Martin Luther

MUTATIONEN EINER GEDICHTELESUNG
DIE (LÜGEN-)GESCHICHTE DES 9.12.2003

Beschwerden, Anzeigen, Einstellungen und neue Lügen


1. Intro: Einordnung des 9.12. und Bedeutung des Falles
2. Das Geschehen rund um den 9.12.
3. Beschwerden, Anzeigen, Einstellungen und neue Lügen
4. Fazit
5. Links

Pressemitteilung eines Betroffenen am 11.12.03
18 Stunden Gewahrsam wegen Gedichte-Lesung auf Gerichtsgelände
Für den 09.12.03 wurde im Internet eine offene Lesung auf dem Gerichtsgelände an der Ostanlage angekündigt. Gegen 22 Uhr fanden sich am Eingangsbereich der Staatsanwaltschaft - der hellste Punkt des Geländes, der für eine Lesung überhaupt geeignet war - 14 Personen ein. Bereits nach wenigen Minuten wurde die Veranstaltung von Zivilpolizisten angesprochen und den Anwesenden die Herausgabe der Personalien angeordnet. Da die Gruppe darauf vorerst nicht reagierte und mit der Lesung fort fuhr, forderte die Beamten in zivil Verstärkung an. In kurzer Zeit umstellten mehrere Einsatzfahrzeuge und eine Reihe Polizisten die Gruppe. Nach und nach wurden die Personalien aufgenommen und sämtliche Personen körperlich durchsucht. Gefährliche Gegenstände wurden dabei nicht gefunden.

Ein hochrangiger Polizeibeamter hatte gegenüber einem Betroffenen ausgesagt, dass alle Personen einen Platzerweis erteilt bekommen würden. Nach Abschluss der Personenkontrollen und Durchsuchungen kam es aber noch viel dicker: 12 Personen wurden für 18 Stunden in Gewahrsam genommen. Eine Begründung dafür gibt es bis heute nicht. "Es ist völlig unbegreiflich, was am Abhalten einer Lesung die öffentliche Sicherheit gefährden sollte. Die Polizei muss sich fragen lassen, ob sie hier nicht einfach mit allen Mitten Ansätze erdrücken will, die sich nicht in die Normalität einordnen wollen.", meint einer der Betroffen zu dem Vorgang. Während des Gewahrsams konnte nur aufgrund des massiven Drucks Telefongespräche oder Getränke durchgesetzt werden. Am Mittwoch gegen 17 Uhr wurden die 12 Personen wieder frei gelassen. Eine Begründung für den Gewahrsam liegt immer noch nicht vor.

"Polizei betreibt Rufmord"
In der Pressemittelung der Polizei heißt es dazu: "Am Dienstag, dem 09.12.03, gegen 22.15 Uhr, wurden 12 Aktivisten am Eingang des Gebäudes der Staatsanwaltschaft Gießen in der Marburger Straße angetroffen. Diese Gruppe hatte offensichtlich die Absicht, Farbschmierereien zu begehen, da entsprechende Utensilien mitgeführt wurden." Bei den Durchsuchungen wurde tatsächlich außer Zetteln mit Gedichten keine Gegenstände (Spraydosen, Farbe usw.) aufgefunden, die für solche Aktionen geeignet wären. "Wer sich im hellsten Bereich der Gerichtsgelände zu einer im Internet angekündigten Aktion versammelt, plant dabei sicher keine Farbanschläge. Das ist doch absurd." Meint Patrick Neuhaus, und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei: "Da die Polizei das selbst genau gewusst hat, kann man davon ausgehen, dass hier vorsätzlich mit Lügen gearbeitet wird, um überhaupt plausibel machen zu können, warum Anwesende einer Lesung für 18 Stunden der Freiheit beraubt werden." Da die Polizei verpflichtet ist, sämtliche Maßnahmen genau zu dokumentieren, sei überprüfbar, ob die Sicherstellungen von Sprühdosen oder Farbe erfunden oder wahr sei. Vor diesem Hintergrund seien kritische Nachfragen und eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Vorgängen erforderlich. "Vielleicht ist man nervös wegen dem Prozess am 15.12.03. gegen zwei Projektwerkstättler."

Presse lügt wie gedruckt ...
Bernd Altmeppen - Polizei-Reporter der Giessener Allgemeinen - wird sogar noch genauer als die Polizei: Farbe hätten die Leute dabei gehabt. Da weiß er mehr, als in den Akten steht - dort findet sich kein einziger Hinweis auf beschlagnahmte Gegenstände. So sieht unabhängiger Journalismus aus ... (Artikel in der Giessener Allgemeinen, 11.12., S. 23)
Gießener Allgemeine

Eine Beschwerde mit langer Bearbeitungszeit und überraschender Entgegnung - plötzlich waren Brandanschläge geplant
Wenige Tage nach dem unerwartet kurzen Gedichtelesung - um präzise zu sein am 12.12.2003 - legte ein Betroffener Beschwerde gegen die Maßnahme ein, welche bei der Polizei eingereicht wurde. Eine Reaktion lässt auf sich warten - ein halbes Jahr später: In einem Brief vom 27.05.2004 erklärt die Polizei ihre Aktion für rechtmäßig. Dabei wird zur allseitigen Überraschung eine ganz neue Geschichte erzählt: War einen Tag nach der Lesung noch davon die Rede, dass die TeilnehmerInnen der Lesung Farbattacken vorbereitet hätten, heisst es nun, mensch habe Utensilien für Brandanschläge mit sich geführt, die sogar noch Farbspuren von anderen Aktionen aufgewiesen haben sollen. Erwähnt wird ein Gefäß mit Farbanhaftungen, das nach Analysen des LKA mit Lösungsmittel gefüllt gewesen sein soll. Zudem werden etliche Vorverurteilungen und politische Verdächtigungen eingeführt (u.a. der Verweis auf einen Brandanschlag auf das für Gentechnik werbende Science Life Mobil, bei dem dieses völlig zerstört wurde). Warum das Gefäß erst ein halbes Jahr später benannt wird, ist völlig unklar.



Die Schilderungen der Polizei legen nahe, dass es sich bei dem Gefäß (falls keine nachträgliche Erfindung war!) um ein Utensil der Reinigungsfirma handelte, die mit der Säuberung der beschmierten Gebäude beauftragt wurde. Diese Einschätzung wird später von POK Broers bestätigt (siehe Punkt 4.).

Wenn den TeilnehmerInnen der Lesung die Planung eines Brandanschlages unterstellt wurde, ist unbegreiflich, warum keine Ermittlungen aufgenommen wurden. Geplante Brandstiftung ist ein schweres Delikt, bei dem ein öffentliches Interesse an der Aufklärung hinreichend gegeben ist. Warum wurden keine Fingerabdrücke bzw. ED-Behandlungen der in Gewahrsam genommen Personen durchgeführt? Damit hätte der Täterkreis eingeengt werden können. Warum hat keine der Betroffenen eine Vorladung zur Polizei bekommen? Warum gab es keine Hausdurchsuchungen, um nach vergleichbaren Lösungsmitteln zu suchen, die einen Verdacht hätten erhärten können? All das spricht dafür, dass der "geplante Brandanschlag" frei erfunden wurde, um die Maßnahme der Polizei unangreifbar zu machen.

Polizeidirektor Voss wiederholte den Vorwurf der Farbschmierereien noch deutlich später - im März 2004 - gegenüber Journalisten aus Berlin. Die Planung von Brandanschlägen oder ein Chemikalienbehälter erwähnt er an keiner Stelle. Es ist unglaubwürdig, dass nach vier Monaten Ermittlungen noch nicht das Gutachten des LKA vorlag. Viel wahrscheinlicher ist, dass auch die Polizei davon ausgegangen ist, dass der Behälter der Reinigungsfirma gehörte.

Festzuhalten bleibt: Nachdem die Polizei zwischenzeitlich selbst starker Kritik ausgesetzt war - verschiedene Gruppen aus Giessen legten im März 2004 eine Dokumentation über erfundene Straftaten und Hetze seitens Polizei, Presse und Politik vor - setzt sich die gängige Praxis fort, politische Gruppen durch Lügen zu diffamieren. Statt Fehler einzugestehen, werden abenteuerliche Stories erfunden, um fragwürdige Polizeiaktionen zu rechtfertigen und vor Kritik abzusichern.

Strafanzeige, Einstellungen und interessante Aktenvermerke
Am 10.6.2004 stellt einer der "Gedichte-Gewahrsamler" mit Bezug zum 9.12. Strafanzeige gegen die verantwortlichen Beamten: Werner Tuchbreiter (Pressestelle im Polizeipräsidium Giessen), Polizeipräsident Manfred Meise und der leitende Polizeidirektor Günther Voss. Angezeigt werden Politische Verdächtigung (§ 241a Strafgesetzbuch), Falsche Verdächtigung (§ 164), Beweismittelfälschung (§ 269) sowie Freiheitsberaubung (§ 239). In einem Schreiben vom 13.7.2004 wird dem Anzeigensteller durch Staatsanwalt Vaupel mitgeteilt, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.

Ein weiteres Schreiben vom 1.9.2004 verkündet die Einstellung des Verfahrens - bis auf den Vorwurf der Freiheitsberaubung, für den kurzzeitig ermittelt wurde, sei bei allen anderen Vorwürfen kein Anlass zu Ermittlungen gegeben. In dem Text wiederholt Vaupel die Geschichte, mit der bereits die Polizei ihre Maßnahme für rechtmäßig erklärt hatte: "Die Zusammensetzung der Personengruppe, ihr Gesamteindruck, die Flugblätter, die Farbanhaftungen an den Hosen und der Behälter ließen darauf schließen, dass die Personengruppe geplant hatte, in dieser Nacht erneut Farbe auf den Justizgebäuden anzubringen oder sogar einen Brandanschlag durchzuführen." Farbanhaftungen auf Hosen oder Behältern können Hinweise für alle möglichen Taten sein, aber unter Utensilien für Farbanschläge wird gemeinhin etwas anderes (Pinsel, Spraydosen, Farbeimer usw.) verstanden.

Vermerk von POK Broers zum 9.12.Vermerk von POK Broers zum 9.12.


Besonders interessant erscheinen diese Aussagen, wenn mensch sich einen Vermerk von POK Broers (Staatsschutz Giessen) aus der Ermittlungsakte vergegenwärtigt: "Eine Untersuchung des Gefäßes beim HLKA kam zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Eimer handelte, in dem eine Kunststoffflasche lag. Die angesprochenen Farbreste konnten beim HLKA nicht mehr festgestellt werden." Dieser Vermerk ist datiert auf den 21.7.2004 - Staatsanwalt Vaupel muss davon gewusst haben, wahrscheinlich ist sogar, dass dieser Vermerk selbst in Zusammenhang mit dem von Vaupel betreuten Ermittlungsverfahren erst entstanden ist. Wenn ja, hat Staatanwalt Vaupel gezielt falsche Verdächtigungen ausgesprochen, um die Einstellung zu begründen. Aber auch die Glaubwürdigkeit der Beamten vor Ort leidet stark unter diesem Vermerk: Es ist nicht erklärbar, wie Farbflecken auf einem Gefäß beim Transport zum LKA verschwinden sollen. Daher liegt nahe, dass die Farbspuren eine reine Erfindung seitens der Polizei darstellen, um auch nur einen stichhaltigen Grund angeben zu können, welcher den Unterbindungsgewahrsam rechtfertigen könnte.

Gegen die Einstellung wurde umgehend Beschwerde eingelegt. Auch der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht in Frankfurt, die sich mit der Beschwerde beschäftigen musste, fällt nichts Neues ein. Also erreicht den Anzeigensteller auch in diesem Fall ein knapp gehaltenes, auf den 5.11.2004 datiertes Einstellungsschreiben. Darin findet sich die schon von Staatsanwalt Vaupel vorgetragene Ansicht, dass Farbanhaftungen an Hosen und Gefäßen Utensilien darstellen, um Gerichtsgebäude zu bemalen. Den Staatsanwaltschaften ist zu Gute zu halten, dass sie höchstwahrscheinlich wenig praktische Erfahrung mit der Durchführung von Farbanschlägen haben dürften ...

Antrag auf gerichtliche Entscheidung
Am 10.12. wurde beim Oberlandesgericht in Frankfurt ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt - gibt ein Gericht diesem Mittel statt, ist die Staatsanwaltschaft gezwungen, Anklage zu erheben. Allerdings besteht dabei Rechtsanwaltszwang, d.h. Normalsterbliche können dieses Mittel nicht selber einlegen, wodurch bereits einige (auch finanzielle) Hürden gesetzt sind. In einem Beschluss des OLG vom 28.12.2004 wurde der Antrag aufgrund formaler Mängel als unzulässig verworfen. Damit hat es sich das Gericht sehr einfach gemacht - gleichzeitig markiert diese Entscheidung auch den Endpunkt dieses konkreten Verfahrensgangs. Den mit dem Fall konfrontierten Staatsanwaltschaften ist es also gelungen, Polizei und Presse davor zu schützen, öffentlich als LügnerInnen dargestellt zu werden

Wer sich einfahren lässt, soll auch zahlen
Nicht nur die Betroffenen des Sicherheitswahn starteten Papierschlachten - die Gegenseite wurde im Sommer 2004 von sich aus aktiv: Im August bekam eine der eingefahrenen Person den Aufenthalt im Gewahrsamstrakt der Ferniestraße 8 in Rechnung gestellt. Insgesamt soll die betroffene Person für den freundlichen Service 232,33 Euro berappen, 140,33 Euro davon kostet eine ärztliche Untersuchung auf "Gewahrsamsfähigkeit". Dagegen wurde Widerspruch eingelegt - bis heute gibt es keine amtliche Reaktion darauf ...

Gebührenbescheid

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