Wahlquark

JUMJA - JUGENDUMWELTTREFFEN IM NORDEN

Kommentare zum Artikel der BILD am Sonntag vom 13.10.1996


1. Das Neueste vom Presseskandal zum Jugend-Umwelt-Jahrmarkt
2. Anmerkungen zum Soziademokratischen Informationsbrief vom 14.10.96
3. Pressemitteilung der ÖDP
4. Übersicht über die Arbeitskreise und Workshops
5. Stellungnahme zu den Vorwürfen
6. Kommentare zum Artikel der BILD am Sonntag vom 13.10.1996
7. Keine blinde Verteufelung von Jugend-Umweltinitiativen
8. Offener Brief nach der BILD-Hetze
9. Teilnehmer*innen äußern sich: Jumja war super!
10. Was ist Projektfreiheit?

Kommentare zum Artikel der BILD am Sonntag vom 13.10.1996

CHAOTEN-TRAINING: "BENUTZT DECKNAMEN UND VERGRABT EURE WAFFEN"

Schüler lernen Straßenkampf, Sitzblockaden, Anketten -

zwei Bundesländer und die AOK zahlten Zuschüsse

"Windradbau, Schuhe und Hosen nähen, Gitarre spielen, jonglieren oder nur einfach faulenzen" - so betulich beschrieb das Programm die Aktivitäten des Jugend-Umwelt-Jahrmarktes (Jumja'96), der vergangene Woche im schleswig-holsteinischen Bad Oldesloe stattf and. 250 junge Menschen von 14 bis 20 waren eingeladen. Die Stadt Hamburg und das Land Schleswig-Holstein förderten das scheinbar so löbliche Vorhaben von freien "Jugend-Umwelt-Projektwerkstätten" mit mehr als 20 000 Mark Zuschüssen, der AOK-Bundesverband spendierte einem Veranstalter 2000 Mark, der World Wildlife Fund (WWF) 900 Mark.

Schlechter Journalismus: Ausdrücke wie "betulich" und "scheinbar so löblich" gehen schon sehr stark in Richtung Kommentar. Eine seriöse Zeitung trennt Kommentar und Nachricht. Der WWF nennt sich übrigens bereits seit einigen Jahren ?World-Wide-Found for Nature?.




Doch am Mittwoch, 9. Oktober, war Schluß mit der Windradidylle. Da lernten die jungen Menschen auf Staatskosten, wie man diesen Staat bekämpft. "Widerstandsformen kreieren" hieß das auf dem Programmzettel.

Das kann gar nicht auf dem Programmzettel gestanden haben, denn die spontanen Arbeitskreise, die aus den Reihen der Jugendlichen entstanden, konnten nicht im Vorraus bekannt sein.




Empört schildert ein Teilnehmer (der Name ist der Redaktion bekannt), was er in einer Turnhalle in Bad Oldesloe erlebte:

Schlechter Journalismus: Der ganze Artikel stützt sich auf die Aussage von einem von über 200 Augenzeugen. Zwar wurden Ministeriensvertreter befragt, doch die Veranstalter hatten keine Chance, eine Stellungnahme abzugeben, weder im Nachhinein während der T elefonrecherche noch während des Jumja, weil die Boulevardjournalisten sich plump eingeschlichen haben und nicht den Mut hatten, sich als solche zu erkennen zu geben.

"Ein junges Mädchen, etwa 15 Jahre alt, nimmt einen Tennisball und wirft ihn einem jungen Punker an den Kopf. ´Das sind jetzt Steine', ruft es. Der Getroffene schwingt eine Papierrolle und knüppelt auf die Kleine ein. Sein Pappschild mit der Aufschrift ´Po lizei' läßt er fallen."

Ein Rollenspiel: Die einen sind Demonstranten, die anderen spielen Polizei.

Geschickt versteckte Klischeebildung: Das arme 15jährige Mädchen, das - wie später geschrieben - zu Gewalttaten getrieben wird und der gewaltbereite Punker, der die Assoziation zu den Chaostagen in Hannover wachruft. Rollenspiel ist durchaus eine verbreite te Methode, um Verständnis für Gruppen unterschiedlicher Ansicht zu erwirken. Warum wird daraus ein Skandal gemacht?




Der Augenzeuge weiter: "Ein Mädchen, etwa 17, hat ein Megaphon. Es brüllt: ´Hier spricht die Polizei! Räumen Sie die Straße! 'Eine andere Gruppe hat sich mitten in die Turnhalle gesetzt und johlt: ´Wir stellen uns quer. kein Castor nach Gorleben.´"

Broschüre zeigt, wie man Bahngleise zersägt

Zur Erinnerung: Bei den letzten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten im April wegen der Castor-Atommülltransporte nach Gorleben wurden 36 Beamte verletzt. Den etwa 40 Jugendlichen, die am Chaotentraining in der Bad Olde sloer Turnhalle teilnehmen, werden die gewalttätigen Demonstranten als Vorbilder dargestellt. Immer wieder müssen sich die jungen Leute, vorwiegend Schüler in den Herbstferien, als Demonstranten hinter Turngeräten und Matten verbarrikadieren, Sitzstreiks üben.

Tendentiös geschrieben. Hiermit wird der Eindruck erweckt, daß die TeilnehmerInnen mit Filmen oder Erzählungen aus Gorleben wahrlich aufgehetzt wurden und richtiggehend dazu gezwungen wurden, an dem Training teilzunehmen, was nachweislich nicht der Fall wa r. Die jungen Leute sind freiwillig zu dem Arbeitskreis gekommen. Und wenn sie sich mit gewaltfreiem Widerstand und den umstrittenen Castor-Einlagerungen in Gorleben beschäftigen, und dies vom Staat gefördert wird, ist das allemal besser, als wenn der Sta a t seine Steuergelder für Jugendarbeit in Verbände investiert, wo sie bei erwachsenen Hauptamtlichen stecken bleiben oder in Kampagnen "von oben" investiert werden.

Matthias aus Hamburg, knapp 20, schlank, grünes Sweatshirt mit Kapuze, ist der Übungsleiter.

Auch hier wird mit gängigen Klischees gearbeitet. Die Beschreibung von Matthias ruft durch die Erwähnung der Kapuze das Bild des Vermummten, gewaltbereiten Autonomen bzw. Chaoten wach.

Er verteilt ein fotokopiertes Faltblatt aus England, auf dem genau dargestellt wird, wie man ein Eisenrohr in die Erde treibt und sich daran festklammert, um es der Polizei schwerzumachen, einen wegzutragen. Matthias hat Erfahrung. Er rät den Teilnehmern: "Wenn ihr Waffen habt, tragt sie niemals am Körper. Am besten legt ihr sie vorher dort ab, wo ihr sie später braucht." Den Mädchen in der Gruppe gibt er den Tip, bei Demos auf Make-up zu verzichten, denn: "Das nimmt gut Reizgas an." Weitere Hinweise: "Rede t euch untereinander niemals mit echten Namen an, benutzt immer nur Decknamen - wie zum Beispiel Fliege. Und geht immer nur in der Gruppe. Dann kann die Polizei euch nicht identifizieren."

Handschellen, ein Fahrradschloß und die Metallrohr hat Matthias mitgebracht. Der Chaos-Lehrmeister erklärt, wozu diese Dinge gut sind: "Jetzt zeige ich euch, wie man sich ankettet, um Straßen zu blockieren. Fahrradschloß um den Hals und damit an ein Auto a nschließen. Die Polizei braucht Stunden, um euch loszumachen."

An dieser Stelle ist nicht mehr von Augenzeugen die Rede, sondern die BamS formuliert so, als wären ihre Reporter vor Ort gewesen. Woher kennt die BamS die Aussagen von Matthias, sind sie vielleicht völlig aus dem Zusammenhang gegriffen oder gar frei erfun den? Ebenso wird hier erneut eine Radikalisierung durch Worte wie "Übungsleiter" und "Chaoslehrmeister" betrieben. Der Referent versuchte den TeilnehmerInnen die Empfindungen sowohl der PolizistInnen als auch der DemonstrantInnen während einer Protestakti o n zu verdeutlichen. Dies ist weder eine ?Übung", noch eine ?Chaosschulung?.




Erst jetzt dämmert es einigen der jungen Menschen, daß ihr Umweltidealismus für Gewalttaten mißbraucht werden soll. Ein Mädchen geschockt: "Irgendwie finde ich das gefährlich, wenn man jungen Leuten so was beibringt." Doch andere finden das alles "supergei l".

Hier wird wieder so getan, als ob die TeilnehmerInnen zu etwas gezwungen, ja sogar mißbraucht wurden. Woher hat die BamS die Aussagen? Reporter waren nicht vor Ort.




Schnell vergriffen sind die Broschüren, die die Organisatoren mitgebracht haben. Für 5 Mark können die Teilnehmer das Heft "55 Millionen plus X" kaufen. Dort wird ausführlich gezeigt, wie man Bahngleise durchsägt, Wurfanker herstellt, um Oberleitungen zu z erstören, und Strommasten mit selbstgebauten Bomben sprengt. Was die Kids nicht wissen: Im April wurde das von einer "Republik Freies Wendland" herausgegebene Heft bei einer Razzia der Hamburger Polizei in einer Buchhandlung wegen des Verdachts der Anleit u ng zu Straftaten (§§ 126, 130a Strafgesetzbuch) beschlagnahmt.

Diese Schrift wurde nicht von den Veranstaltern des Jugend-Umwelt-Jahrmarktes, sondern von TeilnehmerInnen verbreitet. Dies ist illegal und wird vom Veranstalter verurteiltfalls geschehen. Allerdings sind Straftaten Einzelner nicht der Gesamtheit anzulaste n. Eine Kontrolle der verbreiteten Schriften ist seitens der Veranstalter gar nicht möglich gewesen. Ebenso können die Veranstalter nicht alle Aussagen in einzelnen Arbeitskreisen auf ihre Rechtsstaatlichkeit prüfen.




Behörde:" Nur begrenzt steuerbar"

Friedrich Goerke (52) von der Hamburger Jugendbehörde, die die Aktionswoche mit 100 Mark pro Teilnehmer aus der Hansestadt fördert (insgesamt etwa 4000 DM) zu BamS: "Solch ein Jugend-Umwelt-Jahrmarkt ist nur begrenzt steuerbar, weil dort alles demokratisch zugeht und viele Aktivitäten aus dem Kreis der Teilnehmer kommen. Insgesamt ist das, was in Bad Oldesloe gemacht wurde, eine gute Sache. Ich kann das beurteilen, ich war an einem Tag selbst dabei. Doch wenn ein oder zwei Idioten oder Chaoten die Sache an sich reißen, da kann man nicht viel machen."




Diese Einschätzung entspricht der Wahrheit und kann auch als Lob für neue Ansätze in der Jugendarbeit gesehen werden. Aus dieser im Bereich der Jugendförderung fortschrittlichen Politik des Landes Schleswig-Holstein macht die BamS einen Skandal. Aber ist d er eigentliche Skandal der, daß es in den anderen Bundesländern eine Förderung zugunsten anachronistisch denkender Umweltverbände gibt und freie Jugend-Umwelt-Initiativen weitestgehend zurückgestellt werden.




Machen will aber Schleswig-Holstein etwas, das in diesem Jahr für den Jugend-Umwelt-Jahrmarkt 17 500 Mark (10 000 DM vom Umwelt-, 7500 DM vom Jugendministerium) bewilligt hat. Vor einem Jahr wurden nämlich schon einmal bei einer ähnlichen Veranstaltung in Kiel "Widerstandsformen" gegen die Staatsgewalt eingeübt. Daraufhin gab es eine Verwarnung: Sollte das noch einmal vorkommen, werde es kein Geld mehr vom Staat geben.

Der Sprecher des Kieler Umweltministeriums, Wolfgang Götze (44) zu BamS: "Wir prüfen die Vorwürfe. Sollten sie zutreffen, werden wir die Förderung einstellen und das Geld zurückfordern beziehungsweise noch nicht ausgezahltes Geld zurückhalten."




Journalistischer Schachzug: Der Artikel endet mit einer negativen Aussage (im Sinne der gewollten Tendenz des Artikels), verstärkt so den Eindruck, den die LeserInnen hier gewinnen sollen und bleibt ihnen im Gedächtnis.

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brief@bild.de oder jup-od@lynet.de

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