Wahlquark

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

„Wenn nichts mehr geschützt ist, kann nichts mehr gelebt werden“


1. Die Kapitel des Fragend-voran-Büchleins
2. Wieso straft Mensch?
3. Von Orten der Gewalt und bösen Taten
4. Strafe – die gute Gewalt
5. Im Namen des Rechts und der Gerechtigkeit
6. Der offizielle Strafzweck
7. Das grosse Ziel
8. Was ich eigentlich sagen wollte...
9. „Es gibt eine gewisse Eigenverantwortung“
10. „Wenn nichts mehr geschützt ist, kann nichts mehr gelebt werden“
11. „Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Prozess“
12. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
13. Versuch über Perspektiven
14. Impressum

Thomas Merkli ist Präsident der 2. öffentlichrechtlichen Abteilung am Bundesgericht in Lausanne (nominiert von der Grünen Partei.)

„Lex, Justitia, Pax“ – Gesetz, Justiz, Frieden. Unübersehbar prangern die drei Begriffe an diesem Gebäude. Gestützt auf seine vier Säulen sieht das Bundesgericht aus wie ein Tempel. Ein Ort der Wahrheit und Gerechtigkeit. Werden Entscheide, die hier gefällt werden, diesem Anspruch gerecht?
Was heisst „wahr“? Und was ist gerecht? Der Wahlspruch „Lex – Justitia – Pax“ nimmt bewusst weder auf die Wahrheit noch auf die Gerechtigkeit Bezug, sondern auf das Gesetz, auf die Rechtsprechung und den Rechtsfrieden. Die Idee der Gerichte ist, dass sich die Gesellschaft eine Ordnung gibt, dass diese Ordnung durchgesetzt werden muss und dass in der Gesellschaft Friede herrscht, wenn diese Ordnung korrekt durchgesetzt wird, weil das verwirklicht wird, was in der Gesellschaft als richtig empfunden wird. Was die Gesellschaft als richtig betrachtet, wird von einer Mehrheit auch als gerecht empfunden. In diesem Sinne nähert man sich der Gerechtigkeit an. Aber Gerechtigkeit ist ein viel umfassenderer und philosophischen Begriff, den man im Rechtsleben nicht so absolut sehen kann.

Und was heisst Wahrheit? Jeder hat seine eigene Wahrheit. Nach der Wahrheit zu suchen ist eine Grundlage, um Recht zu sprechen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Aber jeder Wahrheitssuche sind Grenzen gesetzt. Man kann nicht jahrelang nach der Wahrheit suchen. An einem bestimmten Punkt findet man sie nicht mehr besser. Diese Wahrheit bleibt daher immer gewissermassen relativ. Wahrheit für die Gerichte ist, was bekannt gemacht und bewiesen werden kann, mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen.

Sie sagen, wenn die Ordnung durchgesetzt wird, die sich die Mehrheit einer Gesellschaft gegeben hat, herrscht Rechtsfrieden. Was ist dann mit der Minderheit, die diese Ordnung annehmen muss, ohne dass sie sich diese je gegeben hat?
Diese ist dazu verhalten, diese Ordnung zu akzeptieren, weil sie eben nur eine Minderheit ist. In der demokratischen Gesellschaft sagt die Mehrheit, was gilt, die Minderheit muss es akzeptieren. Das Ziel davon ist ein allgemeiner Friede. Sie sind heute mit dem Zug hierher gereist. Ihnen ist während der ganzen Fahrt nichts zugestossen. Wenn kein Friede mehr herrscht, fährt der Zug irgendwann nicht mehr weiter, weil die Geleise gestohlen wurden. Oder Sie werden überfallen. Dies meint man mit Frieden. Einen Sozialen Frieden, der in der Gesellschaft herrscht, damit jeder seinen Interessen und Bedürfnissen nachgehen kann. Wenn nichts mehr geschützt wird, kann nichts mehr gelebt werden. Kann kein Austausch mehr stattfinden. Weder menschlich noch wirtschaftlich. Wenn nichts geschützt ist, kann man nicht zusammenleben. Deshalb ist dieser Friede eine Grundvoraussetzung des Zusammenlebens. Und damit dieser Friede stattfinden kann, muss eine bestimmte Ordnung herrschen. Ob die richtig oder falsch ist, spielt hier eine geringere Rolle. Sie muss in erster Linie durchgesetzt werden, damit jeder weiss, wie er sich verhalten muss, damit er in diesem Verbund leben kann.

Und wenn eine Minderheit diesen Frieden nicht als dienlich sieht, weil sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigen kann und sich dagegen auflehnt, muss sie bestraft werden.
Das kann man so nicht sagen. Die Rechtsordnung entsteht in einem politischen Prozess. Es ist eine politische Auseinandersetzung, herauszufinden, was die Mehrheit als richtig empfindet. Wenn sich eine genug grosse Minderheit bemerkbar machen kann und sagt, das stört uns, wir akzeptieren das nicht, so findet eine politische Lösungssuche statt. Deshalb wird diese Rechtsordnung fortlaufend verändert.

Die Mehrheit muss also auf die Minderheit Rücksicht nehmen?
Die Grundidee ist natürlich schon, dass sich die Minderheit der Mehrheit anpasst. Es ist auch die Mehrheit, die entscheidet, ob sie in einer bestimmten Frage auf die Minderheit Rücksicht nehmen will.

Die gesetzgebende Mehrheit bestraft abweichendes Verhalten einer Minderheit mit Sanktionen. Ist nicht jeder Fall, wo zu Sanktionen gegriffen werden muss, ein Zeichen, dass eine Minderheit mit der Mehrheit nicht mehr klar kommt?
Ich glaube das kann man so nicht sagen. Es ist durchaus möglich, aber nicht immer der Fall. Wenn jemand ein kleines Kind überfährt und deshalb sanktioniert wird ist dies nicht ein Zeichen, dass eine Minderheit mit der Mehrheit nicht mehr klar kommt. Es wäre übertrieben, so etwas zu folgern. Es sei denn, man sage, die Minderheit der Raser kommt mit denen nicht mehr klar, die wollen, dass die kleinen Kinder am Leben bleiben.

Aber es würde aufzeigen, dass durch das Problem zwischen Autos und Menschen ein Konflikt entsteht. Indem dieser Raser bestraft wird, bewirkt man kaum, dass kein weiteres Kind mehr überfahren wird.
Nein, aber das wäre natürlich das Ziel. Es ist immerhin eine Form, auf ein Verhalten hinzuwirken. Wenn ein Verhalten ohne Sanktion bleibt, kann man sicher sein, dass es nach Belieben reproduziert wird. Wer rasen kann, ohne schlimme Folgen befürchten zu müssen, auch wenn er anderen Schaden zufügt, der rast fröhlich weiter, sein Leben lang. Wenn man ihn nicht davon überzeugen kann, seine Mitmenschen zu schützen, und man keine Sanktionen zur Verfügung hat, so kann man ihn nicht dazu bringen, sein Verhalten zu ändern. Die Mehrheit will aber von der Minderheit, dass sie bestimmte Verhaltensweisen ändert, damit Friede ist. Man kann nicht davon ausgehen, dass Friede wäre, wenn man dieses Verhalten nicht erzwingen würde.

Was würde also geschehen?
Die Familie mit den geschädigten Kindern würde dies nie akzeptieren und innert Kürze hätte man ein riesiges Problem. Wenn niemand beauftragt ist, Sanktionen durchzuführen, so greift jeder zu seiner eigenen Sanktion. Der Vater des überfahrenen Kindes nimmt seinen Revolver hervor und erschiesst den Raser. Wenn jeder seine eigene Ordnung durchsetzt, macht jeder was ihm passt und wir enden bei „Aug um Auge, Zahn um Zahn“. Jeder setzt seine individuelle Rechtsordnung durch und Sie haben nie Friede. Das kann man nur verhindern, wenn man eine Institution beauftragt, die gegebene Ordnung für alle durchzusetzen.

Gehen die Straftaten also zurück, wenn häufiger zu Sanktionen gegriffen wird?
Dies ist sehr schwer zu sagen, weil man nie weiss, wie es andernfalls wäre. Gewisse Verhaltensweisen lassen sich aber relativ einfach überwachen. Ein gutes Beispiel sind die Geschwindigkeitsbeschränkungen. Wenn Sie nirgendwo Geschwindig-keiten messen, können Sie sicher sein, dass sich relativ wenige an diese Beschränkungen gebunden fühlen. Wenn Sie alle fünf Kilometer einen Radar setzen, und jede Geschwindigkeitsüberschreitung lückenlos sanktionieren, können Sie ebenso sicher sein, dass die Limite viel besser beachtet wird. Mit diesem Beispiel würde dieser Zusammenhang somit stimmen. Je mehr Sanktionen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, desto weniger wird zu schnell gefahren.

Wieso macht man das nicht?
Es geht immer darum, ein Gleichgewicht zu finden und abzuwägen, wie dringend ein Anliegen empfunden wird. Je nach dem ist man bereit, mehr oder weniger Mittel für dieses Anliegen einzusetzen. Man könnte Geschwindigkeits-überschreitungen auch ganz verhindern und Autos plombieren. Technisch wäre das möglich. Aber der Mehrheit ist dieses Anliegen zuwenig wichtig, als dass man bereits die Möglichkeit, ein Gebot zu überschreiten, verhindern sollte. Aber vielleicht kommt dies einmal.

Wodurch werden Straftaten hervorgerufen?
Dafür gibt es viele Gründe. Grundsätzlich denke ich, ist es meist ein Individualbedürfnis, welches der Einzelne in einer bestimmten Situation höher gewichtet als ein Kollektivbedürfnis. Das ist ein persönlicher Entscheid. Wenn ich keinen Parkplatz finde und entschlossen bin, zu parken, so parke ich falsch. Es ist mein persönliches Bedürfnis, das Auto abzustellen, obwohl ich weiss, dass ich dort nicht parken sollte. Aber ich gewichte mein Bedürfnis höher als das Gebot. Ich stelle mein persönliches Bedürfnis höher als die Ordnung, die man sich gegeben hat. Im Grunde genommen ist es immer dieses Muster, wenn Straftaten geschehen.

Sind Straftaten nicht in vielen Fällen eine Reaktion auf einen Missstand? Nehmen wir das Beispiel Eigentumsdelikte. Es entstehen in der Gesellschaft immer wieder Diebstähle, weil es immer wieder Menschen gibt, die einen materiellen Vorteil haben und Menschen, denen es an Mittel fehlt. Der Diebstahl ist also eine Reaktion des Täters auf seine gesellschaftliche Situation. Wenn der Täter bestraft wird, wird das Problem aber nicht aus dem Weg geschafft. Es wird immer wieder Menschen geben, die auf ihre Situation mit Diebstahl reagieren. Man hat noch keine Spur eines Lösungsansatzes zwischen diesen zwei Gruppen, die immer in einem Konflikt stehen werden.
Wenn man das so aufzieht, haben Sie recht. Aber das ist nicht die typische Situation. Wenn es jemandem am Lebensnotwendigen mangelt und er dies nicht auf legale Weise beschaffen kann, so muss er stehlen. Aber in unserer Gesellschaft, hier in der Schweiz, werden die meisten Diebstähle von Menschen begangen, die an sich genug zum Leben haben, aber gerne etwas mehr hätten.

Oder die nicht einsehen, wieso es die anderen besser haben sollten.
Ja, oder vielleicht denken sie nicht einmal so weit. Es reicht zu denken, ich selber möchte es etwas besser haben. Meistens denkt der Dieb nicht an die Situation des anderen, sondern an seine eigene Situation.[1] Dies ist der eigentliche Ansatzpunkt des Sanktionssystem. Die Leute denken in den meisten Fällen nicht an die anderen – ansonsten würden sie die Ordnung mehr respektieren. Sie denken an sich und an ihre persönlichen Bedürfnisse. Und diese stellen sie höher als die Bedürfnisse der Allgemeinheit. Der Täter will etwas besitzen und denkt selten daran, ob dies gerechtfertigt oder verträglich sei. Wenn jemand entschlossen ist, seine Individualbedürfnisse über ein vernünftiges Gesetz hinwegzusetzen, heisst dies, dass er auch sehr egoistisch ist und denkt. Und wenn jemand sehr egoistisch ist, so führt dies zum Exzess.

Abgesehen davon wie der Täter denkt, werden sich weniger begüterte Menschen wohl kaum je einfach damit zufrieden geben, ärmer zu sein. Dadurch wird dieser Konflikt immer bestehen.
Es ist immer eine Spannungssituation, wenn gewisse Menschen materiell mehr haben als andere. Wenn wir alle Menschen in der Schweiz nebeneinander stellen, so ist kaum einer in derselben Situation. Aber eine Mehrheit hat entschieden, dies zu akzeptieren. Für die sozial Schwachen gibt es Unterstützung aller Art, um ihre Situation zu verbessern, und damit hat sich’s. Die Reichen kriegen weniger Unterstützung und bezahlen mehr Steuern. Eine Mehrheit der Gesellschaft findet nun, das genüge.

Und wenn man die Situation global betrachtet?
Nun gut. Eine weltweite Ordnung mit einem Sanktionssystem gibt es nur ansatzweise. Die einzige Organisation, die weltweit agiert, ist die UNO. Und die ist ausserordentlich schwerfällig und kompliziert. Ihr Sanktionssystem ist archaisch und zufällig. Deshalb kann die UNO auch nicht mehr bewirken im Hinblick auf einen weltweiten sozialen Frieden. Dies ist, was ich Ihnen bereits am Anfang unseres Gesprächs zu erklären versuchte: Es gibt auf der Welt keinen Frieden, wenn zu viele Akteure ungestraft machen können, was ihnen nützt. Ein globales System mit einer Ordnung, die durchgesetzt und sanktioniert wird, gibt es heute noch nicht.

Sie sprechen vom Sozialen Frieden, der in einer Gesellschaft herrschen sollte. Betrachtet man aber unsere Gesellschaft, so sieht man erschreckend viel Ungerechtigkeit und Gewalt – unabhängig von Strafhandlungen. Ist unter diesem Gesichtspunkt ein gesetzlicher „sozialer Friede“, Ruhe und Ordnung trotzdem gerechtfertigt und sinnvoll?
Ja. Nur schon, weil es keine Alternative gibt. Aber man darf auch nicht nur sehen, was nicht perfekt ist. Selbstverständlich ist ein solches System nie perfekt. Aber nehmen wir wiederum ein Beispiel: Sie sind in Ausbildung. Möglicherweise finden Sie es ungerecht, dass Sie zuwenig Stipendien erhalten. Dies ist jedoch noch kein zentrales Problem. Zentral ist, ob Sie überhaupt eine Ausbildung machen können. Dort entscheidet sich, ob ein Friede aufrechterhalten werden kann. Damit Sie das können, braucht es eine ganze Organisation, die gesichert sein muss. Es müssen Steuern bezahlt, Schulhäuser gebaut, Lehrer angestellt und bezahlt werden – jemand muss dies organisieren können in einem funktionierenden Rahmen. Wenn dieser Rahmen nicht mehr funktioniert, wenn keine Steuern mehr bezahlt und keine Lehrer mehr angestellt werden, können Sie gar nicht mehr zur Schule gehen. Und dann ist ein zentrales Problem vorhanden. Dann ist es schlimm. Dann wird ihnen ein ganz grundlegendes Bedürfnis nicht mehr gedeckt und der soziale Frieden ist gefährdet.

Die Stipendienfrage mag man vielleicht als Missstand betrachten, sie ist aber nicht vital. Das sind Unvollkommenheiten im System, die man mit allem Perfektionismus nie ganz aus der Welt schaffen kann.

Wenn ich Sie richtig verstehe, hat Recht nichts mit einer Moral oder einer Grundeinstellung zu tun. Was sollte Recht sein?
Für mich sollte Recht ein Minimum sein, das nötig ist, um zusammen zu leben, einen gemeinsamen Massstab. Ich glaube es sollte immer unser Bestreben sein, das Minimum, das man zu regeln braucht, möglichst klein zu behalten, damit möglichst viel Freiheit für den Einzelnen bleibt. Leider ist die gegenwärtige Entwicklung gegenläufig. Es gibt immer mehr Bereiche, die durch das Recht geregelt werden. Es ist in meinen Augen eine unglückliche Entwicklung, wenn man immer mehr Recht setzt. Es ist auch eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber all dem Verhalten, welches auch mit Vernunft in richtige Bahnen gelenkt werden könnte. Wir befinden uns in einer Entwicklung, wo man immer mehr und immer strenger reglementiert, weil man immer weniger damit rechnen kann, dass jeder seine persönlichen Bedürfnisse etwas zurücksteckt, wenn es der Allgemeinheit dient.

[1] Siehe dazu Interview mit Sylvia Frei, Seite 49. Frei erkennt aus ihrer Tätigkeit als Anwältin klar, dass der Täter oft auch seine Situation mit der des Opfers vergleicht und seine Tat damit legitimiert. Thomas Merkli hingegen sieht das Problem eindeutig beim Höherstellen der eigenen Bedürfnisse des Täters.

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