Welt ohne Strafe

WELCHEN SINN MACHT STRAFE?

Einleitung


1. Einleitung
2. Welchen Sinn macht Strafe?
3. Wem dienen die Strafgesetze?
4. Strafe und Soziales
5. Schöner Schein: Behaupteten und verborgene Motive des Strafens
6. Satire: Vorschlag für ein ehrliches Strafgesetzbuch ...
7. Strafe überwinden!
8. Doch trotzdem heißt es überall: Mehr Strafe!
9. Kritisches zu Strafe
10. Verlautbarungen gegen Strafe und Knast
11. Religiöser Fundamentalismus und Strafe
12. Links und Materialien

Dies ist die Eingangsseite zur Kritik an Strafe sowie Alternativen (Kurzlink: www.welt-ohne-strafe.siehe.website, ehemals "www.welt-ohne-strafe.tk" und "www.welt-ohne-strafe.de.vu"). Die Unterkapitel sind über die Links hier über dem Text, weitere Seiten zu Gefängnissen, Zielen und Folgen des Strafens sowie Alternativen über das Menü oben unter Antirepression --> Gegen Knast und Strafe zu erreichen. ++ Gesamtübersicht "Antirepression"

Die Studie ist überraschend und kommt aus berufenem Munde. Überraschend ist sie nicht vom Inhalt her, sondern dass das zu Erwartende offiziell bestätigt wird. Berufener Mund deshalb, weil Auftraggeber das Bundesjustizministerium ist und es sehr glaubwürdig klingt, wenn die Bundesregierung selbst zu ihren eigenen Strategien sagt: Das ist alles Unsinn - Strafe und Knast machen alles schlimmer!
Anfang 2004 veröffentlichte das Justizministerium eine "Rückfallstatistik" zur Wirkung von Strafe. Das spannende Ergebnis hört sich so an: "Die zu einer freiheitsentziehenden Sanktion Verurteilten weisen ein höheres Rückfallrisiko auf als die mit milderen Sanktionen Belegten." Also - je härter die Strafe, desto sicherer die Kriminalisierung durch selbige. Das ist nicht überraschend, sondern deckt sich mit allen Beobachtungen zu Autorität: Je autoritärer die Erziehung, desto gewaltförmiger in der Tendenz der Umgang der so Erzogenen mit ihren Mitmenschen. Je autoritärer das persönliche Umfeld, desto gewaltförmiger der Umgang der Menschen untereinander (z.B. im Knast). Je autoritärer ein Staat, umso mehr Gewalt zwischen den Menschen in ihm - jeweils in der Tendenz. Die Forderung nach Abschaffung von Knästen, Justiz und Polizei ergibt sich schon aus diesen Überlegungen. Mehrere weitere kommen hinzu:
  • Die Existenz von Repressionsstrukturen ist selbst immer auch Ursache für den Wunsch nach Einsatz derselben zu bestimmten Zwecken. Herrschaft und Herrschaftsausübung folgen unmittelbar aus der Möglichkeit dazu. Wenn ich die Waffe in der Hand habe (oder eine Polizei durch entsprechende Gesetze zum Handeln veranlassen kann), steigt meine Neigung, mich mit meinen Mitmenschen nicht mehr zu einigen, sondern sie zu zwingen.
  • Fast alle Gewalttaten zwischen Menschen haben spezifische Gründe, die nicht wiederkehren. Wer einen anderen Menschen aus Rache, angestautem Ärger oder Neid umbringt oder verletzt, wird das nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder tun wie andere Menschen auch. Das macht die Tat nicht besser, es zeigt aber, dass Strafe der Genugtuung Dritter dient, aber nicht zu Veränderung von Verhalten führt. Ganz im Gegenteil: Die asozialisierten Verhältnisse im Knast können bewirken, was ohne den Knast nicht passieren würde - die Fortsetzung von gewaltförmigem Verhalten.
  • Viele Gewalttaten haben eine Vorphase, z.B. sexueller Missbrauch in Form von verbalen Übergriffen oder Drohungen, Schläge bis hin zum Mord in Form von massivem Streit. Wenn hier das soziale Umfeld nicht weggucken würde ("Darüber redet man nicht" über "das geht Dich nichts an" bis zu "das beschmutzt die Ehre unserer Familie"), sondern intervenieren und die VerursacherInnen zur Rede stellt, würden die meisten Eskalationen hin zu Gewalttaten gar nicht mehr stattfinden. Strafe dagegen greift erst ein, wenn es zu spät ist.
  • Die weitaus meisten Straftaten, Häftlinge und auch Paragraphen im Strafgesetzbuch haben mit Gewalt zwischen Menschen aber gar nichts zu tun. Es sind Handlungen mit wirtschaftlichem Hintergrund oder Ungehorsam bzw. Sabotage gegen den Staat. Erstere sind bei genauerer Betrachtung fast immer Umverteilungen von Oben nach Unten, d.h. Menschen holen sich etwas, wo es mehr davon gibt - oftmals sogar, ohne dadurch andere Menschen zu schädigen. Wer jemand anders das Fahrrad klaut, schädigt die andere Person. Wer aber kein Handy hat und Karstadt, T-Punkt oder Vodafone bieten Tausende an, so ist das Wegnehmen von einem Umverteilung. Aus Profitinteressen ist das unter Strafe gestellt. Mit dem zweiten großen Block im Strafgesetzbuch schützt sich der Staat selbst - mensch darf seine Hymne und Fahne nicht verunglimpfen oder PolizistInnen nicht beleidigen. Und etliches mehr.
  • Zu alledem gibt es verbotene Dinge, die niemanden stören - nur der Staat will eine bestimmte Ordnung aufrechterhalten. Drogenkonsum, Parties auf der leeren Straße, Schwarzfahren, bunte Graffitis an grauen Behördenwänden, Scheißen auf die Deutschlandfahne und vieles mehr gehören dazu.

Strafe und Repression angreifen
Strafe dient nie den Menschen, sondern der Aufrechterhaltung einer Ordnung, die durch Interessen geleitet wird - den Interessen derer, die gerade bestimmen, was geschehen soll. Wer Politik gegen Herrschaft machen will, greift an dieser Stelle etwas sehr Symbolisches an, etwas was den Kern von Machtausübung betrifft. Deutschland ohne Nazis oder ohne Castor - das ist denkbar. Deutschland ohne Justiz und Polizei aber kaum. Ein Grund mehr, Repression grundsätzlich in Frage zu stellen und damit Visionen einer Gesellschaft jenseits von Staaten, Erziehung und Strafe überall ins Gespräch zu bringen. Das kann über den direkten Angriff auf Repression, Kontrolle und Strafe erfolgen (von Störung, Theater, Graffiti bis Militanz). Zudem ist jede Situation, in der Repression auftritt, eine Chance, selbige zu thematisieren, also Kontrollen, Verhaftungen oder Gerichtsprozesse in eine Aktion zu wenden.

Internet

Beratung und Hilfe:
KoBRA, Koordination und Beratung zu Repressionsschutz und zu kreativer Antirepression, Tel. 06401/903283, Info- und Kontaktformulare

Obiger Text stammt aus der "Zeitung für stürmische Tage"
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Lesestoff
  • Direct-Action-Heftchen "Kreative Antirepression" und "Knast". Tipps für kreative Aktionen. Je 16 S., A5, 1 Euro.
  • Dokumentationen zu Polizei- und Justizerfindungen, Hausdurchsuchungen und mehr im Raum Gießen. 50 S., A4, 6 Euro.
  • Tatort Gutfleischstraße. Die fiesen Tricks von Polizei und Justiz - das entlarvende, spannend-witzige Buch zu den miesen Nummern in Robe und Uniform. Mehr ...

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Zitate zu Zielen von Bestrafung
Im Original: Das "Norm"ale als Maßstab kreiieren
Aus der Studie von Rainer Danzinger u.a. (1977), "Der Weg ins Gefängnis", Beltz Verlag in Weinheim (S. 1ff)
Viele Behörden, die mit Kriminalität umgehen, wie Gerichte, Gefängnisse, Bewährungshilfe oder Fürsorge, ziehen vermehrt psychiatrische Unterstützung heran. In Österreich wurde dieser Trend durch Bestimmungen für geistig abnorme Rechtsbrecher und für besonders behandlungsbedürftige Strafgefangene auch im Strafgesetz und im Strafvollzugsanpassungsgesetz fixiert. Im Rahmen dieser Entwicklung betreuen wir seit vier Jahren, neben unserer Tätigkeit an der Universitäts Nervenklinik Graz, als Psychiater die Männerstrafvollzugsanstalt Graz. Am Beginn dieser Arbeit im Strafvollzug stand das Bedürfnis, Bedeutung und Funktion psychotherapeutischer Tätigkeit und psychiatrischer Theorien im Umgang mit Kriminalität näher zu bestimmen. Nach einer ersten Orientierung entstand der Plan, durch eine eigene Untersuchung die lokale Situation von Kriminalität und Strafvollzug zu erfassen, um die Ergebnisse anderer Untersuchungen transkulturell zu prüfen und damit eine Basis für weitere sinnvolle Arbeit zu schaffen, Im Laufe unserer Tätigkeit als Psychiater im Strafvollzug gerieten wir praktisch und theoretisch in eine zwiespältige Situation. Beim ersten Kontakt mit Häftlingen und Wachebeamten versuchten wir zunächst noch ein medizinisches Denkmodell auf die Verhältnisse anzuwenden. Wir stellten uns vor, daß es sich in erster Linie um die Resozialisation von Menschen mit gestörten Verhaltensweisen handle, analog der Korrektur einer Krankheit durch therapeutische Eingriffe. Die Anwendung psychiatrischer Methoden auf diesen wichtigen Bereich gesellschaftlicher Auseinandersetzung schien schon aus dem Wunsch nach effizienterer und humanerer Gestaltung des Strafvollzugs und aus der Einsicht in die psychische Bedingtheit vieler Verhaltensstörungen genügend gerechtfertigt. Nach etwas längerer Beschäftigung mit der Problematik mußten wir allerdings erkennen, daß man viele Phänomene ganz einfach zu legitimen Gegenständen psychiatrischer Bemühung macht, indem man sie mit psychiatrischen Diagnosen belegt. Mit diesem Verfahren dringt die Psychiatrie in immer neue Bereiche ein. Institutionen, welche für die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung zuständig sind, bereichern dabei ihr Instrumentarium sozialer Kontrolle um die zeitgemäßen psychiatrischen Argumente und Technologien. Der Psychiater selbst freut sich über die Erweiterungen seiner Be-rufsmöglichkeiten und erkennt oft nur verschwommen die vielfältigen Erwartungen, die an ihn herangetragen werden. Auch im Strafvollzug w., das Anliegen an die Psychiatrie anscheinend nicht mit dem Wunsch nach Verbesserungen in der Resozialisation erschöpft. Das Spiel von Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung erfüllt nämlich noch viele andere Funktionen, die weit über eine effiziente Spezialprävention hinausgehen. Die neu herbeigerufenen psychiatrischen Spezialisten neigen manchmal dazu, zu übersehen, daß sie mit ihren Aktivitäten sogar in Widerspruch zu diesen für die herrschende Gesellschaftsordnung und die Eigeninteressen einzelner Gruppen wichtigen Funktionen geraten. Gerade den Psychiatern, Psychologen und Sozialarbeitern wird oft der Slick auf diese Funktionen durch ihr therapeutisches Denkmodell verstellt. Gelegentlich vergessen sie sogar, daß durch das Einsperren von Verbrechern demonstriert wird, wohin es führt, wenn sich einer den vorgeschriebenen Zwängen regelmäßiger Arbeit zu entziehen versucht. Diese generalpräventive Funktion des Strafrechtes hat gewiß zahlreiche, kaum überschaubare Aspekte. Beispielsweise wird bekanntlich in den untersten Bevölkerungsschichten, wo die Freiheit ohnedies durch harte Arbeitsbedingungen stark beschränkt ist, am schärfsten mit Freiheitsstrafen sanktioniert. Die Unfähigkeit des Kriminellen, die geforderten Spielregeln einzuhalten, wird als persönliches Versagen hingestellt, /voraus sich andeutungsweise der Schluß ergibt, daß der oft ungewöhnliche Erfolg in höchsten Gesellschaftsschichten auf persönliche Verdienste rückführbar sei.
Die Bestrafung befriedigt angeblich auch Strafbedürfnisse beim Publikum. [Durch das Zeremoniell der Bestrafung werde es dem rechtschaffenen Bürger leichter gemacht, sein seelisches Gleichgewicht beizubehalten. Einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur des Durchschnittsbürgers korrespondiere dabei ein bestimmter Stil der Strafverfolgung und des Strafvollzuges. Veränderungen im Umgang mit den Verbrechern würden also einem neuen Persönlichkeitstyp, den die hochentwickelte komplizierte Industrie benötigt, entsprechen. Vielleicht könnte der differenzierte Umgang mit den Straftätern durch Bewährungshilfe, Behandlungsvollzug etc. einem differenzierteren Umgang des Normalen mit seinen eigenen verbotenen Wünschen entsprechen. Meist aber ist der Zusammenhang wirtschaftlicher und sozialer Institutionen mit dem Strafvollzug auch, viel direkter.
Schließlich haben auch Richter, Justizwachebeamte, Psychiater und Psychologen, die direkt von der Arbeit mit Kriminellen leben, Eigeninteressen an der Gestaltung von Strafverfolgung und Strafvollzug. Sie und die zugehörigen bürokratischen Apparate üben einen gewissen Einfluß auf die Entwicklung der strafenden Institutionen aus.
Je länger wir unseren Zwiespalt bei der Arbeit im Strafvollzug spürten, desto deutlicher wurde uns, daß er nicht in uns selbst, sondern in den widersprüchlichen Interessen der in das ganze Spiel verwickelten Personengruppen lag. Die Interessen der Häftlinge, die Interessen des Justizministeriums und der Justizwachebeamten, die Interessen der Gerichte, die öffentliche Meinung und viele andere Interessen paßten nicht so recht zusammen.


Demnächst auch digital
Aus Stefan Aust/Thomas Ammann, „Digitale Diktatur“ (2014, Econ bei Ullstein, S. 335f)
Was "unnormal" oder "verdächtig" ist, setzt ein von irgendwelchen Programmierern entwickelter Algorithmus fest. Abweichungen werden den Sicherheitsbehörden gemeldet wenn die sie nicht schon in Echtzeit selbst entdeckt haben.

Nicht nur das Bundesverfassungsgericht hat als Sinn von Strafe die Werbung für die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung definiert. Diese Überlegung findet sich an vielen Stellen in der Literatur.

Im Original: Akzeptanz der Ordnung
Aus Hardt, M./Negri, A, 2002: Empire. Campus Verlag Frankfurt (S. 38)
Damit diese Gesellschaft funktioniert und ihre Regeln und Mechanismen des Ein- und Ausschlusses befolgt werden, bedarf es Institutionen der Disziplinierung, wie etwa Gefängnis, Fabrik, Heim, Klinik, Universität, Schule und so weiter. ... Disziplinarmacht herrscht tatsächlich, indem die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens und des Handelns geregelt sind und normales und/oder abweichendes Verhalten sanktioniert und vorgeschrieben ist.

Aus der Süddeutschen Zeitung am 1.12.2010 (S. 1) zum Urteil des BVerfG 2 BvR 2101/09)
Der Rechtsstaat könne sich aber nur verwirklichen, "wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden", befand die 1. Kammer des Zweiten Senats.

Bossi, Rolf (2006): „Halbgötter in Schwarz“, Goldmann in München (S. 137 ff.)
Unsere Strafrechtsordnung geht nach wie vor von einem Anspruch sowohl des einzelnen Opfers als auch der gesamten Gesellschaft auf Vergeltung und Sühne für jede begangene Straftat aus. Der Grundgedanke aller so genannten "absoluten Straftheorien" ist folgender: jede Straftat, jedes Verbrechen stört die Rechtsordnung, ja eigentlich sogar die sittliche oder - den entsprechenden Glauben vorausgesetzt - die göttliche Ordnung. Und diese Störung lässt sich nur durch einen gerechten Schuldausgleich, eben eine angemessene Strafe beseitigen. Positiv formuliert: Nur die Strafe vermag den Rechtsfrieden wiederherzustellen. ...
Doch der moderne, aufgeklärte Mensch neigt zu einem gewissen Relativismus in moralischen Fragen. Ethischer Rigorismus kommt uns seltsam fremd und gestrig vor. Wohler fühlen wir uns deshalb, wenn die Verhängung von Strafen auch einen praktischen, möglichst sogar einen statistisch nachweisbaren Nutzen hat: wenn sie die Zahl der Straftaten verringert oder aus Straftätern gesetzestreue Bürger macht. Was in der Theorie gut klingt, funktioniert aber in der Praxis so gut wie überhaupt nicht. Weshalb denn auch der absolute Sühneanspruch am Ende die einzig tragfähige Begründung für jede Strafe bleibt. Strafe muss einfach sein - auch wenn sie keinen Wandel des Täters zum Positiven bewirkt.
Die Rechtsphilosophen, die "relative Straftheorien" favorisieren, verlagern den gewünschten positiven Effekt daher auf die Verhütung zukünftiger Straftaten. "Relativ" ist die Rechtfertigung der Strafe, weil sie deren Gültigkeit vom praktischen Erfolg ihrer Anwendung abhängig macht. Sollte sich zeigen, dass Bestrafung faktisch nicht zur Verhinderung von Verbrechen - oder wenigstens zur Verringerung ihrer Zahl - führt, müsste man in letzter Konsequenz auf sie verzichten. Nach dieser Lesart muss Strafe sein - weil sie die Welt ein wenig sicherer und besser macht.
Wie aber kann Strafe künftige Verbrechen verhindern? Zunächst einmal durch ihre Wirkung auf den Täter. Die Juristen sprechen hier von "Spezialprävention". Die erste Wirkung der Strafe ist dabei noch einigermaßen verlässlich. Durch die Inhaftierung des Straftäters wird die Allgemeinheit vor ihm geschützt, jedenfalls solange er im Gefängnis sitzt. Diesem Diktum folgt ein sehr nachvollziehbarer Impuls auf dem Fuße: je länger der Täter sitzt, umso besser für uns alle. Besonders Schwerverbrecher will die Mehrheit am liebsten lebenslang hinter Gittern sehen. Doch diesem Wunsch steht das oberste Prinzip jeder rechtsstaatlichen Strafzumessung im Wege: Die Strafe muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Schuld und zur Schuldfähigkeit eines Täters stehen. So gerät das Ziel der Prävention früher oder später in Konflikt mit der "absoluten" Begründung der Strafe. Die praktisch scheinbar beste Lösung - lebenslanges Wegsperren - ist moralisch gerade die fragwürdigste.
Mit den anderen beiden Zielen der Spezialprävention sieht es erst recht zappenduster aus. Das Risiko, für seine Tat zur Rechenschaft gezogen zu werden, schreckt nahezu niemanden" davon ab, eine Straftat zu begehen. Weltweit ist keine Statistik bekannt, die eine abschreckende Wirkung selbst drakonischster') Strafen beweisen könnte. Wenn überhaupt, dann zeigt sich eher eine merkwürdige Umkehrung: Strafen scheinen umso weniger abzuschrecken, je höher sie ausfallen - und je höher die Wahrscheinlichkeit ist, tatsächlich bestraft zu werden. So liegt die Aufklärungsquote für Kapitalverbrechen in allen zivilisierten Ländern bei weit über 90 Prozent. Doch in keinem von ihnen werden mehr Morde begangen als in den USA, obwohl dort in 38 von 50 Bundesstaaten auf Mord die Todesstrafe steht. Welche Untersuchung man auch immer heranzieht, man wird stets zum gleichen Fazit kommen: Um die abschreckende Wirkung der Strafe ist es schlecht bestellt.
Nicht zuletzt diese bittere Bilanz leistete einer Idee Vorschub, die sich vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren großer Popularität unter liberalen Juristen und Bürgern erfreute: die Idee der Resozialisierung. Wenn die Androhung von Strafe schon nicht verhindert, dass Menschen kriminell werden, könnte sie doch wenigstens dazu genutzt werden, den verurteilten Straftäter während der Zeit seiner Haft zu " bessern " und auf ein straffreies Leben in Freiheit vorzubereiten. Wer sich einmal für kriminelle Verfehlungen anfällig gezeigt hat, könnte so vielleicht davon abgehalten werden, künftig weitere Straftaten zu begehen. Doch weder harte noch humane Haftbedingungen, weder Arbeitszwang noch Ausbildungsangebote, weder Einzelhaft noch Gruppentherapie vermochten wesentlich etwas daran zu ändern, dass im Schnitt 80 Prozent aller verurteilten Straftäter früher oder später rückfällig werden. Zudem stießen die Forscher auch hier bald auf ein irritierendes Paradox: je früher und je häufiger jemand im Gefängnis landet, desto größer ist das Risiko, wieder dorthin zurückkehren zu müssen. Sehr vereinfacht gesagt ist es gerade das Gefängnis, das aus einem Straftäter häufig erst einen Kriminellen macht. Weshalb In den letzten 20 Jahren verstärkt nach Alternativen zur Haftstrafe gesucht wird, zum Beispiel durch die Verhängung von Geldstrafen, die Ausweitung des offenen Vollzugs oder die Anwendung pädagogischer Maßnahmen im Bereich des Jugendstrafrechts. Das hehre Ziel der Resozialisierung ist jedoch aufgrund ernüchternder Bilanzen längst wieder in den Hintergrund getreten. Und so traurig es auch sein mag, eine tragfähige Begründung, warum man Menschen bestraft, liefert auch die Resozialisierung nicht.
Bleibt also nur noch, was die Gelehrten "Generalprävention" nennen. Die Androhung von Strafe, so die Idee, wirke vielleicht nicht auf den einzelnen potenziellen Straftäter, aber doch immerhin auf die Gesellschaft als Ganzes. Für die so genannte "negative Generalprävention", die eine allgemeine Abschreckungswirkung jeder Strafandrohung postuliert, mag das als Begründung elegant klingen. Die faktische Bilanz fällt deshalb keinen Deut besser aus. Abschreckung funktioniert nicht. Weder Art noch Härte von Strafen zeitigen einen nachweisbaren Effekt - und zwar weder im Hinblick auf die Rückfallquote einzelner Täter noch im Hinblick auf die Häufigkeit von Straftaten insgesamt. Wer nicht klaut, unterlässt es offenbar nicht deshalb, weil es verboten ist. Sondern weil er einsieht, dass eine Welt, in der jeder klaut, also andere auch ihn bestehlen, nicht funktionieren kann.
Dieser Einsicht entspricht die tragfähigste und heute am ehesten anerkannte Präventionstheorie: die so genannte "positive Generalprävention". Indem Vergehen und Verbrechen mit Strafe bewehrt sind und die Strafandrohung verlässlich durchgesetzt wird, stärkt der Staat ganz allgemein das Vertrauen in die Durchsetzungskraft seiner Rechtsordnung. Ist dagegen die Einsicht der Allgemeinheit in den Sinn einer Rechtsnorm unterminiert, wofür das Steuerrecht prächtige Beispiele abgibt, fällt es dem Staat zunehmend schwer, sie durchzusetzen. Härtere Strafen nützen dann nur noch begrenzt.
In diesem Konzept gilt die Straftat nicht so sehr als sittlich-moralische, sondern vor allem als soziale Störung. Indem der Staat solche Störungen beseitigt, stärkt er die Rechtstreue der Allgemeinheit. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn die Institutionen, die das Recht schützen, also Polizei und Justiz, beim Bürger weitgehend uneingeschränktes Vertrauen genießen. Um das zu erreichen, muss ihre Arbeit zugleich transparent und effektiv, unabhängig von Einzelinteressen und frei von Missbrauch und Willkür sein. Im Hinblick auf das unerlässliche Vertrauen der Bürger in die Rechtsordnung als Ganzes ist deshalb Justizunrecht die wohl zerstörerischste Form des Unrechts überhaupt.


Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München (S. 44) zum Fall eines von zu Hause entflohenen und dorthin wieder abgelieferten Mädchens
Dieser ganze Rechtsapparat war nicht Mittel zum Zweck der Gerechtigkeit, sondern schon der Zweck selber. Es ging anscheinend nur noch darum, diesem Zweck Genüge zu tun, und es mußte anscheinend in Kauf genommen werden, daß das Mädchen dabei auf der Strecke blieb. Etwas Ungerechteres, etwas Unmenschlicheres war aber doch aus der Sicht des Mädchens überhaupt nicht denkbar.

Bring zwar nichts, aber ... - Teilaussage in einem Plädoyer für härtere Strafen!
Aus Jörg Feldmann: "Warum sich Gewalttäter immer mehr trauen", in: "Die Polizei als 'Freiwild' der aggressiven Spaßgesellschaft?", Verlag für Polizeiwissenschaft in Wiesbaden (S. 96)
Es mag sein, das teile ich auch, dass man vielleicht bei der Einzelperson nicht unbedingt etwas Positives dabei bewirkt.


Ein nettes Bild dazu ist in einem Buch des Otto-Schmidt-Verlages von 1962 enthalten. Der Verlag hat ausdrücklich verboten, seine Bilder in diesem justizkritischen Kontext zu verwenden. Offensichtlich sind ihm seine früheren Positionen heute peinlich. Als Dokumentation, dass auch der Otto-Schmidt-Verlag mal justizkritische Bilder veröffentlicht hat, kann das linke Bild dienen (weiteres Beispiel unten).


Im Original: Konstruktion des Innen durch das Außen
Aus Kai Bammann, "Zur sozialen Konstruktion von Kriminalität und Strafrecht" in Forum Recht
Das Etikett "kriminell" beinhaltet eine Wertung. Kriminalität ist (ebenso wie abweichendes Verhalten) etwas Schlechtes. Das Etikett dient dazu, die betroffene Person aus- und uns von ihr abzugrenzen. ...
Gerade dadurch, daß viele Menschen mit der wirklich schweren Kriminalität gar nicht in Berührung kommen, wird eine irrationale Angst gefördert.
Kriminalität erfüllt - dies macht ein Blick in die USA deutlich - noch einen anderen wichtigen Zweck: sie ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Kriminalität produziert Kriminalitätsfurcht 23. Hieraus folgt ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Und diese wiederum bringt eine ganze Industrie zutage: von privaten Sicherheitsunternehmen über Firmen, die Überwachungstechnik herstellen und montieren bis hin zu großen Konzernen, die ganze Haftanstalten bauen und privat betreiben.


Kollektivbildung durch die Schaffung des Außen
Aus Kai Bammann, "Zur sozialen Konstruktion von Kriminalität und Strafrecht" in Forum Recht
Kriminalität hat für die Gesellschaft mehrere Bedeutungen:
Die Konstruktion von Kriminalität konstruiert auch Integration und Ausschließung. Die Gesellschaft kann mit dem Begriff "Kriminalität" nach altmodischem Muster in zwei Kategorien - schwarz und weiß, kriminell und nicht-kriminell - unterschieden werden. Der soziale Ausschluß ist für eine Gesellschaft aus mehreren Gründen bedeutsam 21:

  • die Existenz von "Ausgeschlossenen" stärkt den Zusammenhalt der Gruppe. Man grenzt sich von anderen ab und schafft dadurch ein Wir-Gefühl derjenigen, die dazugehören.
  • Indem es "Ausgeschlossene" gibt, schafft man sich eine Gruppe, der man die Schuld an Mißständen, Ungerechtigkeiten und ähnliches zuschieben kann. Die Ausgeschlossenen fungieren als eine Art "Sündenbock".
  • Der soziale Ausschluß dient auch dazu, knappe Ressourcen zu verteilen: diejenigen, die dazugehören haben teil daran, während die Ausgeschlossenen von den gesellschaftlichen Gütern ferngehalten werden.
Kriminelle werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, während diese ihnen gegenüber enger zusammenhält. Am deutlichsten wird diese Ausgrenzung durch den Einschluß: die Inhaftierung Straffälliger, ist das sicherste Mittel, sie (vorübergehend) aus der Gesellschaft und von der Teilnahme an ihren Ressourcen auszuschließen 22.

Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München
Bürger vor Kriminalität schützen. Der polizeiliche Auftrag ruhte dabei auf der Grundlage eines Kriminalitätsverständnisses, wonach sich der überwiegende Teil der Gesellschaft wie selbstverständlich gesetzestreu verhielt und nur eine Minorität von Kriminellen die Rechte der Bürger auf Eigentum, Freiheit, körperliche Unversehrtheit und so weiter bedrohte und damit die gesamte Rechtsordnung gefährdete. ...
Die Gewißheit, die ich zur Ausübung meines Berufes brauchte, war, daß die Trennung zwischen Gesetzestreuen und Gesetzlosen, zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch existierte und durch die Gesetze genau markiert war; daß ich die Kriminellen als wirklich böse und von mir deutlich unterschieden begreifen konnte und daß daraus für mich die Berechtigung und Begründung dafür abzuleiten war, sie mit allen "zu Gebote stehenden Mitteln" rigoros zu verfolgen. Diese Gewißheit war ein ganz wesentlicher Bestandteil meines beruflichen Selbstverständnisses, auf ihr baute sich meine Identität als Polizist auf, sie war mir Stütze und Halt. Ich brauchte sie genauso wie die Sollensnormen, zu deren Begründung sie diente. ...
(S. 12 f.)
In der Normalität unserer Gesellschaft gibt es einen beachtlichen Teil alltäglicher Handlungen, die zwar formal kriminell sind, die aber - gewissermaßen aufgrund des gesunden Menschenverstandes - nicht als solche verstanden werden. Nach meiner Einschätzung ist das so, weil jedes einzelne Individuum damit in bezug auf seine Selbstwahrnehmung überfordert ist. Zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes wird hier eine Wahrnehmungsverzerrung gebraucht. Sie führt dazu, daß die Entwendung des Briefumschlages als "kein richtiger Diebstahl" aufgefaßt und die Frage nach dem Betrug bei
der Steuerabrechnung etwa so beantwortet werden kann: Ja - lieber Gott, wer da nicht seinen Vorteil sucht, der ist ja weltfremd; schön blöd, selbst schuld, geradezu lebensuntüchtig. Das macht doch jeder!" Auf diese Weise wird die Illusion vom Ausnahmecharakter der Kriminalität erhalten und im Kopf eine Kriminalität erschaffen, die dem positiven Selbstbild, einem Vorverständnis, entspricht, während die Realität geleugnet wird. Es ist der erste Schritt zur Erschaffung der "Kriminalität der Bösen".
(S. 60)
Ich glaube, in unserer Gesellschaft feststellen zu können, daß wir kollektiv von einem Kriminalitätsverständnis ausgehen, wonach kriminelles Verhalten in der gesamten Bandbreite des menschlichen Alltagshandelns eine Ausnahme darstellt und fast ausschließlich durch eine Minorität von Kriminellen hervorgebracht wird. In diesem Sinn definieren wir den Begriff Kriminalität negativ und verstehen seine Inhalte als nicht zu uns gehörig, als fremd. Damit entspricht unser Verständnis dem, was ich als die Kriminalität der Bösen bezeichnet habe. Ihre Inhalte sind in etwa die der offiziellen Kriminalstatistiken, und ihre Täter sind in etwa die Vorbestraften und die Insassen der Gefängnisse.
Mit dieser Konstruktion blenden wir aber einen Teil unserer Realität aus, nämlich die Kriminalität, die sich auf uns selbst bezieht oder beziehen läßt. Als Grund dafür vermute ich, daß wir psychisch darauf angewiesen sind, Kriminalität einerseits als eindeutig negativ zu begreifen und uns selbst andererseits als durchgängig positiv wahrzunehmen.
... (S. 84 f.)
"Keine Gesellschaft will eine Kriminalitätsquote, die Zweifel daran läßt, ob es sich dabei noch um eine Ausnahmeerscheinung handelt; erst durch seinen Ausnahmecharakter wirkt das Tabu, daher muß das Strafrecht fragmentarisch und exemplikativ sein." (S. 90, zitiert nach Denninger, Erhard/Lüderssen, Klaus (1978): Polizei und Strafprozeß im demokratischen Recchtsstaat, Frankfurt (S. 191 f.)
Die Kriminalität wird den Kriminellen zugewiesen (das Böse an die Bösen abgeschoben) und der edle Umgang mit dem Bösen in der Welt "uns Normalen" zugeschrieben (das Gute für die Gesellschaft, also für uns, reserviert). (S. 132)

Aus Helga Cremer-Schäfer/Heinz Schäfer (1998), "Straflust und Repression" (S. 54)
Law-and-Order-Propaganda erreicht nur selten die Extreme von Entmenschlichung, die wir in Kriegspropaganda vorfinden, sie benützt aber eine analoge Polarisierung in "wir" und "sie". In beiden findet sich dieselbe Voraussetzung und Wirkung, dass ein homogenes Ganzes behauptet wird, zu dem "wir" gehören. Das gelingt um so leichter, wenn es dafür schon existierende Kategorien gibt - zum Beispiel eine nationale Identifikation, eine rassische wie "arisch", oder moralische/politische Kategorien wie "ehrlicher Arbeiter" oder "anständiger Mitbürger". Die Wirkung läuft aber auch in der umgekehrten Richtung: Ein gemeinsamer Feind hilf uns, eine Identifikation von "wir" herzustellen, auch wenn wir sonst nichts gemeinsam haben.

Tatsächlich ist Kriminalität normal und systembedingt
Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München
Unsere Kriminalitätsbekämpfung ruht auf den Grundlagen unseres Verständnisses von Kriminalität. Das aber ist unvollständig, da es die Kriminalität der Braven nicht berücksichtigt: In unserer Gesellschaft ist nicht nur eine böse Minderheit kriminell, die übrige Gesellschaft ist es auch. Nach meiner Einschätzung ist sie das sogar in einem Ausmaß, das sich mit dem Selbstverständnis braver Bürgerlichkeit nicht verträgt. Insofern ist Kriminalität nicht nur als etwas Negatives und Schädliches zu begreifen, das man einfach aufheben und beseitigen könnte, sondern vielmehr als etwas, das in die tragenden Grundlagen, in die vitalen Interessen unseres gesamten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens fest verwoben ist. Wer beispielsweise der Ideologie der Konsum- und Wachstumsgesellschaft folgt und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse versucht, möglichst viel zu verdienen, hat regelmäßig nur dann eine Chance, hier ein Optimum zu erreichen, wenn er sich im Grenzbereich der Legalität und der Moral auskennt und dort seinen Nutzen zu ziehen versteht. Die dazu nötige Lebenshaltung, eine von Insidern gehütete Mischung aus Zynismus und Heuchelei, wird in unserer Gesellschaft immer mehr und immer deutlicher zur Bedingung von Erfolg und Lebensqualität; Steuertricks, informelle Beziehungen und die Umgehung gesetzlicher Verpflichtungen sind wesentliche Elemente einer verdeckten Wirklichkeit am Übergang zu Wohlstand und Ansehen. ... (S. 9)
Heute glaube ich, daß die beschriebenen Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten auf ein allgemein verbreitetes Mißverständnis zurückzuführen waren, das ich etwa mit den folgenden Überlegungen aufspüren und beschreiben kann: Normalerweise wird zur Definition des Begriffes Kriminalität ein juristischer Ansatz benutzt. Hiernach sind alle diejenigen Handlungen als kriminell zu begreifen, die gegen eine Strafnorm verstoßen. Wenn dabei die kultur- und gesellschaftsspezifischen Normgrenzen berücksichtigt werden, so scheint damit auf den ersten Blick eine befriedigende Definition vorzuliegen. Auf den zweiten Blick stellt sich diese aber als ganz und gar unzureichend heraus, weil danach nahezu alle Mitglieder unserer Gesellschaft kriminell wären, denn die Mehrzahl von uns verstößt permanent gegen irgendwelche Strafnormen. ... (S. 58 f.)
Das Erklärungsmodell des Jabeling approach" sagt aus, daß Kriminalität durch willkürliche Akte der Definition und der Selektion entstehe. Demnach wären einerseits willkürliche Setzungen von Strafnormen für das Vorhandensein von Kriminalität verantwortlich; denn wenn ich die Abtreibung als moralisch verwerflich ansehe und im Gesetzgebungsverfahren einer entsprechenden Strafnorin Geltung verschaffe, dann erschaffe ich damit gleichzeitig Kriminalität, die ich auf dem umgekehrten Weg auch wieder beseitigen kann. Andererseits erzeuge ich auch Kriminalität, indem ich bei der Überwachung der Gesetze die Kontrollorgane selektiv einsetze, denn ich kann ja nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit überwachen. So fördere ich beispielsweise zwangsläufig vermehrt einen bestimmten Stehler-Typ zutage, wenn ich die Kontrollorgane verstärkt in einer bestimmten Gesellschaftsschicht nach den Tätern von Diebstählen suchen lasse. Entsprechend seltener würden demnach die Diebe aus den anderen Bevölkerungsschichten entdeckt und registriert werden. (S. 61)
Es gehört zu den Gewißheiten unserer Gesellschaft, daß Kriminalität etwas ist, das vom Normalen abweicht und insofern "anders" ist, sowie daß nur eine Minderheit abweicht und sich die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder gesetzestreu verhält. Dies stimmt nach meiner Wahrnehmung jedoch nicht. Vielmehr verstößt die Mehrheit der Bevölkerung permanent gegen alle möglichen Normen: Gesetze, Verordnungen, Rechtsvorschriften, Verwaltungsvorschriften, Dienstanordnungen usw., was ich auch an meiner eigenen Person feststellen kann. Meine Vermutung ist, daß dies nur für ganz wenige Ausnahmen nicht zutrifft, etwa in Fällen schwerer Krankheit.... Wenn ich überlege, was es für die registrierte Minderheit von Ladendieben an Arbeitsaufwand (allein zeitlich) bedeuten würde, den deutschen Kaufhäusern jährlich Diebstahlsschäden in Milliardenhöhe beizubringen, dann finde ich diesen Gedanken bestätigt. Außerdem müßte dann diese Minderheit in relativem Wohlstand leben (was offensichtlich auch nicht zutrifft), und das Problem könnte sich teilweise aus sich heraus regulieren.
Ein Großteil dieser Milliardenschäden wird nicht von wenigen kriminellen Ladendieben verursacht, sondern von vielen unbescholtenen Bürgern, beispielsweise auch vom Personal und den Zulieferern der geschädigten Betriebe.
... (S. 62)
Alle stehlen unter den Augen aller (solange es sich im Rahmen hält), und alle verschweigen einvernehmlich, daß es sich dabei um Kriminalität handelt. Das ist aber nicht alles. Es findet auch ein Austausch zwischen den einzelnen Bereichen und ihren verschiedenen Möglichkeiten statt, nach der Devise: Eine Hand wäscht die andere. Während der eine für seinen Nachbarn einen bestimmten Kleber aus seinem Betrieb "mitbringt", "erledigt“ dieser für ihn die Vervielfältigung der Noten für den Gesangverein. Der eine kann dies besorgen, der andere jenes. Das gesellschaftliche Gesamtvolumen dieser "Diebstähle" halte ich für viel größer als die in der offiziellen Kriminalstatistik registrierte Diebesbeute. (S. 87)

Aus Stefan Aust/Thomas Ammann, „Digitale Diktatur“ (2014, Econ bei Ullstein, S. 335f)
Was "unnormal" oder "verdächtig" ist, setzt ein von irgendwelchen Programmierern entwickelter Algorithmus fest. Abweichungen werden den Sicherheitsbehörden gemeldet wenn die sie nicht schon in Echtzeit selbst entdeckt haben.

Der sächsische Gefängnisleiter Thomas Dalli drückte sich in einem Interview mit dem Spiegel so aus: "Schaffte man die Gefängnisse ab, würde sich die Gefahr für die Bevölkerung nicht vergrößern. Wahrscheinlich könnte man 90 Prozent aller Inhaftierten auf der Stelle entlassen."

Im Original: Strafe hilft nicht
Aus dem Bericht einer Staatsanwältin, die Bestrafung für falsch hielt ...
In einer befragung sagte der richter der angeklagten, sie müsse schon ein bißchen was dafür tun, um ihre aussagen zu untermauern und ihre unschuld zu beweisen. Daraufhin erlaubte ich mir, ihn zu unterbrechen und der zeugin nochmal den nemo-tenetur-grundsatz und die unschuldsvermutung zu erläutern. („Nemo tenetur se ipse accusare“ – Niemand ist gehalten, an der eigenen strafverfolgung mitzuwirken. Und angeklagte müssen nicht ihre unschuld beweisen, sondern das gericht ihre schuld, andernfalls gilt die unschuldsvermutung.) Auf diese referendarische spitzfindigkeit reagierte er auch vergleichsweise langmütig, erläuterte mir später nochmal, daß man ja „das gesetz auch auslegen muß“ und daß es sonst ja fast nie verurteilungen geben könne. Weiß ich ja. Stört mich auch nicht. ...
Was hinter einer tat steckt, ob der täter vielleicht ganz dringend irgendeine form von hilfe (therapeutische oder was auch immer) braucht, die es im knast bestimmt nicht gibt, oder was sonst der grund für merkwürdiges verhalten ist – wen interessiert das vor gericht schon? Naja, das übliche strafmaß für die tat, bei den vorstrafen des angeklagten, wären mindestens ein paar monate freiheitsstrafe gewesen. Aber abgesehen davon, daß ich ohnehin keinen „dienst nach vorschrift“ ableisten wollte, kann ich auch ganz bestimmt keine freiheitsstrafe beantragen oder auch nur stumm an so einem urteil mitwirken. Bzw. ich hätte mir das bestimmt beibringen können. Aber ich glaube, daß es verkehrt ist, sich gewissensregungen abzuerziehen, und daß sowas eineN auch kaputt macht. ...
Der richter verzog keine miene. Und der verteidiger wußte endlich, worum es mir ging. Er begann sein plädoyer dann auch mit den worten „Ja, es ist für die verteidigung schwierig, wenn sie von der staatsanwaltschaft links überholt wird.“ und knüpfte kurz an meiner argumentation an, bescheinigte mir seine „hochachtung vor ihrem mut“ (das tat gut, mal ein positives feedback zu bekommen in diesem umfeld!) und schwenkte dann natürlich zu einem normal-real-pragmatischen plädoyer auf eine niedrige freiheitsstrafe, weil der angeklagte sich ja bemüht, brav im knast arbeitet usw.

Geringere Rückfallquote, wenn Zäune und Mauern fehlen
Aus dem Gießener Anzeiger, 1.9.2007 (S. 6)
Nur rund die Hälfte aller, die den Arxhof überstanden haben, werden rückfällig. Bei denen, die im Jugendgefängnis sitzen, liegt die Quote bei 78 Prozent. Die Einrichtung liegt zwischen Wiesen und Äckern im Basler Hinterland. Keine Mauer versperrt den Blick auf saftige Weiden und grasendes Rindvieh, kein Zaun deutet an, dass die Freiheit hier endlich ist.

Polizei weiß, dass Gewalt und Unterdrückung nicht helfen
Aus dem Buch eines Polizisten: Schwandner, Alex (2013), „Stärke zeigen“, Bastei Lübbe in Köln (S. 69).
Leider verändert sich durch Polizeikontakt bei den meisten dieser Täter nichts."

SPIEGEL-Gespräch am 19.03.2016 mit dem Gefängnisdirektor Thomas Galli, in: Spiegel Nr. 12/2016 (S. 46)
„Wir sind fixiert aufs Strafen“
Der Gefängnisdirektor Thomas Galli plädiert dafür, Gefängnisse abzuschaffen. Er findet, es gebe sinnvollere Sanktionen.
Eine belebte Straße in Dresden-Neustadt, Bioläden, Graffiti an den Fassaden, eine Hochburg linksalternativer Lebensart – hier wohnt Gefängnisdirektor Galli. Der 42-jährige Jurist, Kriminologe und Psychologe leitet die sächsische Justizvollzugsanstalt (JVA) Zeithain. Über seine Begegnungen mit Gefangenen hat er ein Buch geschrieben(*). Weil Galli gerade in Elternzeit ist, hat er zum Gespräch zu sich nach Hause gebeten.
SPIEGEL: Herr Galli, wie erklären Sie eigentlich Ihrem vierjährigen Sohn, was sein Papa tagsüber macht?
Galli: Ich sage, dass es Gute und Böse gibt, dass die Bösen ins Gefängnis kommen und dass ich mich darum kümmere.
SPIEGEL: Das tun Sie seit 15 Jahren. Sie kennen die JVA Straubing mit ihrem Hochsicherheitstrakt, die JVA Amberg mit Schwerpunkt Sexualtherapie, jetzt sind Sie Gefängnisdirektor in Sachsen; Sie waren als Sachverständiger im Landtag eingeladen, als es dort um das neue sächsische Strafvollzugsgesetz ging – und bei alldem kamen Sie zu der Überzeugung, es wäre besser, Haftanstalten abzuschaffen. Erzählen Sie das Ihrem Sohn auch?
Galli: Nein, er würde das nicht verstehen, dafür ist er noch zu klein.
SPIEGEL: Auch viele Erwachsene werden das nicht verstehen. Es klingt radikal.
Galli: Das empfinde ich nicht so. Ich argumentiere ja nicht aus einer falsch verstandenen Menschenfreundlichkeit heraus, sondern unter Kosten-Nutzen-Aspekten. So betrachtet ist die Institution unsinnig. Es gibt effektivere Möglichkeiten, mit Menschen umzugehen, die Normen verletzen.
SPIEGEL: Mag sein, aber wenn Sie morgen die Tore der Haftanstalten aufsperren, wohin gehen dann all die Verbrecher?
Galli: Schaffte man die Gefängnisse ab, würde sich die Gefahr für die Bevölkerung nicht vergrößern. Wahrscheinlich könnte man 90 Prozent aller Inhaftierten auf der Stelle entlassen.
SPIEGEL: Ohne dass wir unsicherer wären?
Galli: Ja. Die wenigsten haben ja gemordet oder vergewaltigt. Von etwa 44.000 Gefangenen bundesweit sitzen allein 4000 Ersatzfreiheitsstrafen ab, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen können. Da geht es um Schwarzfahren, Fahren ohne Führerschein, kleinere Körperverletzungen oder Diebstähle. Das trifft nur Arme. Wer bis dahin noch nicht im völligen sozialen Abseits lebt, kommt im Gefängnis in entsprechende Kreise. Wer vorher keinen Kontakt mit Drogen hatte, wird ihn dort haben. Der Schaden, den wir damit anrichten, kostet den Steuerzahler pro Inhaftierten 40.000 Euro jährlich. Jetzt rechnen Sie mal!
SPIEGEL: Ich möchte aber möglichst gar nicht beklaut, betrogen oder verprügelt werden. Strafen schrecken ab und machen den Alltag sicherer.
Galli: Sagt man. Tatsächlich geschehen viele Gewalttaten, aber auch schwere Sexualstraftaten oder Tötungsdelikte aus einem Impuls heraus. Da spielt Abschreckung kaum eine Rolle. Manchmal ist auch die Wiederholungsgefahr nicht so groß – dafür aber der Schaden durch die Haft. Ich erinnere mich an einen Mann, der hatte seine Frau erschlagen, weil er sie in flagranti erwischt hatte. Ansonsten war es ein ganz normaler Mann. In zehn Jahren Haft entwickelte er eine Art Kohlhaas-Syndrom. Er sah den Staat immer mehr als Feind, wurde immer ausfälliger, beleidigte Richter und Staatsanwälte und bekam immer mehr Strafen dazu; ein Teufelskreis. Er ist bis heute nicht entlassen.
SPIEGEL: Opfer von Straftaten sagen oft: Der Täter soll nie wieder eine Gefahr für mich oder andere sein. Ist das kein guter Grund, um einen Menschen aus dem Verkehr zu ziehen?
Galli: Doch. Im Sinne der Sicherung halte ich Wegsperren für sinnvoll. Aber nur für wenige, wirklich gefährliche Menschen. Denen muss man – und da bin ich anderer Meinung als das Bundesverfassungsgericht – lebenslang die Freiheit entziehen.
SPIEGEL: Was heißt "wirklich gefährlich"?
Galli: Das ist schwierig, zugegeben. Also: Hat jemand zwei Morde begangen, nur um eine Hausnummer zu nennen, muss die Gesellschaft das Recht haben zu sagen: Wir wollen dich nie mehr in Freiheit unter uns haben, egal wie viel Gefahr noch von dir ausgeht. In Straubing sitzt ein Busfahrer, der hat mehrere Kinder sexuell missbraucht und umgebracht. Da würde ich sagen: Er muss bis zum Lebensende aus der freien Gesellschaft ausgeschlossen sein – unter menschenwürdigen Bedingungen.
SPIEGEL: Die wären?
Galli: Ich würde diesen Hochrisikotätern eine gesicherte Dorfgemeinschaft anbieten oder eine Gefängnisinsel. Dort könnten sie weitgehend selbstverantwortlich leben. Die Allgemeinheit wäre vor ihnen sicher. Außerdem müsste so jemand gemeinnützig arbeiten, sonst verlöre er Privilegien.
SPIEGEL: Was würden Sie mit den anderen machen, den Räubern, Einbrechern, Betrügern, notorischen Prüglern?
Galli: Für die würde ich elektronisch gesicherten Hausarrest und Geldstrafen verhängen, auch gemeinnützige Arbeit. Täglich könnte ein Sozialarbeiter zur Alkohol- und Drogenkontrolle kommen. Die Finnen und die Norweger haben offene Gefängnisse, ohne Zäune und Stacheldraht. Die Rückfallraten in Finnland sind bei diesen Gefangenen um 20 Prozent gesunken. Sie verdienen dort fast unseren Mindestlohn. Davon müssen sie alles selbst bezahlen: Unterkunft, Essen, Sozialversicherung. Die Dänen verhängen möglichst kurze Strafen, die oft im Hausarrest mit elektronischer Fessel vollzogen werden. Das ist deutlich günstiger als Gefängnis. Gerade bei Leuten, die sozial integriert sind, ist Haft total kontraproduktiv.
SPIEGEL: Nach Ihrer Logik hätte Uli Hoeneß seine Strafe in seinem Anwesen am Tegernsee absitzen sollen. Viele finden aber schon höchst ungerecht, dass er so schnell aus der JVA entlassen wurde.
Galli: Und? Wer hat denn etwas davon, dass Uli Hoeneß 21 Monate in Haft war? Da geht es doch nur darum, die Vergeltungswünsche der Allgemeinheit zu befriedigen, indem man sagt: Der muss jetzt ein bisschen leiden.
SPIEGEL: Was ist daran verkehrt? Durch eine Freiheitsstrafe wird auch eine Rechtsnorm verdeutlicht: Man zeigt, für wie unrecht man die Tat hält.
Galli: Dass Steuerhinterziehung unrecht ist, weiß auch so jeder. Andererseits sitzen manche, die als Wiederholungstäter eine Flasche Schnaps geklaut haben, fast so lange in Haft wie Uli Hoeneß, der fast 29 Millionen hinterzogen hat. Es gäbe sinnvollere Strafen. Man könnte Uli Hoeneß sagen: Du hast so großen Schaden verursacht, du musst bis an dein Lebensende zwei Tage in der Woche gemeinnützig arbeiten. Oder einen spürbaren Teil deines Verdienstes an den Staat geben. Davon hätte die Allgemeinheit etwas. Und es würde ihn immer erinnern an seinen Fehler.
SPIEGEL: In den USA ging die Gewaltverbrechensrate zurück. Dort zieht man Wiederholungstäter auch bei geringen Straftaten dauerhaft aus dem Verkehr.
Galli: Klar. Wenn ich alle, die Probleme machen, bis zum Lebensende wegsperre, würde es die Kriminalität schon senken. Nur ist das bei uns nicht mit der Menschenwürde vereinbar, wie sie im Grundgesetz steht. Die USA leiden heute unter den Kosten und Problemen der größten Inhaftiertenrate weltweit.
SPIEGEL: Die Vertreter der Russenmafia und andere Berufsverbrecher lachen doch über Hausarrest und Alkoholkontrollen.
Galli: Und Sie denken, wenn solche Leute weggesperrt sind, ist die Kriminalität gebannt? Das ist eine Illusion. Im Hochsicherheitsgefängnis Straubing sitzen viele dieser Leute. Dort gibt es sechs Wachtürme wie im Mittelalter, besetzt mit Beamten mit Gewehren, riesige Mauern. Außen herum geht eine bewaffnete Streife, dabei ist es praktisch unmöglich, überhaupt bis zur Mauer zu kommen. Eine Trutzburg gegen das Verbrechen. Nur: Das ist alles reine Symbolik. Mafiöse Strukturen lassen sich dadurch nicht zerstören. Der oberste Boss kann aus der Haft das Sagen über seine Leute draußen haben. Wer drin ist, presst halt die anderen Gefangenen aus.
SPIEGEL: Ein Hauptzweck der Strafe soll eigentlich Resozialisierung sein.
Galli: So wird es uns verkauft. Ginge es wirklich darum, müsste sich die Länge der Strafe nach der Zeit richten, die man braucht, um einen Menschen so zu behandeln, dass er nicht wieder straffällig wird. Stattdessen sagen wir: Einer hat das und das gemacht, also kriegt er neun Jahre. Die Strafe bemisst sich nach der Schwere der Schuld. In der JVA Zeithain sitzen die meisten Gefangenen Strafen von unter fünf Jahren ab. Fast alle hatten schon vorher größte Probleme zurechtzukommen. Nach drei Jahren Knast sind sie noch weiter im Abseits. In den Justizvollzugsgesetzen steht: Den schädlichen Folgen der Haft ist entgegenzuwirken. Der Gesetzgeber gibt also zu, dass Haft geeignet ist, Schaden zuzufügen, den die Gesellschaft dann tragen muss. Aber wir sind so fixiert aufs Strafen, dass uns das egal ist.
SPIEGEL: Worin besteht dieser Schaden?
Galli: In der Hospitalisierung. Im Abbruch der Kontakte nach außen. Sie können nicht einfach jemanden anrufen. Beziehungen gehen kaputt. Wer arbeitet, verdient viel weniger als draußen. In Amberg habe ich Acht-Mann-Zellen erlebt, ein gemeinsames Klo, die Wartezeit für eine Einzelzelle betrug ein Jahr. Laut Gesetz besteht die Strafe nur im Freiheitsentzug. Tatsächlich aber nimmt man Gefangenen alles. Auch die Würde.
SPIEGEL: Immerhin wird das Therapieangebot im Gefängnis immer größer. Das muss doch Wirkung zeigen?
Galli: Therapie funktioniert im Vollzug nicht, unter anderem weil die wenigsten Straftäter an sich selbst leiden. Wenn die Therapeuten ehrlich sind, sagen sie das selbst. Aber am Resozialisierungserfolg wird im Gefängnis auch keiner gemessen. Erfolg ist, wenn die Anstalt ruhig und skandalfrei läuft. Es ist darauf zu achten, dass man einen fortschrittlichen Eindruck macht. Ich merke das an mir selber: Wenn wir in der JVA Pressebesuch haben, stellen wir das Therapieprogramm groß raus. Aber die Frage, wo diese Gefangenen ein, zwei, fünf Jahre nach der Entlassung stehen, die stellt keiner.
SPIEGEL: Überprüfen Sie das denn nicht?
Galli: Nein. Dafür gibt es keine Ressourcen. Es gibt auch keine Rückfallstatistiken für die jeweiligen Anstalten. Nicht mal einen bundesweiten Vergleich, welches Land am effektivsten straft: Bayern mit nur sieben Prozent der Gefangenen im offenen Vollzug oder Berlin, wo es mehr als viermal so viele sind. Ginge es wirklich um die Sicherheit, wäre so eine Erfolgskontrolle ja wichtig.
SPIEGEL: War das eigentlich Ihr Berufswunsch: Gefängnisdirektor?
Galli: Gar nicht. Das fände ich auch bedenklich. Ich wollte zum Staat, nicht wegen großer Ideale, sondern wegen des sicheren, halbwegs gut bezahlten Jobs. Für Richter oder Staatsanwalt waren meine Noten zu schlecht. Als man mich fragte, ob ich ins Gefängnis wollte, hab ich's mir mal angeschaut, eher aus Höflichkeit. Die juristischen Fragestellungen sind ja nicht sehr anspruchsvoll. Als Abteilungsleiter müssen Sie Bescheide pinseln und Ablehnungen unterschreiben, die andere für Sie vorbereitet haben.
SPIEGEL: Ablehnung wovon?
Galli: Von allem. Ausgänge, Fernseher, Playstation – solange es geht: alles ablehnen, aus Sicherheitsgründen. Einmal wollte jemand einen Tischventilator, das war nachvollziehbar, es war Sommer, viele Hafträume sind schwer zu belüften. Aber den musste ich ablehnen, Anweisung von oben. Man könnte daraus einen Hubschrauber bauen, um Nachrichten über die Mauer zu transportieren. Völlig absurd.
SPIEGEL: Heute sind Sie selbst Chef. Und?
Galli: Ich versuche, es besser zu machen. Glücklicherweise ist das sächsische Justizvollzugsgesetz weniger repressiv als das in Bayern. Dort reagiert das System fast nur auf Druck von außen. Erst wenn das Bundesverfassungsgericht entschieden hat – bei Mehrfachbelegung muss die Toilette abgetrennt sein, Sicherungsverwahrte müssen einen Fernseher haben dürfen, der so und so groß ist –, dann wird das genehmigt. In Sachsen ist der Vollzug den Menschen mehr zugewandt. Es gibt keine bewaffneten Wachen, Gefangene können Langzeitbesuch haben.
SPIEGEL: Was sagt eigentlich Ihr Dienstherr zu Ihrer Systemkritik?
Galli: Das Ministerium betont, dass das nicht die offizielle Linie ist. Aber als sie mich vor drei Jahren fragten, ob ich als Gefängnisdirektor nach Zeithain komme, wussten sie ja, wen sie sich holen.
SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, es gebe auch Erfolgserlebnisse.
Galli: Ja. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Gefangene geweint haben und sagten, es sei das erste Mal, dass einer von der Anstaltsleitung normal mit ihnen redet und ihnen zuhört. Sie sind dankbar, wenn sie mal einer ernst nimmt.
SPIEGEL: Haben Sie nicht einen einzigen Menschen geläutert entlassen?
Galli: Nein; Erfolgserlebnisse in dem Sinn, für den ich bezahlt werde, hatte ich nie. Neulich hat mich einer angeschrieben, wie toll die Zeit mit mir war und ob wir uns nicht mal draußen auf ein Bier treffen können. Na gut, es war ein klassischer Betrüger. Ich habe ihm nicht geantwortet.
SPIEGEL: Herr Galli, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Eröffnungsvortrag von Dr. Thomas Galli "Macht Gefängnis Sinn?" am 2.2.2015 in Tutzing

Das Strafrecht stellt hinsichtlich der Strafbarkeit die Tat in den Vordergrund, für die Rechtsfolge - also Strafe oder Maßregel ist auch die Täterpersönlichkeit zu berücksichtigen. Das deutsche Strafrecht vereint verschiedene Strafzwecke (die sich aus sog. Strafzwecktheorien herleiten). Zunächst soll die Schuld des Täters durch die Strafe gesühnt werden (Schuldprinzip). Darüberhinaus soll der Täter aber auch resozialisiert (positive Spezialprävention) und von der Begehung weiterer Straftaten abgeschreckt (negative Spezialprävention) werden. Weiter sollen die Bürger von der Begehung von Straftaten abgeschreckt (negative Generalprävention) und generell das Vertrauen der Gesellschaft in die Beständigkeit und Durchsetzungskraft des Rechtssystems gestärkt werden (positive Generalprävention). ...
Hauptziel des Strafrechts ist nach heute herrschender Ansicht nicht, Gerechtigkeit in der Rechtsgesellschaft herbeizuführen, sondern den Rechtsfrieden aufrechtzuerhalten. Dazu wirkt es sowohl präventiv wie repressiv auf Täter und Gesellschaft ein (Quelle dieses Textes).

Aus "Das Gefängnis gehört abgeschafft", Interview mit Tobias Müller-Monning (Gefängnispfarrer Butzbach), in: FR, 16.7.2008 (Hessen D4)
Suizid ist ein gesellschaftliches Phänomen. In der Haft ist die Gefahr erhöht durch die Bedingungen, denen die Gefangenen unterworfen sind: Einschluss, Einsamkeit, Verzweiflung. Außerdem ist Gewalt im Gefängnis an der Tagesordnung. Viele Außenstehende glauben, dass die Insassen eines Gefängnisses geschützt wären. Aber das ist nicht der Fall. ...
Unser Gefängnissystem ist nicht dazu geeignet, den Straftäter wirklich zu verändern oder zu bessern. Das Gefängnis schadet den Insassen und auch denjenigen, die dort arbeiten. Deswegen müssen wir grundsätzlich über Alternativen nachdenken. ...
Wollen Sie im Endeffekt die Gefängnisse abschaffen?
Ja. Das Gefängnis ist ein Bestrafungssystem des 18. Jahrhunderts. Wir sind europa-, wenn nicht weltweit dabei, zu schauen, was es für Alternativen gibt, die effektiver und kostengünstiger sind. Das ist ein Jahrhundertwerk. Aber es wäre gut, wenn man damit anfinge.


Autoritäre Gesellschaft soll abgesichert werden
Aus "Lennon-Mörder muss im Gefängnis bleiben", in: FR, 14.8.2008
... bleibt auch nach 28 Jahren weiter im Gefängnis ... bescheinigten die Richter dem Gefangenen zwar gute Führung. Angesichts der Schwere der Tat würde seine Freilassung jedoch den Respekt vor dem Gesetz unterminieren, hieß es.

Sinn von Strafjustiz nach Bundesverfassungsgericht (Leitsätze 2 BvR 716/01)
Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht und die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in einem justizförmigen Verfahren

Es geht nicht ums Opfer ... Richterworte in einem Vergewaltigungsprozess laut FR, 8.2.2011 (D1)
Das, was M. getan hat, "muss sich die Gesellschaft nicht gefallen lassen".


Eigentumssicherung
Aus einem Interview mit dem Rechtswissenschaftler Christoph Möllers, in: fluter Nr. 38 (S. 40)
Eigentum haben kann man ja nicht ohne eine Rechtsordnung. Und auch ein Markt existiert nicht ohne Recht.

Distanzierung von sich selbst und der Kriminalität aller
Aus Sigusch, Volkmar: "Auf den Markt geworfen", in: Freitag, 22/2011 (S. 7)
Das Skandalöse am individuellen Gewalttäter ist, dass er etwas wahr macht, was niemand wahrhaben will. Er nimmt andere Menschen als so belanglos, willenlos, bereits abgestorben und zu stoff geworden, wie es zwar im Gang unserer Gesellschaft liegt, im Alltagsbewusstsein aber maskiert bleibt. Er reißt all die mehr oder weniger verdrehten menschenfeindlichen Tendenzen der Gesellschaft aus der Abstraktion: den Egoismus, den Sexismus, den Rassismus, die Preisgabe, die Selbstpreisgabe, die Abtötung des fremden und des eigenen Lebens. Indem der gemeine Gewalttäter die Devise wahr macht, nach der der Mensch nur dann zählt und nur so viel, sofern und insoweit er benutzbar ist, scheint sein individuelles Tun mit dem Vernichtungscharakter der Kultur identisch zu sein. Umso heftiger unser Aufschrei.



Erklärung zum Bild siehe oben.


Strafe und Justiz dienen der Unterwerfung
Eine verbreitete Logik bei der Aburteilung ist, dass Geständnisse und Reue die Strafe mildern. Das heißt umgekehrt, dass mit einer höheren Bestrafung rechnen muss, wer dem Gericht widerspricht und sich z.B. weiter für unschuldig hält. Damit werden systematisch Duckmäuser produziert. Rückgrat wird bestraft, Unterwerfung belohnt - eine Abrichtung wie bei Hunden.

Im Original: Unterwerfung und Dressur
Aus "Der lange Schatten der Partei" in: FR, 3.3.2006 (S. 8)
Doch Yu begeht nun ein Verbrechen, dass in den Augen der chinesischen Wärter noch schlimmer ist als das Werfen der Farbbeutel - er will seine Fehler nicht gestehen. Das chinesische Strafsystem ist bis heute so aufgebaut, dass Häftlinge unter allen Umständen Reue zeigen müssen. Wer sich weigert, wird systematisch zerstört.

Aus Tobias Singelnstein/Peer Stolle (2008): "Die Sicherheitsgesellschaft", VS Verlag (S. 138 f.)
Zur Funktion strafrechtlicher Sozialkontrolle
Strafrechtliche Sozialkontrolle dient in der Praxis - das wurde oben bereits dargestellt (...) - nicht vorrangig dem Schutz individueller und kollektiver Rechtsgüter. Ebenso ist die Behauptung, dass die Bestrafung des Delinquenten erforderlich sei, um dessen soziale (Re-) Integration zu ermöglichen und das Vertrauen der Bevölkerung in den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung sicherzustellen, lediglich ein Postulat herrschender Kriminalpolitik. Darauf deutet bereits der Umstand hin, dass die Strafe erst relativ spät die Bühne der Geschichte betreten und ihre Legitimität auf wechselnde Straftheorien gestützt hat. Die Funktion des Strafrechts wird vor diesem Hintergrund zum einen in der Moralisierung und Skandalisierung interindividueller und der Entpolitisierung sozialer Konflikte gesehen. Der Staat selbst setzt darüber hinaus das Strafrecht und seine Kontrollagenturen als Mittel für eine symbolische Politik ein, um durch Sicherheitsdemonstrationen Kompetenzverluste vor allem bei der Regulierung ökonomischer und sozialer Konflikte zu kompensieren.
Die normative Funktion des Strafrechts besteht danach im Wesentlichen in der Darstellung und Verdeutlichung herrschender Moral anhand von individuellen Konflikten. So zeigte sich in Untersuchungen, dass Bürger das Strafrecht nutzen, um eigene Konflikte in moralische Auseinandersetzungen zu transformieren und damit zu skandalisieren. Dies gelingt vor allem dann, wenn Handlungen als Normbruch präsentiert werden, denn dies ermöglicht ein "Sprechen im Namen der Gesellschaft", womit die Allgemeinverbindlichkeit des Anliegens offensichtlich gemacht werden kann. Auf diesem Wege werden Strafrechtsnormen als Verkörperung herrschender Moral konstituiert und gleichzeitig benutzt - auch von progressiven und damit „typischen Moralunternehmern“ um beispielsweise eine strafrechtliche Verfolgung von sexueller und rassistischer Gewalt und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzumahnen.
Gerade bei als moralisch anstößig empfundenen Handlungen, die noch nicht unter Strafe gestellt sind, bedarf es der Skandalisierung und der Mobilisierung der Öffentlichkeit, um eine Tätigkeit des Gesetzgebers zu erzwingen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit es den Protagonisten gelingt, sich damit durchzusetzen und ihre Interessen als (vermeintlich) konsensuales Anliegen darzustellen. Diese Funktion der Strafnorm kann indes auch von anderen gesellschaftlichen Institutionen, wie zum Beispiel den Medien, erfüllt werden, wie empirische Erkenntnisse bestätigen.
Weiterhin wird das Strafrecht - das nur eine und zudem äußerst voraussetzungsvolle und riskante Ressource der Konfliktbearbeitung darstellt - bei Alltagskonflikten eingesetzt, ohne dass dessen Anwendung für eine soziale Konfliktlösung tatsächlich erforderlich wäre. Die Bearbeitung von Schäden und Beeinträchtigungen durch die Betroffenen selbst ist oft viel pragmatischer und kommt in den meisten Fällen auch ohne das Strafrecht aus. Die Interessen der beteiligten Individuen in Form der Folgenbewältigung durch Konfliktbegrenzung und Schadensausgleich sind andere als die des Staates. Teile des Strafrechts ließen sich also ohne weiteres durch alternative Mechanismen ersetzen, die den pragmatischen Interessen der beteiligten Individuen dienen. So werden beispielsweise Mechanismen der Wiedergutmachung als Wiederherstellung des Status quo ante oder die Leistung von Schadensersatz in Form der finanziellen Entschädigung als Alternativen zu strafrechtlichen Sanktionen vorgeschlagen.
Während das Strafrecht für die Lösung der meisten interindividuellen Konflikte nicht unbedingt erforderlich wäre, führt es bei einem Teil der sozialen Konflikte zu einer Entpolitisierung. So entzieht beispielsweise das Umwelt- bzw. Wirtschaftsstrafrecht soziale Interessenkonflikte den beteiligten Gruppen und beträgt die Bearbeitung den staatlichen Kontrollinstanzen, die dazu aber nur bedingt in der Lage sind. er Raum für eine politische Auseinandersetzung und eine sich daraus entwickelnde Konfliktlösung wird damit geschlossen.
Diese Folge der Kriminalisierung (auch) von Makrokriminalität wird von denjenigen übersehen, die beispielsweise Forderungen nach einer Beschränkung des Strafrechts auf die Verfolgung der "wirklich" gefährlichen Übeltäter, der Makroprobleme, wie beispielsweise Wirtschafts- und "Organisierter Kriminalität-, erheben und damit gleichzeitig eine Individualisierung gesellschaftlicher Probleme und politischer Konflikte betreiben. ie Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die Zerstörung der Umwelt oder das Verhältnis der Geschlechter werden nicht als Teil der gesellschaftlichen Ordnung und sozialer Auseinandersetzungen betrachtet, sondern als Ergebnis der Verfehlungen Einzelner.
Darüber hinaus dient das Strafrecht der Stigmatisierung von bestimmten Personen(-gruppen). Die Etikettierung mit dem Label kriminell ist nicht nur im privaten Bereich Synonym für soziale Ächtung von Individuen oder bestimmten Handlungen. Gerade auch der selektive Einsatz der Ressource Strafrecht - vorwiegend gegen Unterschichts- und Jugenddelinquenz - führt zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung der davon Betroffenen. Eine Renaissance erfährt das Strafrecht auch als Instrument zur Diskreditierung von politisch oppositionellen Gruppen durch deren Etikettierung als "Terroristen".


Aus Mümken, Jürgen: "Keine Macht für Niemand" über Foucaults ÜuS = Überwachen und Strafen)
Die normierenden Sanktionen spezifiziert den Blick, indem sie ihn auf jede geringfügige Abweichung von der Regel richtet, denn: „Strafbar ist alles, was nicht konform ist“ (ÜuS 231). Die Abweichungen zu reduzieren, sie zu korrigieren ist die Aufgabe der Disziplinarmacht, sie folgt der Mechanik der Dressur: „Richten ist Abrichten“ (ÜuS 232). Innerhalb der Disziplinen ist die Bestrafung nur ein Element. Sie ist eingebunden in ein System „von Vergütung und Sanktion, von Dressur und Besserung“ (ÜuS 232). Es geht um „die Qualifizierung der Verhaltensweisen und Leistungen auf einer Skala zwischen Gut und Schlecht“ (ÜuS 233). Es wird eine „Strafbilanz“ angelegt, auf deren Grundlage sich eine „Mikro-Ökonomie“ von Bestrafung und Belohnung organisieren läßt. Das Strafsystem gehört in den Kreislauf der Erkenntnis der Individuen. „Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend“ (ÜuS 236). ...
Bei Foucault verwandelt sich die christliche Pastoralmacht im Säkularisierungsprozeß zur Disziplinarmacht, das christliche Beichtritual verallgemeinert sich im Geständnis (vgl. WzW 27ff).

Beispielfall: Unschuldiger Mensch härter bestraft
Neun Jahre hat ein Mensch im Knast gesessen, weil er einen Bankraub begangen hatte. Er nach dem Ende der Strafe kommt heraus: Er war es nicht. Er hatte eine hohe Strafe erhalten, weil er immer wieder gesagt hatte, dass er es nicht wahr. Auch im Knast wurde er deshalb härter behandelt und nicht vorzeitig entlassen. Anstiftung zur Unterwerfung und zum Lügen durch Justiz und Justizvollzug - doch die Uniform- und Robenträger werden unangetastet bleiben.
Aus "An den Ohren herbeigezogen", in: FR, 4.10.2007 (S. 47)
Im Jahre 1993 wird der heute 50-jährige Stellwag festgenommen. Nachdem in der Fernsehsendung "Aktenzeichen XY…ungelöst" das Video eines Bankraubs gezeigt worden ist, fällt der Verdacht auf den fränkischen Hausmeister, der wie der Täter über eine stattliche Leibesfülle verfügt. Im Prozess wird er von einigen Zeugen be- und von anderen entlastet. Dass er schließlich zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt wird, das liegt vor allem an dem Gutachten von Cornelius S. Der Anthropologe hatte erklärt, das auf dem Video zu sehende Ohr sei mit so gut wie hundertprozentiger Sicherheit das Ohr Donald Stellwags. Das Gutachten ist die Basis, auf die das Urteil baut.
Sein hartnäckiges Leugnen beschert S. erschwerte Haftbedingungen - und verhindert eine vorzeitige Entlassung. Er sitzt die Strafe voll ab und erkrankt in dieser Zeit an Gehirntumoren und Diabetes. Zu seinen 150 Kilogramm Körpergewicht kommt ein weiterer Zentner hinzu. Kurz nach seiner Entlassung wird der wahre Täter geschnappt. Er gesteht den Bankraub.

Aus Herbert Koch (1988): "Jenseits der Strafe" (S. 12 und 15)
Kant und Hegel sind insofern grundlegend geblieben, als das Strafrechtsdenken bis heute das Verbrechen als Verletzung der staatlichen Rechtsordnung begreift und reflektiert, nicht aber als einen Konflikt zwischen einem Täter und einem Tatopfer, der unter staatlicher Aufsicht und anhand staatlich gesetzter Kriterien zwischen diesen beiden zu bewältigen wäre. Nicht die Behebung des kon kret einem Tatopfer zugefügten Schadens ist der Sinn des Strafrechts, sondern der Schutz der Rechtsordnung als solcher in ihrer Bedeutung für den Staat als solchen. Die Rechtsordnung wird als das eigentliche Tatopfer gesetzt. ...
"Die Strafe ist primär nicht Mittel zur Erreichung jener rationalen 'Straf-Zwecke' (Abschreckung, Erziehung, Sicherung), sondern hat ihren Eigen-Sinn als Sühne, d. h. selbstzweckliche Behauptung bzw. Wiederherstellung der Rechtsordnung in ihrer Heiligkeit." (zitiert nach Paul Althaus (1953): "Grundriß der Ethik")


Arten der Strafe
Die Strafe ist eine Sanktion gegenüber einem bestimmten Verhalten, das in der Regel als Unrecht qualifiziert wird. Der Begriff der Strafe wird insbesondere im Bereich der Rechtswissenschaft, jedoch auch in Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften abgehandelt.
Mittelalterliche Strafen
Das Mittelalter kennt zahlreiche, heute nicht in Anwendung kommende, Strafen. Es seien unter anderem genannt
- Kerkerhaft
- die dagegen verschärfte Kettenhaft
- den Bann
- die Verbannung
- das Hundetragen
- das Rädern
- das Pfählen
- das Säcken (vornehmlich in Südostasien)
- das Ertränken
- die öffentliche Zurschaustellung am Pranger
- das Teeren und Federn
(Quelle dieses Textes und der Links)

Im Original: Erziehung zum Kapitalismus
Kindesentzug wegen fehlener Erziehung zur Arbeitsethik und Ehenorm
Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14
Im Sachverständigengutachten wurde aus der gerichtlichen Beweisfrage die psychologische Fragestellung abgeleitet, ob die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit anhand der acht Herausforderungen des Lebens unter Beweis stellen können, zu denen neben der Kindererziehung die Bereiche Arbeit, Leistung und Beruf, kulturelles Leben und staatliche Rechts- und Werteordnung, Freizeitgestaltung, Verhältnis zu den Mitmenschen, Dauerpartnerschaft und Liebe, Umgang mit Konflikten und Einteilung von Ressourcen zählten. Die Erziehungseignung wurde unter anderem davon abhängig gemacht, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können, [und es] selbst wenn die Kindeseltern arbeitslos sind, sinnvoll ist, sich eigeninitiativ um Arbeit zu bemühen, an Trainingsmaßnahmen teilzunehmen, Termine beim Sozialamt wahrzunehmen“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und dass die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“.
Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern in mehrerlei Hinsicht verfehlt. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (vgl. BVerfGE 60, 79 (88)).


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