Wahlquark

DIE ZIELE UND LEITBILDER DER ENTSCHEIDUNGSFINDUNG VON UNTEN

5 Leitbilder der Entscheidungsfindung von unten


1. Einleitungskapitel im "HierarchNIE!"-Reader
2. Welchen Zielen dienen dient die Entscheidungsfindung von unten?
3. Ein Blick auf Hierarchien und Dominanzverhältnisse
4. Startaufstellung für den Weg zur Entscheidungsfindung von unten
5. 5 Leitbilder der Entscheidungsfindung von unten

Im folgenden haben wir nach fünf Begriffen sortiert, was jenseits spezifischer Methoden für die Gestaltung einer Zusammenkunft zur Verwirklichung der Leibilder der Entscheidungsfindung von unten beiträgt. Transparenz, Autonomie, Gleichberechtigung, Streitkultur und Reflexion stellen die Grundausrichtung der Entscheidungsfindung von unten dar, auch wenn sie zum Teil auf völlig unterschiedlichen Ebenen zu verorten sind. Transparenz läßt sich etwa bisweilen schon durch technische Regelungen herstellen (siehe folgende Tipps), Streitkultur und Reflexion verlangt jedoch eine bestimmte individuelle Haltung und den Willen, sich selbst im Sinne eines herrschaftsfeindlichen Umgangs zu hinterfragen und zu verändern.

5.1 Transparenz
Nicht alles an politischer Arbeit und Aktionen ist geeignet, es öffentlich kundzutun. Was nicht innerhalb eines Aktionszusammenhangs transparent ist, kann aber auch nicht dessen Aktion sein - sondern ist eine autonom durchgeführte Aktion einer Teilgruppe, die dafür ihre eigenen Entscheidungen trifft. Ansonsten gilt, daß jedes Mehr an Transparenz unter den Beteiligten dem Abbau von Dominanzen dient.

5.1.1 Einladungen zu Treffen
Oftmals kommen Einladungen nur sehr spärlich herum - sowohl von den Verteilern als auch vom Inhalt her. Unterlagen, Informationen zum Stand der Dinge und Möglichkeiten der Vorbereitung auf das Treffen werden verschwiegen. Sie sind nur einem nicht benannten Vorbereitungszirkel zugänglich, der folglich deutlich bessere Möglichkeiten der Vorbereitung auf Diskussionen, Entscheidungen oder auch Streitpunkte hat. Dominanzabbau bedeutet, daß für alle auf dem Treffen relevanten Punkte (soweit vorher bekannt) maximal gleichberechtigte Möglichkeiten des Zugangs zu Informationen und Vordiskussionen bestehen bzw. entwickelt werden.
Konkrete Möglichkeiten: Einladungen darauf überprüfen; bei der Absprache von Folgetreffen ein bißchen Zeit nehmen, um Verbesserungsvorschläge zu sammeln; Vorbereitungsgruppe und Zugangsmöglichkeiten (Orte, Internetadressen, anfragbare Personen oder Gruppen usw.) sollten immer allen Beteiligten bekannt sein.

5.1.2 Transparenz auf Treffen
Was für die Vorbereitung und Einladung gilt, gilt für das Treffen genauso. Wichtig ist, auf dem Treffen transparent zu machen, welche Zusammenhänge z.B. Vordiskussionen zu Punkten des Treffens geführt haben, wo welche Informationen verfügbar sind, wer für welche Nachfragen ansprechbar ist usw.

Konkrete Möglichkeiten: Zu Beginn eines jeden Punktes (soweit nicht schon mit der Einladung transparent gemacht) zu benennen, wer wo Vordiskussionen geführt oder sich vertiefend beschäftigt hat, wo vielleicht auch in anderen Gruppen oder Vernetzungen parallele bzw. ähnliche Debatten laufen, wo Personen Sachzwänge oder Vorentscheidungen sehen usw. Es ist keineswegs negativ zu sehen, wenn sich einzelne Menschen oder Gruppen auf Treffen intensiv vorbereiten bzw. schon Vorschläge einbringen, aber das sollte immer transparent geschehen.

5.1.3 Dauernde Transparenz, Info-Eliten vermeiden
"Alles Wissen für alle Menschen" ist eine Teilposition politischer Utopie - und das sollte auch für Gruppen und Vernetzungen gelten, soweit es sich auf die gemeinsam verhandelten Dinge bezieht. Wenn etwas etwa aus Zeitgründen nicht erzählt werden kann, sollte bekannt sein, wo es zu finden ist oder wer gefragt werden kann. Rundbriefe, Internetseiten usw. können diese Informationen breit streuen.

5.1.4 Hinweis zur Konspirativität
Der Verweis auf Repression und notwendige Konspirativität ist unabgebracht, denn die Planung strafbarer Handlungen oder ähnlichem, auch die Absprachen zwischen solchen Aktionsgruppen hat in offenen Vernetzungen oder Gruppen ohnehin nichts verloren. Hier müssen Teilgruppen agieren, die autonom handeln. In Vernetzungen wird der Hinweis auf Konspirativität oft benutzt, um Dominanzen zu verdecken oder hinter scheinbaren Notwendigkeiten zu verstecken.

5.2 Autonomie der Einzelnen und der Teilgruppen, keine Abstimmung aller
Ein weiteres Leitbild herrschaftsarmen Vorgehens ist, freie Kooperationen zu fördern und Zwangskollektivität zu überwinden.

5.2.1 Entscheidungen und Aktivitäten dezentralisieren - Plena entmachten
Plena haben oft den Hauch des Wichtigen. Gleichberechtigung, Konsens oder Basisdemokratie herrsche angeblich nur dann, wenn alle gemeinsam über alles entscheiden. Bei genauerem Hinsehen aber schränkt das nicht nur Vielfalt und Minderheiten ein, sondern stärkt auch informelle Hierarchien. Denn je größer eine Gruppe ist, desto eher setzen sich nur wenige Kraft ihre rhetorischen Fähigkeiten, Sachzwangsargumentationen oder ihrer scheinbaren Kompetenz durch. Ziel ist daher, die Entscheidungsprozesse genau umgekehrt zu gestalten: Möglichst viel entscheiden autonome Teilgruppen. Das Plenum oder andere gemeinsame Prozesse dienen der Transparenz, der Klärung von Streitpunkten und der Formulierung der Entscheidungspunkte und offenen Aufgaben, die dann von Teilgruppen gelöst werden. Bewegung und Vernetzung entsteht durch das Nebeneinander vieler handlungsfähiger Gruppen (horizontale Vernetzung). Neben ihnen muß es keine neue handlungsfähige Institution geben - weder Vorstand noch Koordinierungskreis noch Plenum. Alles, was ansteht, wird von den handlungsfähigen Teilgruppen übernommen - in einem transparenten Prozeß aller (dafür ist das Plenum dann wichtig). Im Idealfall entscheidet das Plenum nichts mehr.

5.2.2 Kooperationen fördern
Kooperation und Austausch entsteht nicht immer von selbst. Es sollten aktiv und kreativ Formen gefunden werden, wie Kooperation zwischen Gruppen entstehen können: Plena, Infowände, Mailinglisten, Rundbriefe, Zeitungen, Internetseiten, Vernetzungstreffen nach Open-Space - diese und mehr Möglichkeiten stehen zur Wahl.

5.2.3 Rücksicht auf die Aktionsmöglichkeiten anderer autonomer Teilgruppen
Die Autonomie der handlungsfähigen Teilgruppen muß dort zu Abstimmungsprozessen führen, wo die Autonomie anderer Gruppen eingeschränkt wird. Dafür treten die jeweils betroffenen Gruppen in Kontakt und einigen sich direkt. Das Plena und andere Austauschstrukturen dienen hier wiederum nur der Transparentmachung solcher Konflikte oder Kollisionen (z.B. im Rahmen von Großaktionen oder Kongressen, wenn unterschiedliche Aktionen gleichzeitig und am gleichen Ort stattfinden würden, die sich ausschließen).

5.2.4 Zusatz: Horizontale Vernetzung statt Vereinzelung
Die Entmachtung des Plenums ist nicht zu verwechseln mit Vereinzelung und Nebeneinander. Ganz im Gegenteil, denn dort, wo kein Zwang zur Gemeinsamkeit besteht, kann Gemeinsames aus dem Willen der autonomen Teile des Ganzen wachsen - eben, in dem sich viele zusammentun, die eine Idee gemeinsam verfolgen wollen. Nötig dazu sind keine Abstimmungen, sondern die Transparenz, wer welche Ideen und Interessen verfolgt und wo Mitwirkung möglich ist. Der Anspruch der horizontalen Vernetzung läßt sich in einer festeren Gruppe oder Organisation mit einem dauerhaft verwendeten Namen und gemeinsam verwalteten, begrenzten Ressourcen nur begrenzt umsetzen, da immer wieder verschiedene gemeinsame Aktivitäten und Lösungen gegeneinander abgewogen werden müssen. Aber auch in solchen Gruppen sollten man versuchen kreative Lösungen für solche Probleme zu ersinnen und möglichst viel Autonomie von Einzelnen und Teilgruppen zu ermöglichen, der regelmäßige Anspruch einer solchen Gruppe, eine gemeinsame Debatte zu führen und eine für alle gültige Entscheidung zu fällen muß deshalb nicht gleich aufgegeben werden.

5.3 Gleichberechtigte Diskussionsverfahren entwickeln
Gleichberechtigung ist ein weiteres Leitbild eines herrschaftsvermindernden Organisationsprozesses.

5.3.1 Keine Führungspersonen, keine Moderation, keine Räte
Jede Form von Delegation der Führung oder auch Gruppenprozeß-Steuerung schafft Ungleichheiten. Daher sind alle Formen von herausgehobenen Gremien oder Personen zu vermeiden - unabhängig von ihrer genauen Rolle und ihrem Titel. Vorstände, Kommissionen, Koordinationsgruppen, SprecherInnenräte, ModeratorInnen: Sie alle sind eine "Wichtigleute"-Ebene gegenüber den anderen. In der Regel sind ihre Entscheidungen zudem nicht transparent. Solche herausgehobenen Stellungen sind überflüssig, es gibt genügend andere Mittel in Entscheidungsprozessen und zum Abbau informeller Hierarchien.

5.3.2 Gleichberechtigung als Prozeß aller
Nicht irgendwelche Gremien oder Gruppenprozeß-Steuernde (wie ModeratorInnen), sondern alle Beteiligten sollten gleichverantwortlich und gleichberechtigt "zuständig" sein, auf die Verwirklichung gleichberechtigter Gruppenprozesse zu achten. Dafür ist wichtig, daß die Gruppe tatsächliche und potentiellen Dominanzverhältnisse thematisiert und auch explizit vereinbart, daß sich alle um deren Abbau bemühen. Das kann auch in völlig neuen Gruppen, z.B. einmaligen Arbeitsgruppen auf Seminaren oder größeren Treffen, geschehen - meist reichen 5-10 Minuten zu Beginn, um zu vereinbaren, daß gleichberechtige Diskussionsstrukturen angestrebt werden. Konkret verbindet sich damit, daß alle durch direktes Ansprechen mit dafür Sorge tragen, z.B. Wortmeldungen zu berücksichtigt, Dominanzen offenzulegen, zurückhaltendere Leute bevorzugt dranzunehmen, die Entstehung von zwei Gruppen aus Redenden und Zuhörenden zu verhindern, usw.

5.3.3 Direkte Intervention statt Stellvertretung
Der Entwicklung gleichberechtigter Diskussionsverfahren ist abträglich, Plena oder Gremien durch die Übertragung von Aufgaben wichtig zu machen, die auch direkt geklärt werden können. Zu solchen von allen zu tragenden Aufgaben gehört das unmittelbare Einschreiten gegen Dominanz, Diskriminierung oder Übergriffe, aber auch reproduktive Arbeiten u.a.. Das Plenum sollte klären, daß es die Aufgabe aller ist, emanzipatorische Prozesse direkt durchzusetzen. Damit ist nicht in erster Linie die Anwendung von direkter Gewalt, sondern das "Sich-kümmern" und "Sich-Positionieren" gemeint. Beispiel: Wenn jedes sexistische oder rassistische Verhalten sofort auf den Protest vieler trifft und die Person oder Gruppe, von der es ausgeht, kritisiert und zur Diskussion gezwungen wird, wird ein solches Verhalten viel eher zu verändern sein als dann, wenn solche Themen immer vertagt und auf scheinbar wichtige Gremien verlagert werden.

5.3.4 Zusatz: Gleichberechtigung ist nicht Gleichmacherei
Menschen sind unterschiedlich und wollen es sein. Die Unterschiede im Redeverhalten, in der Gestik, im Ausdruck, in der Mimik beim Reden oder Zuhören - all das entsteht nicht nur aus unterschiedlicher Neigung zur Dominanz, sondern auch aus dem individuellen Willen. Ziel eines Gruppenprozesses muß es sein, beides zu schaffen: Einerseits Autonomie und Unterschiedlichkeit der Menschen zu achten, ja zu fördern im Sinne einer Weiterentwicklung aller miteinander, aber in der jeweiligen Einzigartigkeit. Gleichberechtigung als das andere Ziel bedeutet, daß die Unterschiedlichkeit nicht zu einer unterschiedlichen Durchsetzungsfähigkeit führt. Dazu ist nicht nötig (sondern wäre eher Gleichmacherei), daß alle im gleichen Stil agieren. Gleiche Redezeiten oder andere Regeln führen auch gar nicht zur Gleichberechtigung, weil jede Regel immer bestimmte Menschen fördert, die damit gut umgehen können (z.B. Redezeitbeschränkungen die, die schnell reden bzw. präzise formulieren können - meist also die Geschickten unter den Dominanten).

5.4 Fliegende Fetzen - Emanzipatorische Streitkultur und die Steine im Weg dahin
Streit ist eine sehr intensive Interaktion zwischen Menschen, eine Aus-ein-ander-setzung mit mir und anderen - die nicht per se als ,Gegeneinander' abgestempelt werden kann, wie es HarmoniesiererInnen teilweise tun.

5.4.1 Intro
Streit und Konflikte gehören zu Gruppenprozessen von unten selbstverständlich dazu - und das ist auch gut so! Ein Blick auf die derzeitigen Bewegungszusammenhänge verdeutlicht aber schnell, dass eine emanzipatorische Streitkultur nicht existiert: Anonymisierte Schlammschlachten; Leute, die sich einfach nur anpöbeln; es wird rumgemackert. Daneben gibt es eine starke Tendenz, Konflikte zu verteufeln und statt dessen zu harmonisieren bis zum Abwinken...

In diesem Abschnitt wird analysiert, warum Streit in der Szene so destruktiv verläuft und warum Harmonisierung keine Lösung sein kann. Im Gegenzug wird zu begründen versucht, warum Streit ein wichtiges Element unseres Zusammenlebens und einer gegen Herrschaft gerichteten Bewegung ist. Es folgen noch ein paar Anregungen zur Frage, wie eine herrschaftsfreie Streitkultur denn aussehen könnte.
Um einen falschen Eindruck zu vermeiden: Bedürfnisse nach Gemeinschaft und harmonischem Zusammenleben sind vollkommen in Ordnung und sollten auch offen ausgesprochen werden - absolut gesetzt bzw. als Selbstzweck ist beides aber politisch und persönlich fatal.

5.4.2 Streit um Harmonisierung
In Teilen politischer Bewegungen gibt es eine bis heute anhaltende Tendenz zur Harmonisierung. Harmoniserung meint: Streit wird zur Bedrohung für den Zusammenhalt der Gruppe aufgebaut und verklärt, denn real sind es ganz andere Probleme, die unser Zusammenleben unerträglich machen, wie z.B. Anonymisierung, patriarchale Rollenmuster, oder fehlende Sensibilität. Inhaltliche wie persönliche Auseinandersetzungen werden einer fragwürdigen "Wir"-Identität geopfert, einem Gemeinschaftsdenken, dass von jedem emanzipatorischen Anspruch abgekoppelt wird. Konflikte werden verdeckt statt ausgetragen. Es wird ein harmonischer (Quasi-)Naturzustand konstruiert, der durch Konflikte ,verschandelt' und zerstört wird. Wer Probleme offen thematisiert, wird zum Feind des verlogenen, harmonischen Zusammenlebens, unter dessen Deckmantel sich Abzocke, Verarschung und Unterdrückung abspielen.
Dazu passt auch ein esoterischer Boom seit Mitte der 70er, spürbar auch in linken Zusammenhängen: Etliche Bücher, Seminare, Workshops, die uns raten, sich mit dem "eigenen Inneren" zu beschäftigen, "inneren Frieden zu finden". Statt der Verbindung von Selbstveränderung mit sozialer Umwälzung werden die Einzelnen auf sich zurückgeworfen. Nicht in allen, aber in den Mainstream-Esoteriken werden Aggressionen, Wut, Haß und Konflikt als "böse" definiert und verdrängt, als gehörten sie nicht zu uns. Folge ist oft eine Ent-Politisierung, der Rückzug ins Private (Zweierkiste, Familie usw.).

In den 80ern entwickelte Techniken zur Hamonisierung tauchen dabei immer häufiger in allen Bereichen der Gesellschaft auf - die "linke" Szene ist da keine Ausnahme: Moderation, Mediation, Beschwichtigungsrhetorik ("Jetzt streitet euch doch nicht so") und Konsensfixierung auf Sommercamps, überregionalen Treffen und Plenas. Techniken, die längst zum Repertoire moderner, demokratischer Herrschaftssicherung gehören, d.h. von staatlicher Seite bewußt eingesetzt werden, um gesellschaftliche Widersprüche und (Klassen-)Gegensätze zu entschärfen (siehe z.B. Konflikt um den Ausbau des Frankfurter Flughafens).

Die Folgen von Harmonisierung grundsätzlich sind immer ähnlich: Aggressionen werden unterdrückt und verdrängt. Ärgernisse summieren sich. Sehr häufig kommt es dann irgendwann zum großen Knall, bei dem sich aufgestaute Wut "entlädt" und Zusammenhänge bzw. persönliche Beziehungen auseinander krachen. Die Kritik ist aber noch weitergehender:

Kritik an Harmonisierung:
  • Nicht-Umgang mit Konflikten: Harmonisierung ist in jedem Fall ein Nicht-Umgehen mit Konflikten, die dämonisiert, zugekleistert und verdrängt werden - nicht aber gelöst oder produktiv ausgetragen. Indem Probleme, Aggressionen und Zoff immer wieder verdrängt, abgeschoben werden, werden sie gerade unlösbar gemacht. Konflikte, die aus dem Bewusstsein verbannt werden, verselbständigen sich, wie sich später dann in eingefahrenen Verhaltensmustern zur Konfliktbearbeitung zeigt; immer schwieriger wird ein bewußter Umgang.
  • Gemeinschaftszwang: Das ständige Überbewerten von Gemeinschaft, Einheit und Konsens erzeugt einen Anpassungsdruck auf die Einzelnen. Eigenwilligkeiten, Kreativität und kritische Positionen werden verdrängt und unterdrückt, ebenso wie Wut, Haß und Aggressionen. Und das steht der Selbstentfaltung einzelner wie aller entgegen.
  • Verschleierung von hierarchischen Strukturen: Harmonisierung stützt Hierarchien und Herrschaft, weil sie nicht mehr thematisiert werden (dadurch logischerweise aber nicht wegfallen).
  • Ent-Politisierung: Harmonisierung kann zur Ent-Politisierung führen, wenn es nur noch abstrakt um "Gemeinschaft" geht.

Gründe für Harmoniesucht:
Bei "CheckerInnen" mit heraus gehobenen Positionen stecken oft Herrschaftsinteressen dahinter: Unter Rückgriff auf das Zerrbild einer ,harmonischen' Gemeinschaft und Harmonisierungstechniken kann eine diskussionsfeindlichen Atmosphäre erzeugt werden, in der sie ihre Interessen viel besser, reibungsloser durchsetzten können. Die Betonung von Konsens als einzig denkbarer Entscheidungsmethode suggeriert dabei Gleichberechtigung. Bei den meisten Menschen liegen reale, verinnerlichte Ängste (z.B. vor Spaltung und Kritik) der Harmoniesucht zu Grunde. Durch Erziehung und Sozialisation haben viele von uns ein einengendes Richter bzw. Bewertungsdenken drauf ("Was denkt der jetzt wohl über mich?"). Dieses zu überwinden ist ein Akt der Emanzipation von der Beurteilung durch andere, der allerdings nur Schritt für Schritt ablaufen kann und im Moment der Auseinandersetzung einer grundsätzlichen und mehr oder minder stark zum Ausdruck gebrachten Wertschätzung durch andere Bedarf.

5.4.3 Wider der Harmonisierung: Streit ist eine Produktivkraft!
Sinnvoll wäre, sich das Motto der freien Softwarebewegung anzueignen und populär zu machen: Streit ist eine Produktivkraft! Neue Ideen und Erfindungen ergeben sich erst im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Anschauungen, unterschiedlicher Menschen. Konflikte ermöglichen individuelle und kollektive Weiterentwicklung, indem alte Positionen in Frage gestellt werden. Sie dienen außerdem der Klärung von Problemen und Positionen: Konflikte sind die Voraussetzung für Harmonie. Erst durch die Auseinandersetzung der Menschen kann Harmonie und Einigkeit aktiv hergestellt werden - wenn mensch das denn haben möchte, was ja total in Ordnung ist! Harmonie muss immer wieder neu erstritten werden ...

Ohne Streit, inhaltliche Debatte und Zoff ist keine Bewegung von unten zu machen - schon gar nicht die herrschaftsfreie Welt. Streit ist keine Bedrohung für ein nettes Miteinander, sondern ein wichtiger Teil davon - ohne den eine als "Frieden" getarnte Langeweile droht. Nun, hört sich ja vielleicht ganz nett an - doch nun ein Blick auf linke Bewegungsüberreste:

5.4.4 Die Steine im Weg: Wenn Linke sich streiten
Trotz aller Harmoniesierung wird in radikalen Bewegungszusammenhängen zur Zeit immer noch viel gestritten. Deutlich ist aber, dass sich meist weder produktiv, noch emanzipatorisch noch freundschaftlich gezofft wird - ganz im Gegenteil.

Kritik an der vorherrschenden Streitkultur ...
  • Diffamierung und Reproduktion patriarchalen Verhaltens: Lautes Reden, Drohgebärden und Beleidigungen sind auch in Bewegungszusammenhängen verbreitet, ebenso wie patriarchale Muster (z.B. Sieg-Niederlage-Logik).
  • Herrschaftsförmigkeit: In Konflikten geht es um das Absichern der eigenen (Macht-)Position in der "Szene", nicht der solidarischen Auseinandersetzung.
  • nicht direkt: Streit hinter dem Rücken (also typisch bürgerlich) oder/und vollkommene Anonymisierung, wenn Debatten eine entpersonalisierte Basis (z.B. Mailinglisten, Internetforen oder Interim) haben.
  • Pädagogenmentalität und Besserwisserei: Mensch will andere von oben herab belehren (Beispiel: "Lies doch erst mal Marx!").
  • Vereinheitlichung: Unterschiedliche Standpunkte werden nicht akzeptiert. Statt dessen wird eine Angleichung an die (objektive) "Wahrheit" gefordert. Streit ist so gerade gegen Vielfalt gerichtet, die seine eigene Voraussetzung ist! Differenz wird als Bedrohung begriffen, wohingegen Begriffe wie Einheitsfront immer noch unhinterfragt positiv besetzt sind. Spaltungen sind so vorprogrammiert. (Womit nicht der Sinn gemeinsamer Organisierung in Frage gestellt werden soll.)
  • Standpunktfixierung: Es wird nicht aufeinander eingegangen, miteinander diskutiert, sondern Standpunkte reproduziert, was langweilig und nervig ist und keine Weiterentwicklung ermöglicht.

Die aufgezählten Punkte zeigen, dass nicht Streit und Konflikt das Problem darstellen, sondern die gegenwärtige Form der Auseinandersetzung. Daraus ist nicht Harmonisierung abzuleiten, sondern jede Menge notwendige Veränderungen. Andere Formen des Streitens und kreative Gruppenprozesse sind zu fördern, bewußt zu entwickeln und offensiv in Zusammenhänge zu tragen.

5.4.5 Grundzüge und Bedingungen für eine herrschaftsfreie Streitkultur
  • Direkte, offene Intervention: Konflikte ohne Umwege führen, Streitpunkte möglichst sofort und gegenüber den richtigen AdressatInnen ansprechen. Alles andere stärkt Institutionen (Plena usw.) und informelle, intransparente Zirkel.
  • Intersubjektivität: Das Konzept der objektiven Wahrheit über Bord werfen. Ziel ist nicht die Angleichung oder Einebnung an die eine "Wahrheit", sondern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen Positionen und Menschen, z.B. durch gegenseitiges Bezug nehmen (statt Standpunktblabla...).
  • Prozesshaftigkeit: Diskussionen und Debatten als offenen Prozeß begreifen - es gibt kein Ende, für immer feststehenden Erkenntnisse oder Standpunkte. Bewegung statt Stillstand!
  • Diskriminierungsfreie Räume: In der Gruppe und im alltäglichen Miteinander über Ängste vor Konflikten, vor Bewertung und (Zuneigungs-)Verlust reden, diese ernst nehmen und zusammen nach Lösungen suchen. Ziel ist eine Welt, in der keine mehr Angst haben muss, anders zu sein. Aus dieser Perspektive sind Differenz, Unterschiede und Vielfalt eine nicht länger Bedrohung sondern Bereicherung - womit aber keine Beliebigkeit gemeint ist.
  • Streit als "Normalfall": Davon ausgehen, dass Streit und Konflikte selbstverständlich zu einem menschlichen Miteinander gehören, und es auf den Umgang damit ankommt.Im Alltag und anderswo gilt es, der vorherrschenden, negativen Bedeutung entgegen zu treten ("Streit ist cool!"), d.h. zu vermitteln, dass Streit keine "Gefahr" für ein nettes Zusammenleben ist, sondern ein wichtiges Element davon.

Wichtig ist, auch neue Formen für Diskussionen zu entwicken, die diesen Ansprüchen gerecht werden, z.B. Fishbowl statt Podiumsdiskussionen. Bleibt zu hoffen, dass dieser Text weitreichende Streits entfacht. Lasst die Fetzen fliegen ... für eine herrschaftsfreie, solidarische und kreative Streitkultur!

5.5 Reflexion
Die Ziele der Entscheidungsfindung von unten lassen sich nur verwirklichen, wenn man immer auch in der Rückschau darüber nachdenkt und (selbst-)kritisch hinterfragt, wie und warum etwas so oder so gelaufen ist. Oft passiert das nicht, weder gemeinsam noch individuell. Leider haben wir dazu nur noch einige wenige Methoden und Anmerkungen in den Reader aufnehmen können - hier besteht also besonderer Ergänzungsbedarf. Einige Andeutungen, was Reflexion heißen kann:
  • Reflexion bedeutet, in den jeweiligen politischen Zusammenhänge Orte bzw. Momente zu schaffen, in denen selbstgesetzte Ziele und tatsächlich Erreichtes verglichen werden und explizit danach gefragt wird, wie die Beteiligten zurückliegende Dinge persönlich erlebt haben. Was war für die Einzelnen ärgerlich, erfreulich, furchteinflössend, enttäuschend, ausgrenzend, zurücksetzend, fördernd etc.? Haben sie ihre Ziele erreichen können oder wodurch wurde das verhindert? Wie war die Organisationsform, wie hat die Stimmung auf die Einzelnen gewirkt? Die Antworten zu solchen Fragen auszutauschen, trägt viel zu einer Weiterentwicklung des Zusammenhangs bei. Besonders weit kommt man, wenn es gelingt, eine Atmosphäre zu schaffen, die möglichst konkrete Schilderungen des Erlebten erlaubt, man also nicht dabei stehen bleibt, zu sagen "ich war genervt", sondern etwa zu sagen "Bertis ständiges Gemeckere hat mich wütend gemacht" (siehe oben 4.1.3). Gleichwohl helfen auch weniger präzise Eindrücke oft weiter und können Anlass sein, ggf. auch nach der Sitzung noch einmal direkt nachzufragen.
  • Neben der Reflexion in der Gruppe bezeichnet Reflexion auch einen individuellen, persönlichen Vorgang, des "Sich-in-Frage-stellen" oder des "Sich-von-außen-betrachten". Es geht dann darum, sein eigenes Verhalten auch selbst einer Kritik zu unterziehen und nicht allein darauf zu warten, dass einem andere dazu Hinweise liefern. Habe ich mich da dominant verhalten? Was ist eigentlich mein Anteil am Entstehen des Disputs gerade? Höre ich überhaupt aufmerksam zu oder reagiere ich immer nach einem vorgefertigten Schema? Spiele ich meine typische Rolle wieder? Erwarte ich von anderen, die Initiative zu übernehmen? In einem gewissen Umfang stellt man sich ohnehin ständig solche Fragen und zieht daraus auch Konsequenzen. Oft könnte man das intensiver tun und in jedem Fall ist eine Reflexionsebene wichtig, wenn man mit anderen Menschen freundschaftlich und hierarchiearm kooperieren will.

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