Martin Luther

ALTERNATIVEN ZU KNAST UND STRAFE

Auf dem Weg ...


1. Sinn und Unsinn von Strafe
2. Alles beenden, was Herrschaft und gewaltförmiges Verhalten fördert
3. Streit und Konflikte offensiv organisieren - Gewalt abbauen statt bestrafen
4. Herrschaftsfreie Gesellschaft
5. Auf dem Weg ...

Der Weg zu einer straffreien Gesellschaft ist lang. Ängste, dass ein Wandel von heute auf morgen zu einer Eskalation der Gewaltförmigkeit aufgrund der aktuellen Zurichtung von Menschen führen würde, könnten berechtigt sein, sind aber deswegen gegenstandslos, weil sich ein emanzipatorischer Prozess nie als einmalige, zeitbegrenzte gesellschaftliche Umwerfung vollzieht, sondern in einem ständigen, kreativen und unendlichen Prozess der Überwindung von Herrschaft und der Aneignung immer neuer Handlungsmöglichkeiten verläuft. Das bedeutet zwar das Aufgeben einer Vorstellung vom „entscheidenden Durchbruch“ zur herrschaftsfreien Utopie, gleichzeitig aber die Aussicht, im Hier und Jetzt beginnen zu können, ohne Zeit zu vergeuden im Warten auf eine imaginäre Revolution. Beschrieben werden sollen einige Ideen für Reformen innerhalb des herrschenden Systems, für den Aufbau von Freiräumen und für die langfristige Perspektive hin zu einer herrschaftsfreien Welt.

Konkrete Sofort-Forderungen
Ohne das gesamte Ziel in Frage zu stellen oder verschweigen zu müssen, können wichtige Detailveränderungen gesellschaftlicher Veränderungen erreicht werden. Reformen des Strafrechts sind genauso möglich wie andere Schritte zu weniger Zwängen und Reglementierungen.
  • Abschaffung aller Strafparagraphen, die keine Gewalttaten gegenüber Menschen beinhalten. Solche Paragraphen machen die überwältigende Mehrzahl im Strafgesetzbuch aus. Delikte an Sacheigentum oder Symbolen der Staatlichkeit, Drogenkonsum, rein verbale Angriffe und Störungen der öffentlichen Ordnung machen (je nach Zählweise) 74,7 bis 92,7 Prozent aller Strafparagraphen aus.13 Sie sind zu entkriminalisieren und von Strafe freizustellen. Als Zwischenschritt hin zu einer straffreien Gesellschaft können sie als Ordnungswidrigkeit oder mit anderen, integrativeren Formen der Sanktion geahndet werden. Knast oder dessen Androhung durch Vorstrafe und Bewährung müssen für diese Nicht-Gewalttaten sofort unterbleiben.
  • Sofortige Freilassung aller Menschen, die wegen nicht gewaltförmigen Straftaten verurteilt sind. Das ist nur konsequent in Anbetracht der erstgenannten Forderung.
  • Abschaffung des geschlossenen Vollzugs auch für alle Menschen, die zwar wegen Gewalttaten verurteilt sind, deren Gewalttaten sich von ihrer Logik her aber nicht wiederholen können. Hierzu gehören viele MörderInnen oder andere GewalttäterInnen, deren Tat aus einer einmaligen Situation heraus erklärbar sind, z.B. die Zwänge einer Ehe oder bedrückender Armut.
  • Sicherung eines individuellen Mindestauskommens materieller Art, um Gewalttaten aus Verarmung auszuschließen. Eine gute Sozialpolitik ist innerhalb des bestehenden Herrschaftssystems die beste Verhinderungspolitik von Gewalt- und Straftaten. Statt Geld für immer mehr Krisen-, Profit-, Eigentums- und Herrschaftsabsicherung auszugeben, sollte dieses bereitgestellt werden, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.
  • Beendigung aller staatlichen Gewaltmaßnahmen, d.h. ein Verbot von Krieg, Knüppel- und Gaseinsatz seitens der Polizei sowie jeglicher demütigenden Behandlung oder Haftbedingungen bei Polizei und Gefängnissen.
  • Aufklärung hinsichtlich der Entwicklungen bei Straftaten insgesamt und in Abhängigkeit von autoritärer Politik im speziellen. Die tatsächlichen Zahlen sollten regelmäßig veröffentlicht werden.

Diese genannten Punkte sind Sofort-Forderungen, d.h. sie sind keine Vollendung herrschafts- und straffreier Gesellschaftszustände. Sie zu verwirklichen, entbindet daher auch nicht von dem weitergehenden Ziel. Sie hier zu nennen, dient vor allem dem Beweis, dass sehr schnell Veränderungen möglich wären. Vielmehr verwirklichen sie das von Justiz, Politik und vielen anderen vorgegaukelte Ziel der Bestrafung viel besser als diese, nämlich ein friedliches Zusammenleben von Menschen zu sichern, widersprechen sie nicht. Sie entkriminalisieren solche Menschen, für die kein schlüssiger Grund genannt werden kann, warum sie zukünftig gewalttätig gegenüber anderen Menschen auftreten sollten.
Die genannten Sofort-Forderungen könnten von vielen Gruppen und Verbänden übernommen und politisch eingebracht werden, die z.B. liberale oder humanistische Positionen innerhalb der bestehenden Gesellschaft einnehmen.

Straf- und kontrollfreie Räume aufbauen, Intervention üben
Um Orte der Veränderung, aber auch des Experimentierens, Reflektierens und der Weiterentwicklung von Ideen zu schaffen, kann überall dort, wo Menschen ihr Zusammenleben selbst gestalten können, auf Strafe und kollektive Verregelung verzichtet werden. Gruppen, Räume und Veranstaltungen können befreit werden von Verhaltensnormen, während gleichzeitig direkte und soziale Intervention geübt und angewendet wird. Gegenüber der aktuellen Praxis, wo Verhalten kontrolliert, vermeintliches Fehlverhalten und Kritik an den jeweiligen Herrschaftsstrukturen sanktioniert wird bis zum Rausschmiss aus den jeweiligen Treffen oder Organisationen, würde ein Verzicht auf Regeln, Normen und Strafe eine grundlegende Veränderung bedeuten. Allerdings müssen Verzicht auf Normierungen und Einheitlichkeit sowie die Stärkung der direkten Intervention miteinander kombiniert sein, sonst würde sich Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt, Diskriminierung und Mackerigkeit ausbreiten. Es könnte dann gegenüber den aktuellen, verregelten Systemen vorübergehend sogar einen Rückschritt geben, wenn Menschen wegen fehlender Aufmerksamkeit des Umfelds gehäuft auch physisch in ihrer Selbstbestimmung gebrochen werden.
Denkbar sind schon jetzt viele straf- und kontrollfreie Räume. Im direkten Lebensumfeld kann der Start schnell gelingen, betreffen dort doch sehr stark den eigenen Alltag. Politische oder soziale Gruppen und Zusammenhänge, die bereits über herrschaftsfreie Organisierung diskutieren, würden sich als Orte der Praxis anbieten, da die Sensibilisierung als Voraussetzung für direkte Intervention bei ihnen bereits Anfänge gefunden hat. Die Eliten politischer Gruppen könnten anfangs das größte Hindernis in dieser Entwicklung sein, denn sie müssten auf ihre Privilegien und besonderen Durchsetzungsmittel verzichten, die sie auch nutzten, um missliebige KritikerInnen aus Verbänden, autonomen Zentren usw. zu entfernen. „Linke“ Organisierung hat noch viele Ähnlichkeiten mit staatlichen Strukturen und braucht daher ebenso wie diese eine Gegenorganisierung: Freikämpfen von Räumen ohne Kontrolle, Ende von Reglementierung und Sanktionierung abweichenden Verhaltens und die Organisierung horizontaler Prozesse, des Streitens und der direkten Intervention.

Und weiter ...
Mit der herrschaftsfreien Utopie vor Augen wird sich niemand mehr mit Teillösungen zufrieden geben. Wenn erst deutlich wird, dass die Abwicklung von Herrschaft viele Probleme löst und nicht der Aufbau von neuen Institutionen oder die Schaffung von Recht und Kontrolle, wird das Verlangen wachsen, diesen Prozess immer weiter voranzutreiben. Zudem werden der kritische Blick geschärft und immer neue Dominanzlogiken entdeckt. Kommunikativ, durch konkrete Aktionen und durch den Aufbau von Projekten, in denen Herrschaftsfreiheit angestrebt und entwickelt wird, bewegt sich der Prozess der Emanzipation immer weiter fort. Einen Abschluss wird es dabei nie geben, jede neue Situation ist nicht nur Befreiung im Detail, sondern wiederum Ausgangspunkt für genaueres Hinsehen, neue Analysen, Reflexion und den Willen, noch mehr rauszuholen in Richtung der Befreiung des Menschen und seiner Selbstentfaltung.

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