Umwelt und Macht

FREIWIRTSCHAFT UND ZINS

Texte über Gesell aus der Freiwirtschaftsszene


1. Zitate
2. Günter Hannich
3. Kritiken
4. Freiwirtschaftsdenken in anderen politischen Bewegungen
5. Freiwirtschaft und andere Verbände
6. Texte über Gesell aus der Freiwirtschaftsszene
7. Links und Materialien

Die hier abgedruckten Texte sind Dokumente, die interessante Informationen enthalten, stammen nicht aus dem Umfeld der Projektwerkstatt, sondern werden hier nur dokumentiert.

Im Original: Text von Josef Hüwe
Entspricht Silvio Gesells "Natürliche Wirtschaftsordnung" der Theorie des Sozialdarwinismus?

Silvio Gesells sozialreformerisches Konzept
"Die natürliche Wirtschaftsordnung" (NWO) wird hin und wieder - meistens von Gegnern des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs - als sozialdarwinistisch bezeichnet. Dabei dient Sozialdarwinismus häufig ohne nähere Erläuterungen als Schlagwort. Was ist unter jenem Begriff zu verstehen? Erklärungen verschiedener Nachschlagewerke lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Sozialdarwinismus ist ein Sammelbegriff für die an Darwins Evolutionstheorie orientierte sozialwissenschaftliche Theorie, die naturgesetzliche Prinzipien des biologischen Darwinismus - wie Auslese, Kampf ums Dasein, Anpassung an die Umwelt und Vererbbarkeit erlernter Fähigkeiten - auf den sozialen Bereich überträgt. Dementsprechend werden sozialgeschichtliche Entwicklungen als Auslese- und Anpassungsprozesse verstanden, in denen durch konflikthafte Auseinandersetzungen soziale Hierarchien entstehen, die von den sozial Tüchtigen (Eliten) dominiert werden. Die "natürliche" Ungleichheit der Menschen erzwingt in dieser Sichtweise die Differenzierung zwischen den im Sinne der Evolution "Tauglichen" (Herrschenden) und den "weniger Tauglichen" (Untergeordneten).
Der Sozialdarwinismus rechtfertigt bestehende Ungleichheiten, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten als naturgesetzlich entstanden und lehnt jede staatliche Korrektur des status quo, des gegenwärtigen Zustandes, aufs schärfste ab.1
Der menschlichen Rasse drohe Degeneration, wenn dem Kampf ums Dasein und der durch ihn bewirkten natürlichen Auslese Hemmnisse bereitet werden. Das Rassenwohl fordere ein Gewährenlassen der natürlichen Auslese (A. Ploetz). "Der Kampf muß hart sein" (Haeckel). Daß die konstitutionell Schwachen, Kranken, Untüchtigen in der Ausjätemaschine der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuchtwahl zugrunde gehen, sei ein eugenisch wohltätiger Prozeß.2 Extreme Sozialdarwinisten forderten die "Opferung" des Individuums für das Ganze der Rasse bzw. des Volkes oder des Staates.3 Sozialdarwinistische Vorstellungen bildeten eine zentrale Grundlage des Rassismus und Antisemitismus.4
Eine amerikanische Variante übertrug die Analogie von biologischem Überlebenskampf und gesellschaftlichen Konflikten auf die Mechanismen der ökonomischen und sozialen Selektion der "kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft". Jene werden als Naturgesetze aufgefasst.5

Zur Kritik am Sozialdarwinismus
Gegen die Theorie des Sozialdarwinismus werden mehrere Einwände erhoben. Zum Beispiel: Biologen kritisieren die Übertragung biologischer Termini auf den nicht-biologischen Teil der Humansphäre (Erkenntnis, Ethik). Und aus philosophischer Sicht ergibt sich der Einwand, dass nicht "die Welt" angeschaut wird, sondern aufgrund einer verengten Optik nur ein schmaler Ausschnitt von ihr.6
Darwin war an der Umdeutung seiner Erkenntnisse in die Gesellschaftstheorie, den Sozialdarwinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nicht beteiligt. Höchstwahrscheinlich wäre er ihr nicht gefolgt. Im fünften Kapitel seines Buches "Abstammung des Menschen" schreibt er zum Beispiel: "Die Hilfe, die wir dem Hilflosen schuldig zu sein glauben, entspringt hauptsächlich dem Instinkt der Sympathie, die ursprünglich als Nebenform des sozialen Instinkts auftrat, aber in der schon früher angedeuteten Weise allmählich feiner und weitherziger wurde. Jetzt können wir die Sympathie nicht mehr unterdrücken, selbst wenn unsere Überlegungen es verlangten, ohne dass dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre."
Von diesen Gedanken Darwins ist es nur ein kleiner Schritt bis zu den in jüngster Zeit aufgekommenen Zweifeln am genetischen Egoismus. Der Biologe Thomas Weber zum Beispiel weist in seinem Buch "Darwin und die Anstifter" (Dumont 2001) hin auf viele Beispiele für Kooperation und Gemeinschaften, die auf einem hohen Maß an Solidarität beruhen.
Kritik an Darwin und an der Theorie des Sozialdarwinismus ist jedoch nicht Thema dieses Beitrags. Sie hat die Verbreitung des Schlagworts "sozialdarwinistisch" und eine gewisse Beliebtheit dieses Aspektes bei der Bewertung von Wirtschafts- und Gesellschaftsystemen bisher ohnehin nicht verhindern können.

Sozialdarwinismus bei Gesell?
Zustimmende Äußerungen zu Darwins Lehre sowie einige von Gesell benutzte Vokabeln und offenbarte Gedankengänge wecken Assoziationen in Richtung Sozialdarwinismus.7 Im Vorwort der 3. Auflage der NWO ist die Rede von "Auslese nach den Naturgesetzen", von "natürlicher Auslese", vom "Zuchtwahlrecht der Frau", und von einer Wirtschaftsordnung, in der dem "Tüchtigsten die Führung zufällt".8
So mancher Leser mag schon, von einigen Sätzen jenes Vorworts abgestoßen, das Buch gleich beiseite gelegt und sein ablehnendes Urteil gefällt haben: Sozialdarwinismus. Hat man jedoch das Gesamtkonzept kennen gelernt und sich näher über die Theorie des Sozialdarwinismus informiert, stellt sich die Frage, ob ihr die NWO entspricht, ob diese den Forderungen von Sozialdarwinisten genügen könnte.
Wie Werner Onken im Vorwort zu Band 7 der Gesammelten Werke Gesells berichtet, stand Gesell in persönlicher Verbindung mit Darwins Mitarbeiter A.R. Wallace, der sich ebenfalls "mit den beiden großen Menschheitsfragen nach dem Umgang mit Geld und Boden beschäftigte..., der als Präsident der englischen Landverstaatlichungsgesellschaft ähnliche Gedanken verfocht wie die Physiokraten." Von Darwin habe Gesell unbesehen Begriffe wie "Zuchtwahl" und "Hochzucht" übernommen. Lassen sie auf Rassismus schließen?

Gesell - ein Rassist?
Der ausgesprochene Kosmopolit hat wiederholt der Gleichberechtigung aller Menschen das Wort geredet und eine Bevorzugung bestimmter Rassen oder Völker verurteilt: "Der Erde, der Erdkugel gegenüber sollen alle Menschen gleichberechtigt sein,...ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Bildung und körperlichen Verfassung." 9 Und Gesell möchte die Rechte der einzelnen Menschen gegenüber den Rechten der Völker erweitert sehen. Gedanken einer Herrschaft von Rassen über Rassen lagen ihm völlig fern. Staatliche Rassenpolitik lehnte er ausdrücklich ab.10 Es soll jedem selbst überlassen sein, ob er sich mit Menschen anderer Rassen verbindet.11 Und wenn er zum Beispiel schreibt, "Die Völker, Staaten, Rassen, Sprachgemeinschaften, religiösen Verbände, wirtschaftliche Körperschaften, die auch nur im geringsten den Freilandbegriff einzuengen suchen, werden geächtet, in Bann getan und für vogelfrei erklärt"12, dann sind derartige Formulierungen keinesfalls wörtlich und tierisch ernst zu nehmen, sondern als typisch für Gesells unakademische, bisweilen saloppe Ausdrucksweise. Der Soziologe Franz Oppenheimer hat richtig "jenen absichtlich volkstümlich derben, ironischen Stil" Gesells verstanden.13
Und das den Frauen zugesprochene "Zuchtwahlrecht"? Wer zuckt bei diesem Begriff nicht zusammen! Er meint zunächst einmal die aufgrund wirtschaftlicher Unabhängigkeit gegebene Freiheit der Frau, sich ihren Partner nach Kriterien auszusuchen, die nicht von finanzieller Abhängigkeit oder Not diktiert sind, also nichts anderes als das, was heute jeder emanzipierten, finanziell auf eigenen Füßen stehenden Frau möglich ist und für sie wohl als selbstverständlich gilt. Dahinter steht gewiss Gesells Wunsch, die Frauen möchten nur mit gesunden, tüchtigen Männern Nachkommen zeugen, doch will gerade er nicht in die Freiheit des einzelnen Menschen eingreifen. Sein Wunsch wird nirgendwo als Befehl formuliert. Es liegt ihm völlig fern, den Menschen zu purem Zuchtmaterial zu degradieren und dessen Würde einem biologischen "Wohl" des Volkes oder des Staates zu opfern. Würde und Wohl jedes einzelnen Menschen sind ihm ein höchstes Anliegen. "Hochzucht" meint nicht die Züchtung bestimmter Menschenrassen, sondern Gesundung der gesamten Menschheit. Das ist zu verstehen im Sinne der "Emporbildung der Menschennatur" (Johann Heinrich Pestalozzi), wie Werner Onken in dem oben erwähnten Vorwort schreibt.
Rassist war der deutsch-argentinische Kaufmann gewiss nicht.

Hilfe für die Schwachen
Gesell erwartet für Kranke und Schwache Hilfe und uneigennützige Taten seitens der Tüchtigen und Gesunden. In dem oben erwähnten Vorwort zur NWO schreibt Gesell, dass sich die vorgesehene Wirtschaftsordnung in keiner Weise den höheren, arterhaltenden Trieben in den Weg stelle. "Im Gegenteil, sie liefert dem Menschen nicht nur die Gelegenheit zu uneigennützigen Taten, sondern auch die Mittel dazu. Sie stärkt diese Triebe durch die Möglichkeit, sie zu üben. Hingegen in einer Wirtschaft, wo jeder seinen in Not geratenen Freund an die Versicherungsgesellschaft verweist, wo man die kranken Familienangehörigen ins Siechenhaus schickt, wo der Staat jede persönliche Hilfsleistung überflüssig macht, da müssen, scheint mir, zarte und wertvolle Triebe verkümmern." Und im nächsten Absatz heißt es:
"Hierbei wollen wir zur Beruhigung der menschenfreundlichen Leser uns noch erinnern, daß Gemeinsinn und Opferfreudigkeit dort am besten gedeihen, wo mit Erfolg gearbeitet wird. Opferfreudigkeit ist eine Nebenerscheinung persönlichen Kraft- und Sicherheitsgefühls, das dort aufkommt, wo der Mensch auf seine Arme bauen kann."14
Denkt so jemand, der einen erbarmungslosen sozialdarwinistischen Kampf im Hinterkopf hat? Gesell betont, dass der Wettbewerb in seiner NWO keinesfalls die grausamen Folgen habe, wie sie in der Natur zu beobachten seien.15

Korrektur des status quo
Gesell ist - im Unterschied zu sozialdarwinistischen Vorstellungen - keinesfalls der Auffassung, bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten seien unumgänglich und dürften nicht korrigiert werden. Er sieht Privilegien, Monopole, ordnungspolitische Fehler, insbesondere im Bodenrecht und in der traditionellen Geldordnung. Darauf gründen gegenleistungslose Einkommen, Zinsen und Bodenrenten. Fairer freier Wettbewerb wird dadurch von vornherein verhindert. Eine Minderheit gelangt auf Kosten der Mehrheit zu immer größerem Reichtum. In der NWO wären jene Störfaktoren beseitigt. Eine Bodenrechtsreform und eine Geldreform bringen entscheidende Verbesserungen der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, so dass es nahezu nur noch Arbeitseinkommen gibt. Vollbeschäftigung wird höchstmögliche Löhne und niedrigstmögliche Preise gewährleisten. Die Zahl der wirtschaftlich Benachteiligten wird stark reduziert. Eine große Mehrheit, bisher dem Geldkapital Frondienste leistend, wird von den Reformen profitieren, ihre Fähigkeiten besser entwickeln und erfolgreicher einsetzen können. So wird auf ganz anderem Wege als sich Sozialdarwinisten das vorgestellt haben, die Entwicklung der Menschheit entscheidend gefördert, nicht durch Zugrundegehenlassen der Schwachen, sondern durch Korrektur des Status quo. Die Treppe sozialer Hierarchien wird zusammengedrückt, der Grad der Ungleichheit wesentlich verkleinert, die Zahl der Schwachen reduziert.
Und was spräche gegen caritative und öffentliche soziale Einrichtungen, wenn selbst in der NWO, in der die Zahl der Bedürftigen stark zurückgehen würde, private Hilfe nicht ausreichen sollte? Vertreter des Sozialdarwinismus jedoch lehnen jegliche staatliche Maßnahmen, auch gegen Rassendiskriminierungen und Kinderarbeit, ab.16

Chancengleichheit
"Wettbewerb identifiziert die besseren Lösungen", so hat es einmal jemand formuliert. Zentralverwaltungswirtschaften schaffen dies nicht. Wer jeglichen Wettbewerb ablehnt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er damit Stillstand und gar Rückschritt befürwortet. Höherentwicklung bliebe aus, sowohl die wirtschaftlicher Produktivität als auch die der Individuen - geistig, kulturell und im Selbstwertgefühl. Wer möglichst alle Schwierigkeiten im Leben meidet, bleibt stehen oder entwickelt sich gar zurück. Der Mensch fördert hingegen seine Entwicklung, wenn er im Wettbewerb seine Kräfte erfahren, sich behaupten kann. Natürliche Ungleichheiten - Begabung, Fähigkeiten, Fleiß - lassen sich nicht beseitigen. Daher ist Chancengleichheit wesentliche Voraussetzung für fairen freien Wettbewerb. Gesell möchte allen "die gleiche Ausrüstung" dafür geben, durch Beseitigung struktureller Ungleichheiten.17 Und das geschieht vor allem mit einer Boden- und Geldreform, durch die Machtgebilde und Privilegien aufgelöst werden.18 Jeder kann dann Beschäftigung und sein Auskommen finden. Und die natürlichen Unterschiede ergeben bei weitem nicht jene krassen Einkommensdifferenzen wie bisher aufgrund gegenleistungsloser Einkommen. Die Position des Produktionsfaktors Arbeit wird gestärkt. Bei minimalen Kapitalkosten können sich weit mehr tüchtige Arbeiter selbständig machen. Insgesamt würde sozialökonomisch erheblich mehr erreicht als vordem mit staatsinterventionistischen, staatssozialistischen und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen.

Herrschaft der Tüchtigen?
Wie ist Gesells Äußerung zu verstehen, dem Tüchtigsten werde die Führung zufallen? Auch diese Formulierung kann leicht missverstanden werden. Gesell strebt eine herrschaftsfreie Gesellschaft an: Niemand soll über andere herrschen, also auch nicht der Taugliche über weniger Taugliche. Dementsprechend spricht Gesell an derselben Stelle von einer Wirtschaftsordnung, in der "jedes Vorrecht aufgehoben ist." Durch die Brille des heutigen deutschen Grundgesetzes gesehen: Es geht um die Gleichberechtigung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, um die gleiche Freiheit für alle. Gleichheit (auch der Startchancen) ist als eine Voraussetzung der Freiheit für alle zu verstehen.19 In der realexistierenden Marktwirtschaft können weniger Tüchtige aufgrund von Privilegien und Monopolen gegenüber den Tüchtigen wirtschaftlich durchaus erfolgreicher sein. In der NWO werden auch Tüchtige nicht mehr an ihrer Entfaltung gehindert. Sie werden im allgemeinen wirtschaftlich erfolgreicher sein. Werden sie sich aber deshalb, wie Gesell glaubt, stärker fortpflanzen?

Auslese nach den Naturgesetzen?
"Die Auslese durch den freien, von keinerlei Vorrechten mehr gefälschten Wettstreit wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung vollständig von der persönlichen Arbeitsleistung geleitet, wird also zu einem Sichauswirken der Eigenschaften des einzelnen Menschen. Denn die Arbeit ist die einzige Waffe des gesitteten Menschen in seinem "Kampfe ums Dasein". Durch immer bessere, höhere Leistungen sucht sich der Mensch im Wettbewerb zu behaupten. Von diesen Leistungen hängt es allein ab, ob und wann er eine Familie gründen, wie er die Kinderpflege üben, die Fortpflanzung seiner Eigenschaften sichern kann."
Gesell meint, dass die wirtschaftlich Schwächeren wegen geringerer Einkommen weniger Kinder zeugen werden: "Entsprechend ihrer geringeren Leistungen stoßen sie bei der Familiengründung, bei der Kinderpflege auf größere Hemmungen, die sich in eine geringere Nachkommenschaft umsetzen müssen." Und es steht für ihn "außerhalb jeden Zweifels", dass der freie Wettbewerb den Tüchtigen begünstige und seine stärkere Fortpflanzung zur Folge habe.20 Eine solche Entwicklung muss aber keinesfalls zwangsläufig so eintreten, bedenkt man den hohen Grad an Freiheit, die Gesell jedem Menschen zugesteht.
Hängt die Zahl der Kinder einer Familie so sehr von der finanziellen Lage der Eltern ab? Wenn der ideell-menschliche Wunsch nach Kindern und Familie stark ist, werden Geringerverdienende durchaus einen niedrigeren Lebensstandard hinnehmen wollen. Zur Hilfe kommt ihnen eventuell Unterstützung seitens der Tüchtigen - jedenfalls erwartet das Gesell (siehe oben). Und werden andere aufgrund höherer Einkommen unbedingt mehr Kinder in die Welt setzen? Wenn bei ihnen der Wunsch nach Kindern und Familie nicht ausgeprägt ist und/oder sie nicht bereit sind, sich in verschiedener Hinsicht einzuschränken und die Mühen der Erziehung auf sich zu nehmen, wird auch die bessere finanzielle Lage nicht entscheidend sein für die Zahl der Nachkommen.
Und welche "Garantie" bietet das "Zuchtwahlrecht" der Frau? Spielen bei der Partnerwahl nicht noch andere Kriterien eine Rolle als optimale Gesundheit und Intelligenzquotienten der Männer, zum Beispiel die Liebe? Gesell wünscht sich zwar, langfristig mögen immer weniger Ungesunde und Schwache zur Welt kommen, aber Erhaltung und Fortpflanzung des Krankhaften lässt sich im freiheitlichen Klima der NWO nicht verhindern. Und die ärztliche Kunst, die Möglichkeit, Kranken und konstitutionell Schwachen das Leben zu verlängern, hat er selbstverständlich befürwortet, wenn er sie auch andererseits als die "Hochzucht" des Menschen verlangsamend bezeichnet21 - eine Feststellung zwar im Sinne des Sozialdarwinismus, aber auf dem hohen sozialökonomischen Niveau der NWO ist es nun mal nichts mit "natürlicher Auslese" im Sinne des Sozialdarwinismus. (Vgl. oben unter "Beseitigung des status quo"!)
Respekt vor der Freiheit und Würde des Menschen haben Gesells Gesamtkonzept geprägt und nicht ein sozialdarwinistischer Forderungskatalog. Was sollen Vertreter des Sozialdarwinismus von folgenden Gedanken halten?
"Der Mensch ist das Maß aller Dinge, darum auch Maß seiner Wirtschaft...Damit der Mensch gedeihe, muß es ihm möglich gemacht sein, sich in allen Lagen so zu geben, wie er ist. Der Mensch soll sein, nicht scheinen. Er muß immer erhobenen Hauptes durchs Leben gehen können und stets die lautere Wahrheit sagen dürfen, ohne dass ihm daraus Ungemach und Schande erwachsen. Die Wahrhaftigkeit soll kein Vorrecht der Helden bleiben."22

Zu Gesells Soziologie
Anstoß erregt auch immer wieder die Betonung des Eigennutzes, in dem Gesell den Hauptantriebsmotor des Wirtschaftens sieht. Ein schrankenloser Egoismus ist damit aber nicht gemeint: "Auch sei hier noch bemerkt, dass Eigennutz nicht mit Selbstsucht verwechselt w erden darf. Der Kurzsichtige ist selbstsüchtig, der Weitsichtige wird in der Regel bald einsehen, dass im Gedeihen des Ganzen der eigene Nutz am besten verankert ist."23 Hier ist die Basis für Gesells Soziologie zu sehen, worauf bereits Benedikt Uhlemayr in seiner Schrift "Silvio Gesell" (1931) hingewiesen hat. Gesell hat das Gedeihen des einzelnen und des Ganzen im Blick. Wettbewerb und das Waltenlassen natürlicher Prinzipien haben dort ihre Grenzen, wo das Gedeihen des Ganzen und der Individuen gefährdet ist. Die entscheidenden, unverzichtbaren Rahmenbedingungen werden mit einer Bodenrechts- und Geldreform geschaffen. Wie künftige freie Gesellschaften weiteres im Einzelnen regeln, muss ihnen überlassen bleiben. Es lassen sich ohnehin nicht sämtliche gesellschaftlichen Probleme im Modell so abbilden, dass alle Möglichkeiten ihrer Bewältigung für die Zukunft erklärt werden können. Wie viel oder wie wenig Staat künftige Generationen brauchen, ist nicht vorherzusehen. Deshalb wäre es müßig, hier auch die Träume des späten Gesell von einem nahezu völligen Abbau des Staates zu diskutieren.

Scheinthema Sozialdarwinismus
Gesell vergleicht seine NWO mit der Manchester-Schule, die auf dem richtigen Wege gewesen sei. Sie glaubte, das Gesetz von Angebot und Nachfrage würde alle in der Wirtschaft wirkenden Kräfte jeweils selbsttätig mit einander ins Gleichgewicht bringen. Der Sozialreformer kritisiert aber an den Manchester-Leuten zu Recht, dass sie die Wirkungen der primären Monopole, der Geld- und Bodenmonopole, übersehen haben, die das Erreichen eines Gleichgewichtzustandes verhindern. Jenen wiederum zustimmend schreibt Gesell: "...und auch, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig."24 Damit wird ein kultureller Entwicklungs- und Ausleseprozess möglich, wie ihn sich der angelsächsische Liberalismus vorstellte:
"Institutionelle Neuerungen entstehen durch spontanes Handeln der Menschen und treten in Konkurrenz zu bisherigen Lösungen, wobei sich diejenigen durchsetzen, die am zweckdienlichsten sind. Das so aus dem selbstinteressierten und autonomen Handeln der Menschen entstehende Ordnungsgefüge konstituiert eine für alle Gesellschaftsmitglieder akzeptable Ordnung und gewährleistet die individuelle (politische und ökonomische) Freiheit." Dazu "soll der Staat eine für alle Menschen unterschiedslose verbindliche Rechtsordnung errichten...".25
Aus jener Zustimmung Gesells und seiner hier und da verdächtigen Wortwahl lässt sich kein sozialdarwinistischer Strick drehen. Die vorgesehenen Reformen stellen eine so gravierende Änderung der bisherigen Zustände und Bedingungen dar, dass allein schon aus diesem Grunde von Sozialdarwinismus nicht gesprochen werden kann. Vertreter sozialdarwinistischer Theorien könnten sagen: Gesell gebraucht starke Worte, aber nichts dahinter. Seine NWO müssen sie ablehnen.
Die von Gesell benutzten argwöhnischenVokabeln entpuppen sich im Rahmen seines Gesamtkonzeptes als harmlos, sie sind nicht in echt-sozialdarwinistischem Sinne, nicht in unhumaner Absicht, gemeint. Der Begriff Sozialdarwinismus findet sich in Gesells Publikationen nicht. Offenbar waren ihm die schlimmen Theorien, der Missbrauch, den man mit Darwins Lehre getrieben hat, nicht bekannt. Sozialdarwinismus offenbart sich in Verbindung mit Gesell und seiner NWO als ein Scheinthema.

Anmerkungen:
  1. Bis hier nach
    - Brockhaus Enzyklopädie Bd. 20, 1993, S. 251.
    - Herder Staatslexikon Recht Wirtschaft Gesellschaft Bd. 1, 1985, S. 1165.
    - Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 22, 1989, S. 151/152.
    - Lexikon der Soziologie. Westdeutscher Verlag Opladen. 1978, S. 705.
    - G. Endruweit/G. Trommsdorf, Wörterbuch der Soziologie. Bd. 3, 1989.
  2. Herders Staatslexikon Bd. 2, 1958, S. 550.
  3. Vgl. Anm. 2, S. 550.
  4. Vgl. Anm. 1, Brockhaus S. 521.
  5. Vgl. Anm. 1, Brockhaus S. 251.
  6. Vgl. Anm. 2, S. 1165/1166. Ferner: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. 2, 1959, S. 549: Soziologischer Darwinismus und seine Gegner.
  7. Bei den diversen diesbezüglichen Veröffentlichungen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird, die einen besonderen ausführlichen Beitrag erforderlich machen würden, ist zu unterscheiden zwischen denen, die um sachliche Erörterung bemüht sind und solchen, die offensichtlich in diffamierender Absicht geschrieben sind, von Autoren, denen die NWO Gesells von vornherein nicht ins ideologische Weltbild passt. Die Kritiken berücksichtigen durchweg das Gesamtkonzept Gesells nicht oder nur zum Teil.
  8. Silvio Gesell, Die Natürliche Wirtschaftsordnung, 1949, S. 12-24.
  9. Vgl. Anm. 8, S. 85 u. 92. Ferner: Gesell, Gesammelte Werke Bd. 14, S. 209.
  10. Vgl. Anm. 8, S. 85.
  11. Gesell, Gesammelte Werke Bd. 14, S. 209.
  12. Vgl. Anm. 8, S. 92.
  13. Franz Oppenheimer, Freiland - Freigeld. Kritik der Geld- und Krisentheorie Silvio Gesells. In: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 1935 III, S. 337.
  14. Vgl. Anm. 8, S. 13/14 u. 17.
  15. Siehe auch oben den Abschnitt "Zur Kritik am Sozialdarwinismus".
  16. Vgl. Anm. 1, Herder Staatslexikon Bd. 1, S. 1165.
  17. Vgl. Anm. 8, S. 12-20.
  18. Ob der heutigen Übermacht internationaler Konzerne und der weltweiten Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen allein mit einer Boden- und Geldreform beizukommen wäre, muss bezweifelt werden.
  19. Dieter Suhr, Gleiche Freiheit. Allgemeine Grundlagen und Reziprozitätsdefizite in der Geldwirtschaft. 1988. S. 6/7.
  20. Vgl. Anm. 8, S. 17.
  21. Vgl. Anm. 8, S. 17.
  22. Vgl. Anm. 8, S. 12.
  23. Vgl. Anm. 8, S. 14.
  24. Vgl. Anm. 8, S. 14.
  25. Gabler Wirtschaftslexikon Bd. 4, 1988, S. 122: Zum angelsächsischen Liberalismus.

Vorurteile gegen Gesell und die Freiwirtschaftstheorie aufgrund der NS-Parole "Brechung der Zinsknechtschaft"

Von Josef Hüwe

"Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens, Brechung der Zinsknechtschaft", so heißt es im Punkt 11 des Grundsätzlichen Programms der NSDAP vom 24.2.1920. In demselben Jahr erschien "Das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes" von dem NS-Vordenker Gottfried Feder (1883-1941). Diese müsse beim Leihkapital einsetzen. "Der Leihzinsgedanke ist die teuflische Erfindung des Großleihkapitals." (1)
In seinem Buch "Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage" (3. Aufl. 1924) erklärt Feder: "Unter Zinsknechtschaft ist zu verstehen die zinspflichtige Verschuldung von Staat und Volk gegenüber den überstaatlichen Geldmächten." An anderer Stelle spricht er von der "Zinsknechtschaft des jüdischen Weltwucherkapitals". (2)
Zentraler Punkt des Federschen Lösungsvorschlags ist die "Finanzierung aller großen öffentlichen Aufgaben - Ausbau der Wasserkräfte, Verkehrswege - unter Vermeidung des Anleiheweges durch Ausgabe zinsloser Staatskassengutscheine." (3) Zu den öffentlichen Aufgaben zählte er später auch die Rüstungsproduktion. Feder hat jedoch keinerlei Vorschläge gemacht für zinslose Verschuldungen innerhalb des privaten Sektors, der Staatsbürger untereinander, und einen Abbau des Zinses dafür auch gar nicht gefordert. (3a)
Adolf Hitler war von Feder sogleich sehr angetan, als er ihm im Jahre 1919 begegnete: "Zum ersten Mal in meinem Leben vernahm ich eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem internationalen Börsen- und Leihkapital." (4) Feder hat auf das Programm der NSDAP wesentlichen Einfluß gehabt. Er wurde ihr führender Wirtschaftstheoretiker.

Silvio Gesell (1862-1930)
Unbelastet durch einen Glauben an Verschwörungstheorien sah Gesell in der Hortbarkeit des Geldes, in dessen Überlegenheit gegenüber den Waren, die Ursache des Zinses und einen entscheidenden Hinderungsgrund dafür, daß Sachkapital- und Geldkapitalzinsen im Zuge einer Wirtschaftsblüte nicht gegen null sinken. Vielmehr häufen sich "durch das System der Zinsen die Capitalien unnatürlich soweit an, daß die Schulden, die diesen Capitalien entsprechen, trotz des besten Willens und angestrengtester Arbeit nicht mehr verzinst werden können und den Bankrott der Schuldner zur Folge haben." (5)
Mit seinem Hauptwerk "Die natürliche Wirtschaftsordnung" (NWO)(6) hat der deutsch-argentinische Kaufmann eine Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftswesens vorgelegt, ein Gesamtkonzept, in dem er die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung, die Ausbeutung der Arbeit und die Ursachen von Wirtschaftskrisen in Verbindung mit dem Prinzip von Zins und Zinseszins aufzeigt. Seine Lösungsvorschläge sind mit den Begriffen Freiland, Freigeld, Freihandel und Festwährung umschrieben. Zum Beispiel soll mittels einer Umlaufsicherung des Geldes, durch Erhebung von Gebühren auf Liquiditätsspeicherung (Hortung), diese verhindert werden und das Zinsniveau bei stetiger Kapitalvermehrung und zunehmender Bedarfsdeckung (Sättigung) auf null sinken können, ausgenommen die Zinsbestandteile Bankgebühren und Risikoprämien. Somit würden die Arbeiter, zu denen auch der arbeitende Unternehmer zu zählen ist, den vollen Arbeitsertrag erhalten. Auch J.M. Keynes hat später die Auffassung vertreten, die relative Kapitalknappheit könne allmählich überwunden werden, so daß Kapital keinen Zins mehr abwerfen würde.(7) (Voraussetzung wäre heute allerdings, daß die Nachfrage nach Kapital nicht mehr laufend künstlich gesteigert würde durch wachsende Staatsverschuldung und Subventionspolitik.) Gesell strebte also mit entsprechenden Rahmenbedingungen eine rein marktwirtschaftliche Lösung des Zinsproblems an und keinen Dirigismus, kein willkürliches Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsgeschehen selbst, vorbei an realen Marktverhältnissen.

Feder von Gesell "beseelt"?
Bei oberflächlicher Betrachtung der Gesellschen Forderung nach Abbau des Zinses stellt sich leicht die Assoziation "NS-Parole Brechung der Zinsknechtschaft" ein. Daraus werden dann häufig voreilige Schlußfolgerungen gezogen und Vorurteile konstruiert. Carl Amery zum Beispiel meinte, Feder sei von Gesell "beseelt" gewesen. (8) Einen Nachweis für diese Behauptung ist Amery schuldig geblieben. Derartige Annahmen werden oft nachgeplappert und um weitere angereichert, wie Faschismus und Rassismus, oder um seltsame Blüten von Küchenlogik: Kritik am Zins sei Zeichen von Antisemitismus, weil die Juden im Mittelalter als Zinsnehmer "par excellence" gegolten hätten!

Feder, die NSDAP und Gesell
Was ist dran an der Behauptung, Feder sei von Gesell "beseelt" gewesen? Sind sich die beiden überhaupt jemals begegnet? Ja, in den Tagen, als Gesell Finanzminister in der Münchener Räterepublik war (April 1919). Am Rande einer vom "Vortrupp" veranstalteten Versammlung trafen an einem Abend im Restaurant "Ceres" in München zusammen: Gesell, sein Mitarbeiter Dr. Christen, Feder und dessen Mitstreiter Bothmer und Dietrich Eckart. Letzterer, ein Freund und Mitarbeiter Hitlers, hat darüber berichtet, und zwar mit sehr abfälligen Worten und mit häßlichen antisemitischen Ausfällen gegen Dr. Christen. (9) Eckart fügt seinen Ausführungen hinzu: "Überhaupt, was haben diese beiden Finanzgenies, er und Gesell, für leeres Stroh gedroschen an diesem Abend! Die aschgraueste Theorie, ohne einen Funken lebendigen Geistes, Worte, nichts als Worte!"

Wie reagierten Feder und die NSDAP in der Folgezeit auf Gesells Reformvorschläge?
  • Im November 1920 veröffentlichte die Zeitschrift "Hammer" (Nr. 441) einen Artikel Feders mit dem Titel "Die Irrlehre des Freigeldes".
  • Die Vorschläge Gesells sind zwar von einigen Mitgliedern der NSDAP aufgegriffen und diskutiert worden, sie wurden aber auf einer zwischenstaatlichen Tagung in Linz im August 1921 von der Partei restlos abgelehnt. Darüber berichtet Feder ausführlich in drei Folgen der Zeitschrift "Volk und Gemeinde. Monatsblätter für nationalen Sozialismus und Gemeindepolitik", Jahrgang 1922, Folgen 3, 5 und 8.
  • In einer Beilage zum "Völkischen Beobachter" vom 27.10.1923 hat der NS-Wirtschaftsexperte in einem Beitrag mit dem Titel "Falsche Propheten und Schwarmgeister" Gesell als den gefährlichsten "dieser deutschen Propheten" bezeichnet.
  • In seinem Buch "Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage" (3. Aufl. 1924, S. 171) schreibt Feder: " Silvio Gesell gehörte zu den höchst problematischen Existenzen, die in den schlimmsten Zeiten der Münchener Räterepublik an die Oberfläche geschwemmt worden sind." Er habe "mit den damaligen jüdischen Bluthunden gemeinsame Sache gemacht". Auch hier kritisiert Feder Gesells Konzept als "Irrlehre".

Für einen Einfluß Gesells auf Feders "Brechung der Zinsknechtschaft" und umgekehrt gibt es keinerlei Anzeichen, geschweige denn, dass Feder von Gesell "beseelt" gewesen wäre.

Kritik seitens der Freiwirtschaftler
Vertreter der Freiwirtschaftslehre übten ihrerseits scharfe Kritik an Feders Vorstellungen und am Wirtschaftsprogramm der Nationalsozialisten. Einige der Hauptkritikpunkte waren: Verkennung der Ursache des Zinses, das Fehlen einer Kapitaltheorie, einseitige, negative Bewertung des Leihkapitals, diesbezüglich personenbezogenes Feindbild (Juden!), Verstaatlichung des Kredits, der Börsen und Banken, Außerachtlassung des Währungsproblems.
So kam zum Beispiel Dr. B. Uhlemayr 1923 in einem längeren Beitrag zu dem Schluß: "Das Wirtschaftsprogramm der Nationalsozialisten ist dilettantenhaft und deshalb gefährlich. Vom Standpunkt der freiwirtschaftlichen Erkenntnis aus muß es auf das schärfste bekämpft werden. Ein Pakt mit dem Nationalsozialismus ist für uns unmöglich..." (10)
In demselben Jahr bezeichnete der Freiwirtschaftler Otto Maaß Feders "Brechung der Zinsknechtschaft" sogar nur als eine "leere Redensart". (11) Ein solches Urteil mag zwar den Bemühungen Feders nicht ganz gerecht werden, regt aber dazu an, zeitlich einen Bogen zu schlagen zu der Feststellung Erich Fromms Anfang der vierziger Jahre, Hitler habe sein Versprechen, die Zinsknechtschaft zu brechen, nie eingelöst. (12) Zehn Jahre früher hatte schon der Kommunist Ernst Niekisch den Hitlerschen "Sozialismus" als "ein Taschenspielerkunststück der kapitalistischen Ordnung" bezeichnet. Hitler habe den Unterschied zwischen raffendem und schaffendem Kapital gemacht, "wobei es am Ende keinen reichen Mann mehr gab, dem es verwehrt worden wäre, sich dem schaffenden Kapital zuzurechnen." (13)
Auch Karl Walker, ein führender Wirtschaftstheoretiker der Freiwirtschaftsbewegung, hat noch kurz vor der Machtergreifung den Nazis, speziell auch Feder, gravierende geldtheoretische Defizite und Ratlosigkeit in der Währungsfrage vorgehalten. (14) In Gesells Veröffentlichungen sind Feder und die NSDAP kein Thema.

Gesellianer einflußlos und Feder kaltgestellt
Feder erhielt nach der Machtergreifung Hitlers keine wirklichen Machtbefugnisse. Er wurde auf den relativ unbedeutenden Posten eines Staatssekretärs für die Wirtschaft abgeschoben. "Die Steuern und der Zinsfuß waren genauso drückend wie früher, von der 'Brechung der Zinsknechtschaft', die Feder - jetzt Staatssekretär - seinerzeit versprochen hatte, konnte keine Rede sein." (15) Hjalmar Schacht setzte als Wirtschaftsminister im Jahre 1934 Feders Entlassung durch. Er konnte ihm das Schlagwort "Brechung der Zinsknechtschaft" nicht vergeben.(16) Die von Schacht eingeleiteten Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft beruhten allerdings zum Teil auch auf Ideen des NS-Vordenkers. (17)
Gesell aber und die Freiwirtschaftstheorie waren nicht nur bei Feder auf Ablehnung gestoßen. Gesell war für Hitler ein "rotes Tuch", wie SA-Stabschef Röhm bemerkt haben soll. (18) Der Freiwirtschaftsbund wurde bald nach Hitlers Machtergreifung verboten. (18a)
Die Freiwirtschaftsbewegung ist ohne Einfluß auf den Nationalsozialismus geblieben. Weder wurde die Zinsproblematik noch die Bodenfrage noch das Währungsproblem gelöst. Die Wirtschafts- und Geldpolitik des Hitlerregimes hat schließlich Deutschland die zweite große Inflation beschert, die 1948 eine Währungsreform erforderlich machte.

NWO und NS-Ideologie unvereinbar
Gesells Geisteshaltung und sein Gesamtkonzept waren a priori unvereinbar mit der Nazi-Ideologie. Er war Kosmopolit, dachte weder nationalistisch noch autoritär. (Gesell hat auch eine internationale Währungseinheit vorgeschlagen.) Die Gleichberechtigung aller Menschen war für ihn selbstverständlich, und er hatte keine Rassenvorurteile. Von seiner Wirtschaftsordnung erhoffte er sich eine Höherentwicklung der Menschen. Ein Gesellscher Sozialdarwinismus - auch ein immer wieder erhobener Vorwurf - kann davon aber nicht abgeleitet werden. Durch Gesells hier und da sozialdarwinistisch klingendes Vokabular sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß sein Gesamtkonzept den Vorstellungen des Sozialdarwinismus nicht entspricht. (19)
Und statt antisemitischer findet man bei Gesell eher prosemitische Äußerungen. Zum Beispiel: "Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens." ..."Die Münzreform schützt die Juden nicht allein vor jeder weiteren Verfolgung, sondern sie sichert auch der deutschen Wissenschaft und Gesetzgebung die Mitwirkung jüdischen Scharfsinnes." (20) (Der Begriff Münze meint hier selbstverständlich auch das Papiergeld. Der Verf.)
Die Kritik Gesells an der traditionellen Geldordnung und an den negativen Auswirkungen von Zins und Zinseszins ist keinesfalls antisemitisch gemeint. Auch der bisweilen zu hörende Faschismusvorwurf trifft völlig daneben. Zahlreiche Mitbürger verschließen heute noch vor der Zinsfrage die Augen, weil sie meinen, sie würden andernfalls der NS-Parole "Brechung der Zinsknechtschaft" folgen. So steht noch heute so mancher unter dem Einfluß der NS-Lügenpropaganda und hat insofern die Vergangenheit noch nicht bewältigt. Trotz der Unvereinbarkeit von Gesells NWO und der NS-Ideologie und trotz der unüberbrückbaren Divergenzen zwischen Feder und Gesell haben etliche Vertreter freiwirtschaftlicher Reformvorschläge Hoffnungen auf Hitler gesetzt und versucht, Einfluß auf das Wirtschaftsprogramm der NSDAP zu nehmen, allerdings ohne Erfolg.(21) Ein derartiges Fehlverhalten und der entsprechende Mißbrauch von Gesells Reformvorschlägen kann aber selbstverständlich weder diesem noch der Freiwirtschaftsbewegung insgesamt angelastet werden.

Feders Vordenker
Bleibt noch die Frage zu beantworten: Von wem war Feder "beseelt", wenn nicht von Gesell? Darüber hat der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Senft Nachforschungen angestellt.(22) Feder selbst gibt in seinem Buch "Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage" einen Hinweis auf die Quellen, aus denen er schöpft. Wie Senft herausgefunden hat, waren es insbesondere die Publikationen von zwei Geldreformern der bis zur Jahrhundertwende nicht unbedeutenden Wiener Schule, Wenzel Schober und Prof. Josef Schlesinger, zwei schlimmen Antisemiten. Schlesinger wurde 1899 von Karl Kraus in der Zeitschrift "Die Fackel" als Plagiator Houston Stewart Chamberlains entlarvt, der als einer der wesentlichen Vorläufer des Nationalsozialismus gilt.
Auf die teils dubiosen geldtheoretischen und geldpolitischen Ansichten jener Wiener Geldreformer ist hier nicht weiter einzugehen. Gesell hatte mit ihnen jedenfalls nichts zu tun. Er machte damals in Argentinien als selbständiger Kaufmann aufgrund von Beobachtungen der Preisbewegungen ganz allein und ideologiefrei seine eigene Entdeckung der besonderen Eigenschaften des traditionellen Geldes und der darauf beruhenden diversen negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Laut Senft läßt sich "klar nachvollziehbar aufbereiten, daß nicht nur der extreme Antisemitismus der NSDAP, sondern auch die Kernteile ihres Wirtschaftsprogramms Importartikel aus dem Wien der Jahrhundertwende gewesen sind."

Anmerkungen:

  1. Gottfried Feder: Das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes. 1920, S. 5.
  2. Gottfried Feder: Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage. 1935, S. 37.
  3. Wie Anm. 2, S. 43.
    3a) So auch Feders Biograph Arthur Herrmann in seinem Buch: Gottfried Feder. Der Mann und sein Werk. 1933, S. 36.
  4. Adolf Hitler: Mein Kampf. 1939, S. 229.
  5. Silvio Gesell: Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum socialen Staat. 1891. In: Gesell/Gesammelte Werke Bd. 1, 1988, S. 41.
  6. Erste Auflage unter dem Titel: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld. 1916.
  7. J.M. Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. 1936, S. 317.
  8. Carl Amery: Die philosophischen Grundlagen und Konvergenzen der Alternativbewegung. In: Lüdtke/Dinné (Hg.): Die Grünen - Personen, Projekte, Programme. Stuttgart 1980, S. 13.
  9. Dietrich Eckart in "Auf gutdeutsch - Wochenschrift für Ordnung und Recht." 1. Jg. 1919, Nr. 19/20, S. 300-302. Eckart war Chefredakteur des Völkischen Beobachters.
  10. Dr. B. Uhlemayr: Das Wirtschaftsprogramm der NSDAP. In: Die Freiwirtschaft durch Freiland und Freigeld. Hefte Juni und Juli 1923. Sonderdruck S. 2f.
  11. Otto Maaß: Die Brechung der Zinsknechtschaft durch G. Feder. In: Wie Anm. 10, S. 13.
  12. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. 1941. 2. Aufl. 1983, S. 191.
  13. Ernst Niekisch: Hitler - ein deutsches Verhängnis. 1932, S. 17 u. 25.
  14. Karl Walker: Das Problem unserer Zeit und seine Meisterung. 3. Aufl. 1932.
  15. Charles Bloch: Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934.1970, S. 51 u. 90.
  16. Wie Anm. 15, S. 141/142.
  17. G. Stolper: Deutsche Wirtschaft 1870-1940. 1950.
  18. Will Noebe: Geheime Mächte. 1965, S. 102.
    18a) Hans-Joachim Werner: Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung.1990(1989) S. 90/91.
  19. Josef Hüwe: Entspricht das Konzept der "Natürlichen Wirtschaftsordnung" SilvioGesells den Vorstellungen von Sozialdarwinisten? In: DER DRITTE WEG, 9/1994.
  20. Silvio Gesell: Nervus rerum - Fortsetzung zur Reformation im Münzwesen. 1891.In: Gesell/Gesammelte Werke Bd. 1, 1988, S. 140/141.
  21. Hans-Joachim Werner: Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung. 1990 (1989). Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung Silvio Gesells. 1994. Günter Bartsch und Werner Onken: Natürliche Wirtschaftsordnung unter dem Hakenkreuz. Anpassung und Widerstand. 1996.
  22. Gerhard Senft: Vom "Volksgeld" zum "Mefo-Wechsel". Über Ursprung und Wesen der nationalsozialistischen Geld- und Finanzpolitik. In: Zeitschrift für Sozialökononomie, 85. Folge, Juni 1990

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