wenn sie dies vielleicht vermeiden wollen. Manchmal ist es jedoch für die anderen einfach bequemer, die “ExpertInnen” machen zu lassen. Eine “informelle Elite” entsteht.
Eliten “an sich” stellen kein Problem dar. Es ist ja gerade das Ziel der neuen Gesellschaft, dass sich jeder Einzelne maximal entfaltet, dass - wenn man so will - alle an irgendeiner Stelle zur Elite gehören. Doch wenn alle dazu gehören, ist die “Elite” im bürgerlichen Sinne schon keine mehr. “Eliten” kommen aus den Gesellschaften, in denen die Entfaltungsmöglichkeiten nur für wenige und nur auf Kosten anderer vorhanden sind. Das ist auch das größte Problem für emanzipatorische Bewegungen. Sobald Einzelne ihren Wissensvorsprung und die entwickelten Fähigkeiten dazu verwenden, eigene partielle Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, kippt die individuelle Genialität in Elitarismus um. “Informelle Eliten” bilden sich leicht in Gruppen heraus, in denen der Selbsterhalt der Gruppe zum Selbstzweck geworden ist. Beide Aspekte bedingen einander, denn sie sind Resultat der schrittweisen Integration der Gruppe in die subjektlosen Selbsterhaltungsstrukturen der Wertmaschine. Auch das ist wiederum kein “persönlicher Mangel” der Aktiven, sondern nachvollziehbares Resultat der Tatsache, das die Menschen - auch die Aktiven in Bewegungen - zuerst ihre individuelle Reproduktion absichern müssen. Verschränken sich individuelle Reproduktion und Selbsterhalt der Gruppe, so etwa bei “bezahlten Angestellten” der Bewegung von Projekten, dann liegen die Interessenkonflikte schnell nahe.


Emanzipatorische Bewegungen und Projekte in einer “zivilen” Gesellschaft
Herrschaft ist heutzutage nicht mehr offensichtlich, sondern versteckt sich in den scheinbar normalen und natürlichen alltäglichen Lebenszwängen. Diese Wirkungsweise führt dazu, dass es in den kapitalistischen Kernländern auch in Krisensituationen, bei ansteigender Erwerbslosigkeit und sogar Verelendung selten zu spontanen Aktionen oder Befreiungsschlägen kommt. Spehr kennzeichnet die Mehrheit der “normalen Leute” als “Zivilisten”, die “...einfach vor sich hin (machen), ohne zu überblicken, was vor sich geht” (Spehr 1999, 167).
Sie haben auch “kein Problem damit, dass die Entscheidung von anderen getroffen werden” (ebd., 168). Wer kennt diese Leute nicht und hat sich nicht schon oft über sie geärgert. Das Problem für emanzipatorische Bewegungen sind neben den Machtzentren jene, die diese Macht nicht hinterfragen, sondern akzeptieren, keine Fragen stellen und die herrschenden Verhältnisse rechtfertigen: “Sie tun einem gar nicht so viel; sie lassen einen nur an der Welt und ihrer Zukunft zweifeln” (Spehr 1999, 171).
Politische Bewegungen werden deshalb leicht “überheblich” und meinen, “für die anderen” denken und entscheiden zu können. Dann werden sie auch schnell zu Stellvertretern, die nach Gutdünken ihre eigenen partialen Interessen im vorgeblichen “Interesse der Mehrheit” durchsetzen. Aber “... es gehört zu den Grausamkeiten im Maquis, dass sein Fortschritt sich daran festmacht, ob er in der Lage ist, Zivilisten abzuwerben” (Spehr 1999, 265).
Doch was heißt “abwerben”? Es gibt keinen anderen Grund sich “abwerben” zu lassen, als die individuelle Vorstellung von einem besseren Leben. Warum sonst sollte sonst jemand in den Maquis, den “Busch”, gehen, als aufgrund der Vorstellung, dass dort bessere Möglichkeiten der eigenen Entfaltung warten und die Risiken nicht so groß sind wie das Elend des kümmerlichen Lebens in der “zivilen” Gesellschaft. Keiner will missioniert werden, es gibt keine objektive Richtigkeit irgendeiner Vision, es gibt keine Garantie, sondern nur die Möglichkeit eines besseren Lebens im “Maquis”. Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, massenhaft Leute in den “Maquis” abzuwerben und der realen geringen Ausstrahlung des “Maquis” besteht (noch). Das müssen wir aushalten, es gibt dennoch keine Berechtigung andere für ihr Handeln zu geißeln - auch nicht die “Zivilisten”. Sich “abwerben” lassen geht nur auf der Basis eigener Entscheidungen, und das muss jede/r selbst tun. Wer nicht will, will nicht, hat seine Gründe dafür und ist in Ruhe zu lassen. Will ich, das meine Gründe für mein Handeln akzeptiert werden, so muss ich die Begründetheit anderen Handelns auch akzeptieren - ich muss die Gründe ja nicht teilen. Die Autonomie des Handelns gilt nicht nur im Binnenverhältnis, sondern auch gegenüber den “Zivilisten”.
Die “Maquis” können schwer unmittelbar in der Welt der “Zivilisten” überzeugend wirksam werden. Vermittelnd wirken hier punktuelle soziale Bewegungen, in denen sich Aliens, Zivilisten und Maquis vermischen - Spehr verwendet dafür das Bild eines “Erlenmeyerkolbens”, ein Reagenzglas mit einem schmalen Hals und einem breiten Fuß, das man zum Mischen gut herumschwenken kann. In und mit diesen Bewegungen sind die gesellschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten größer als im Rahmen der bürgerlichen “Demokratieformen”. Sie setzen Neues in die Welt, sind aber aus der Sicht des “Maquis” begrenzt: “Eine Friedensbewegung ist zunächst eine Bewegung für Frieden, nicht für Emanzipation” (Spehr 1999, 247).
Das Bild der Unterscheidung zwischen “Maquis” und “Erlenmeyerkolben” kann bei der Orientierung nützlich sein. Wenn sich der “Maquis” isoliert, hat er keine Chance - wenn im “Erlenmeyerkolben” zu wenige “Marquis” sind, verlieren sie ihre potentielle Dynamik. Konsequenter Widerstand und soziale/ökologische Bewegungen werden sich immer in einem Spannungsverhältnis bewegen - aber bewegen müssen sie sich! Zur Orientierung, welche konkreten Konzepte und Aktivitäten diese Bewegung in die Richtung führen, die wir brauchen, können die oben genannten Kriterien dienen: Kein Zurück in die Wertvergesellschaftung, kein Streben unser Projekte nach “ökonomischem Erfolg” innerhalb des Systems und Verhinderung instrumenteller Beziehungen untereinander und gegenüber anderen Menschen. Für eine “Politik der Autonomie” (Spehr 1999, 261)!

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