Martin Luther

FINAL COUNTDOWN AM 14.5.2006

Episode IV: Nazi-Rechtsanwendung und das Glück des Koch-Rücktritts


1. Justiz, Innenpolitik und Polizei faken Anschlag und lassen Kritiker verschwinden
2. Episode I: Viele Jahre Aktionen und zwei farbige Vorspiele
3. Episode II: Die Federballnacht des 14.5.2006
4. Episode III: Kriminalalltag im Märchenland
5. Episode IV: Nazi-Rechtsanwendung und das Glück des Koch-Rücktritts
6. Was bleibt?

Denn Anfang machte das Bundesverfassungsgericht. Es urteilte am 30.4.2007 in dem Verfahren, welches eigentlich gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Es lag schon einige Zeit zurück, wurde aber als Provokation genutzt, um zu einer heftigen Straftat zu motivieren. Drei Tage nach der Federballnacht hatte sich das Verfassungsgericht schon eingeschaltet und untersagte die Strafverbüßung, bevor sie entscheiden würden. Jetzt hoben sie die Haftstrafe ganz auf. Das Gießener Land-gericht musste die Sache neu verhandeln und entscheiden. Vielleicht hätte es das auch gemacht, aber der weitere Verlauf der Dinge veränderte alles, so dass am Ende kaum etwas übrig blieb. Der ganze Aufriss – für nichts.

OLG-Beschluss: Nazi-Methoden bei Polizei und Justiz
Der nächste Schlag was dann der Beschluss des Oberlandesgerichts zur Frage der Rechtsmäßigkeit meines Gewahrsams. Der 20. Zivilsenat haute den Gießener Richtis ihren Unsinn sehr, sehr deutlich um die Ohren. Im OLG hatte mensch nämlich mal auf die Zeiten geschaut und gemerkt: Das geht gar nicht.


Wie konnten die Richtis trotzdem den Gewahrsam anordnen? Das OLG fand keine schlüssige Erklärung.


Dann wurde das OLG noch schärfer und verglich die Vorgehensweise in Gießen mit der Rechtsprechung im Dritten Reich.


Das war klare Kante. Seit diesem Zeitpunkt dürfte es gegenüber Angehörigen der Polizei und Justiz in Mittelhessen keine Beleidigung mehr sein, wenn mensch ihnen vorhält, Angehörige einer Truppe zu sein, die mit Nazimethoden arbeitet. Es ist schlicht obergerichtlich bescheinigt.
In all dem ging unter, dass die Richtis noch einen Wink mit dem Zaunpfahl anfügten. Offenbar war ihnen klar: Hier sind auch dienst- und strafrechtliche Konsequenzen überschritten worden.

Doch in der Staatsanwaltschaft rührte sich weiter niemensch. Keine Ermittlungen wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, falscher Verdächtigung, Verfolgung Unschuldiger. Die Liste der offensichtlichen Straftaten in Robe und Uniform war lang, die Strafanzeigen waren gestellt, aber es geschah nichts. Bis der Fall die ersten Medien doch zu interessieren begann.
Das aber dauerte immer noch Monate. Auf Seiten von Polizei und Justiz herrschte blanke Angst. Jederzeit könnte der Skandal öffentlich werden – und dann? Die Folge war ein 180-Grad-Wende im Umgang mit den Aktivistis aus der Projektwerkstatt. Sie waren unberührbar geworden: Kein Prozess mehr, wo sie ihre beißenden Anträge stellen und das Geschehen vom 14.5.2006 genüsslich aufrollen konnten – als Beweis, dass die Gießener Polizei sich Straftaten ausdenkt. Keine ständigen Polizeikontrollen, keine Hausdurchsuchungen, keine Schikanen bei Demonstrationen mehr. Aus der Stadt der wilden Auseinandersetzungen und ständigen Polizeiaktionen wurde eine liberale Zone für politisch Aktive. Wäre da nicht die Feldbefreiung vom 2. Juni 2006 und der daraus resultierende Gerichtsprozess über alle Instanzen gewesen – wahrscheinlich hätten Gerichte und Projektwerkstatts-Aktive sich irgendwann vergessen. Letztere hatten sich nach dem gescheiterten Versuch, den spektakulären OLG-Beschluss in die Medien zu bringen, damit abgefunden, dass aus der Federballnacht wohl kein Aufreger mehr hinzukriegen war. Denn auch diesmal war das Ereignis kaum erwähnt worden. Zwar liefen die Anzeigen weiter, wurden eingestellt und aufgrund von Beschwerden wieder aufgenommen. Aber alles deutete eher auf eine endlose Verzögerungstaktik hin.
Immerhin: Eine Sache änderte sich mit der plötzlichen Zurückhaltung der Polizei – und das hatte einige unerwartete Folgen. Der Hauptbetroffene, der die absurden Abläufe zu einer rasanten Ton-Bilder-Schau namens „Fiese Tricks von Polizei und Justiz“ zusammengestellt hatte (inzwischen mehrfach als Mitschnitt auf Youtube zu finden), konnte an Orten auftreten, wo bisher Hausverbote galten. Die blieben zwar, aber die Polizei fand stets Ausreden, warum gerade keine Kräfte verfügbar waren, dieses auch durchzusetzen. So lief die Schau an der Uni Gießen und erreichte Interessierte, die die Abläufe bislang nicht kannten. Im Spätsommer 2007 besuchte dann der Polizeireporter des Gießener Anzeigers, als Vorstandsmitglied von Pro Polizei Gießen alles andere als neutral, diesen Vortrag in Lich. Die Fassungslosigkeit angesichts der auf der Leinwand dargebotenen Belege war ihm deutlich anzusehen. Aufgeregt rief er die Staatsanwaltschaft Gießen an, um zu fragen, wie die mit den Vorfällen umgehen würden – und löste damit eine bemerkenswerte Reaktion aus: Die Anklagebehörde erklärte sich für befangen. Das stimmte zwar, aber in der Regel geben das Repressionsbehörden selten zu. Die Generalstaatsanwaltschaft vergab das Verfahren daraufhin an die Staatsanwaltschaft Wiesbaden, die nun hätte ermitteln müssen. Stattdessen stellte sie ein Verfahren nach dem anderen ein, unter anderem das gegen Innenminister Volker Bouffier. Für die Betroffenen schien es so, als würden die Robenträgis auch in der Landeshauptstadt gar nicht richtig hingucken und einfach die Herrschenden schützen – wie üblich also. Gegen die Einstellungen waren Beschwerden möglich, das Ganze kletterte durch die Instanzen und landete schließlich wieder vor dem Oberlandesgericht Frankfurt, diesmal aber vor Strafsenaten, die allesamt und zu Recht als sehr konservativ bis rechtslastig galten. Von dort wurden die Einstellungen erwartungsgemäß abgesegnet, selbst für Richter Gotthardt, der mit seinem Spruch „Nicht sagen!“ deutlich dokumentierte, absichtlich rechtswidrig gehandelt zu haben, stellten die OLG-Richtis fest, es fehle „jeder tatsachenbegründete Vortrag, dass der Richter bewusst und gewollt bei bestehender Kenntnis der Unschuld des Antragstellers gleichwohl wider besseren Wissens vorsätzlich die Ingewahrsamnahme angeordnet hätte“. Eine solche Justiz dient nicht der Wahrheitsfindung, sondern dem Schutz der Eliten und ihrer Vollstreckis, gleichzeitig der Verfolgung unerwünschter Personen und Meinungen. Dennoch hatte das Verfahren sein Gutes, denn jetzt, auf Gerichtsebene, bestand Akteneinsichtsrecht. Und die überraschte. Denn anders als erwartet, hatte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden doch Ermittlungen in Auftrag gegeben – und zwar sehr genaue. Das Landeskriminalamt rekonstruierte die gesamten Abläufe des 14.5.2006 mit Hilfe der Akten, etlichen Vernehmungen und der Festplatten aus dem Polizeipräsidium minutiös. Was sie dann vorlegten, war eine Dokumentation polizeilichen Fachwissens. Und ihre strafrechtlichen Bewertungen waren eindeutig. Sie hielten die bisherigen Strafanzeigen des Betroffenen für viel zu zurückhaltend, weitere Straftaten und etliche Verdächtige mehr kämen in Frage.

Politische Justiz: Eine Einstellungssache
Es war dieses LKA-Gutachten, welches die Staatsanwaltschaft Wiesbaden dazu brachte, schnell alle Verfahren einzustellen. Prägend war also nicht der Unwille zu Ermittlungen, sondern die genaue Kenntnis, was die Ermittlungsergebnisse nach sich ziehen würden, wenn Verfahren aufgemacht würden. Selbst wenn diese auf Einzelpersonen beschränkt würden, wäre die Gefahr groß, dass die dann Angeklagten auf Anweisungen Anderer verweisen würden, die ganze Sache Stück für Stück immer höhere Ränge erreichen und am Ende den Innenminister seinen Job kosten würde. Das wäre zwar juristisch korrekt, aber durfte politisch nicht sein – deshalb die Einstellungen.
Trotzdem war interessant, was die LKAlis alles noch zusätzlich herausfanden. Erst durch sie wurde bekannt, wer am Tag nach der zweiten Attacke auf die Bouffiersche Anwaltskanzlei in Wiesbaden zusammenhockte und den Plan entwarf. Mehrere Belege sammelten sie dafür, dass die Verhaftung das Ziel war und eine Straftat unbedingt stattfinden sollte. Politische brisant hätte die Information sein können, dass nur Stunden nach der absurden Verhaftung der Polizeipräsident von Mittelhessen den Innenminister in seinem Wohnhaus besuchte – am Sonntag früh! Offiziell heißt es bis heute, dass Bouffier an der ganzen Sache nicht beteiligt war. Nüchtern listet das LKA zudem etliche Lügen auf, darunter die Sache mit der Sprühschablone „AV GCE“ und den Latexhandschuhen. Natürlich wusste die Polizei schon in der Nacht, wer das gewesen war – aber die Straftat sollte ja den Federballspielis untergeschoben werden. Mehrere logische Überlegungen zu Widersprüchen überzeugen ebenfalls auf An-hieb, z.B. warum um 2.45 Uhr, als ein Streifenwagen die Federballspielis auf dem Rückweg beobachtete, diese nicht festgenommen wurden. Die später konstruierten Straftaten bei CDU und Bouffiers Haus wären da schon vorbei gewesen.
Aber: Es sollte keine Anklage geben. Staatsanwaltschaften gehören zur Exekutive und sind den Regierungen weisungsgebunden. Ohne sie gibt es keine Strafverfahren, daher sind sie praktisch eine Schutzbehörde für die kriminellen Machenschaften der Herrschenden.

Manchmal helfen nur Zufälle: Das Buch „Ausgekocht“ und der Rücktritt von Roland Koch
So musste der Zufall helfen, um das Thema doch noch in die Öffentlichkeit zu bringen – und nur ein noch größerer PR-GAU verdrängte den Skandal dann wieder, bevor er sich richtig entfaltete. Im Sommer 2010 erklärte der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch, dass er zurücktreten wolle. Das kam überraschend, vor allem für zwei wichtige Politikredakteure der Frankfurter Rundschau (FR), die gerade ein Buch über den skandalumwitterten Rechtsaußen der CDU verfasst hatten. Selbst der Titel „Ausgekocht“ fixierte deutlich auf seine Person. Dumm gelaufen also – ein Buch für die Tonne. Dann entschied sich die CDU für Volker Bouffier als Nachfolger und die FRler überlegten eine neue Variante: Das Buch müsse, um nicht ganz umsonst geschrieben worden zu sein, ein Buch über Koch und Bouffier werden. Aber dann braucht es Stories über Bouffier, am besten eine noch unveröffentlichte …
Der Rest lässt sich ausmalen. Das Buch erschienen und die Federballaffäre füllte Seite um Seite in der FR, war immer wieder Beispielvortrag in Lesungen der Autoren usw. Das allein beeindruckte die Regierung noch nicht, aber die SPD als Oppositionspartei stellte im Innenausschuss eine Nachfrage. Die CDU, arrogant wie eh und je, beantwortete die erstmal nicht. Das wiederum brachte die SPD auf die Palme – und so eskalierte die Angelegenheit ganz langsam immer weiter, wie sie kurz vor einem Untersuchungsausschuss stand. Die SPD suchte nach einem Thema, den frischgebackenen neuen Ministerpräsidenten gleich unter Druck zu setzen. Wahrscheinlich wäre es dazu gekommen, wenn nicht kurz danach die NSU aufflog und Bouffier mit dem von ihm gedeckten, wahrscheinlichen Mörder im Verfassungsschutzdienst ein noch größeres Problem hatte – und die SPD damit den gewünschten Untersuchungsausschuss mit einem anderen Thema berief.
Was noch zu lernen war: Grundrechte gelten für Anarchisten nicht – so jedenfalls der CDU-Fraktionsgeschäftsführer in einem Interview zur Sache. Der Linken-Landeschef wetterte auf einer Veranstaltung mehr gegen den Betroffenen als gegen den Scharfmacher Bouffier. Und die Grünen interessierte alles gar nicht. Parlamente eignen sich nicht zur Aufarbeitung von Skandalen, die mehr als Einzelpersonen betreffen, sondern ein Schlaglicht auf die Verhältnisse im Ganzen werfen.

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