Martin Luther

THESENPAPIER „WO DAS VOLK HERRSCHT, GEHT DER MENSCH UNTER“

Zehn Thesen


Zehn Thesen · Bücher und Materialien

  1. Die heutige Debatte über Demokratie ist eine über ihre vermeintlichen Defizite. Mit einer Schwemme von Büchern, Texten und Kommentaren zur Demokratie wird versucht, Fehler im System der Volks-Herrschaft zu finden, zu beschreiben, zu analysieren und zum Teil auch zu beheben. Die meisten AutorInnen fordern eine bessere Demokratie, etliche schlagen ihre eigenen Organisationen als Wegbereiterinnen zu dieser vor. Die Frage, ob nicht das System ,Demokratie’ selbst die Ursache sein könnte, also ob gerade ihr Funktionieren die Konkurrenz zwischen Menschen und Kollektiven, die internen Hierarchien und Abgrenzungen, die ständige Instrumentalisierung und Normierung sowie andere Probleme erzeugt oder verschärft, wird regelmäßig gar nicht gestellt. Das Unterlassen dieser grundsätzlichen Frage ist eine Ausblendung, die auch methodisch alle politischen oder wissenschaftlichen Abhandlungen über Demokratie fragwürdig erscheinen lässt, weil das Spektrum an Antworten künstlich eingeschränkt wird.
  2. Demokratie beruht immer auf einer handlungs- und entscheidungsfähigen Einheit. Jenseits der teils gravierenden Unterschiede zwischen repräsentativer, direkter, Basis- oder Konsensdemokratie benötigen alle diese Systeme eine klare Abgrenzung derer, die die Entscheidungen treffen (dürfen), von denen, die nicht mitentscheiden dürfen. Es muss für jede Wahl genauso wie für jede Mehrheits- oder Konsensabstimmung geklärt sein, wer abstimmen darf und wer nicht. Folglich beinhaltet Demokratie unabwendbar auch eine Einteilung in Innen und Außen. Diese wiederum erzwingt Gremien oder Mechanismen, die die Grenze zwischen Innen und Außen festlegen. Dieses kann nur dann der später als ,Innen’ geltende, d.h. abstimmungsberechtigte Kreis von Personen sein, wenn er schon vorher wiederum an anderer Stelle definiert wurde – allerdings dann zwingend ohne irgendeine Legitimation des erst mit dem Akt gebildeten Kollektivs.
  3. Kollektivbildung und kollektive Entscheidungsfindung erfordern die Bereithaltung von Durchsetzungsmitteln. Diese gewährleisten zum einen die Nichtbeteiligung der Personen, die als Außen definiert wurden. Zum anderen setzen sie die gemeinsamen Beschlüsse nach innen durch und definieren, wann eine zwangsweise Durchsetzung nötig ist und welche Mittel dabei eingesetzt werden. Dabei entstehen neue Privilegien und Methoden der Machtausübung, die in einer horizontalen Gesellschaft völlig verschwinden könnten. Bei der Auswahl der später mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Personen setzen sich Menschen durch, die über höhere Durchsetzungspotentiale verfügen (Alter, Geschlecht, rhetorische Fähigkeiten). Die Erlangung von Ämtern mit formalem Machtpotential verstärkt folglich ungleiche Handlungsmöglichkeiten zwischen Menschen statt Horizontalität und Gleichberechtigung zu fördern. Gremien mit Kontroll- und Regelungsfunktion werden oft mit dem Hinweis auf Faustrecht, eine gewaltbereite Natur des Menschen oder dem notwendigerweise entbrennenden Kampf um Ressourcen legitimiert. Diese Betrachtung überzeugt nicht, da gerade dann, wenn diese Grundannahmen als wahr eingestuft werden, die in abgehobene Gremien aufrückenden Menschen solche Orientierungen mittels ihrer dann bestehenden Privilegien verstärkt ausleben könnten.
  4. Die genannten zentralen Charakterzüge der Demokratie (handlungs- und entscheidungsfähige Einheit, Innen-Außen-Definition, Durchsetzung eines hergestellten Gesamtwillens – jeweils auch im Wandel der Anschauungen, Diskurse und der sie prägenden Eliten) sind in jedem Typus von Demokratie vorhanden. Die heute diskutierten Formen sind daher gegenüber der dominanten Variante der repräsentativen Demokratie nur Abweichungen im Detail. Zudem bieten sie – jeweils ohnehin nur im Detail - nicht nur zusätzliche Beteiligungsmöglichkeiten, sondern schaffen auch neue Gefahren. So verschärfen jene Reformvorschläge, die eine größere Mitwirkungskraft der Einzelnen im kollektiven Entscheidungsgang vorsehen, die Herausbildung der kollektiven Einheit und der notwendigen Grenzziehung zwischen dem Innen und Außen, indem sie über die ständige Einbindung der Einzelnen in den gemeinsamen Entscheidungsprozess das ,Wir’-Gefühl steigern und das klare, oppositionelle ,Nein’ unter Androhung des Ausschlusses aus dem ,Innen’ gestellt ist.
  5. Abstimmungen und Wahlen gehören in allen Formen der Demokratie zu den wichtigsten Elementen. Entsprechend sind die Abläufe stark ritualisiert und verregelt. Propagandistisch werden solche Ereignisse als besonders entscheidende Vorgänge in der Praxis von Gemeinschaft aufgeladen. Das zieht eine starke Fixierung auf diese zentralen Akte kollektiver Entscheidungsfindung nach sich, die eine fehlende Selbstorganisierung von Menschen verschleiern und horizontale Begegnung zum unwichtigen Nebenereignis abstempeln.
  6. Mit dem Bezug auf den Gesamtwillen als moralisch höherwertige Quelle von Handlungsnormen ist die Demokratie eine Weiterführung religiöser Orientierungen. Das Volk tritt an die Stelle des Gottes und wird nun als Ausgangspunkt des Guten und Machtvollen benannt. Wie beim Bezug auf Gottes Wort wird der Wille des Volkes bzw. das demokratisch Legitimierte als das Gute vom anderen, dem Bösen abgegrenzt. Das Böse kann bekämpft werden. Zudem erhielten und erhalten in religiösen Gemeinschaften einzelne Personen und Gremien eine große Machtfülle aus der Behauptung, im Namen des höheren Willens (Gott oder eine andere transzendente Quelle) zu sprechen. In gleicher Weise beziehen sich heutige Regierungen, VolksvertreterInnen, RichterInnen und andere auf das Volk als höheren Willen. In beiden Fällen steigert der Glaube an die höhere Instanz die Bereitschaft zur Unterwerfung bei denen, die nicht im Namen des Höheren auftreten.
  7. In ähnlicher Weise wie sich die Typen einer Demokratie nur im Detail unterscheiden, sind auch Monarchie, Diktatur und die Demokratie lediglich verschiedene Formen von Organisierung und Steuerung kollektiver Systeme bei weitreichender Übereinstimmung der wichtigsten Merkmale. So existieren Recht und Rechtsprechung, Polizei und Armeen, Eigentumssicherung und nationale Abgrenzung, Verwertungs- und Profitzwang in allen bestehenden Gesellschaftsformationen. Die Gewaltenteilung ist überall eine reine Fiktion und wird propagandistisch erzeugt. Zwar kann die Freizügigkeit für die einzelnen Menschen sehr unterschiedlich gestaltet sein. Das ist aber weniger davon abhängig, ob es sich um eine Demokratie, Monarchie oder Diktatur handelt, als vielmehr davon, welchen Grad autoritärer Zuspitzung das jeweilige System entwickelt. Der zentrale Unterschied zwischen den Systemen reduziert sich auf den Mechanismus, wie die Ausführenden der Herrschaft ausgewählt werden.
  8. Die konkreten Strukturen der bestehenden Demokratien in Staaten, Institutionen, Verbänden und sozialen Zusammenhängen weisen zudem stark oligarche Züge auf. Die Führungspositionen, seien sie durch formalisierte Vorgänge besetzt oder als herrschende Elite informell entstanden, können nicht gleichberechtigt von allen Menschen eingenommen werden. Mehrfach gestufte Verfahren bei der Auswahl von EntscheidungsträgerInnen machen direkte Mitsprache und horizontale Organisierungsmodelle unmöglich. In vielen Fällen sind Hierarchien und Stellvertretung sogar durch Gesetze vorgeschrieben, z.B. in Partei-, Vereins- und Wirtschaftsgesetzen. Demokratie ist daher im Wesentlichen eine Oligarchie, in der sich vor allem die Mechanismen der Auswahl Weniger geschichtlich gewandelt haben.
  9. Eine Alternative entsteht erst dann, wenn zentrale Steuerung, Kontrolle, Repräsentation und kollektive Einheit als solche in Frage gestellt werden. Angesichts der Fülle offener und versteckter Dominanzen in jeder kollektiven Entscheidungsstruktur kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur als offenes System entwickelt werden, in dem sich Menschen horizontal, ohne formale, feststehende Regeln oder anders verfestigte Privilegien begegnen. Eine solche Gesellschaft wäre eine Vielfalt, die schon deshalb nicht als Kollektiv handlungsfähig wäre, weil es keine Legitimation gäbe, im Namen des Ganzen aufzutreten und für alle zu sprechen.
  10. Der Weg zu einer solchen offenen und horizontalen Gesellschaft bestünde aus einer Vielzahl und Vielfalt von Experimenten, in denen auf kleinem Raum oder in sozialen Netzen, die Teil des offenen Ganzen wären, die Prinzipien von kollektiver Einheit, zentraler Steuerung und Privilegien abgeschafft würden. Bestandteil solcher Experimente sollte der horizontale Zugriff auf alles Wissen und alle Ressourcen sein, gleichzeitig aber sollte der Rahmen so offen sein, dass sehr unterschiedliche Versuche gleichzeitig gestartet werden können. Mit dieser Umsetzung visionärer, d.h. über heutige Handlungsformen hinausweisender Ideen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Ansätze durch ein konkretes Tun und Reflektieren der Erfahrungen muss eine widerständige Orientierung verbunden sein. Sie muss sich notwendigerweise gegen kollektive Identität, kollektive Handlungsweise und Stellvertretung, ebenso aber auch gegen jede zentrale Kontrolle und Steuerung richten. Widerstand und Vision, Praxis und Theorie verschmelzen so zu einer voranschreitenden Strategie gesellschaftlicher Intervention.


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