Gender-Trouble

KURZNACHRICHTEN ZU REPRESSIONSTHEMEN

2023


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Verfasst im November - für Contraste im Januar 2024
Beteiligungsmöglichkeiten und Beteiligungsrechte
Mit ihrem Vorschlag zu Gesellschaftsräten macht die „Letzte Generation“ zurzeit die Idee von Bürger*innenräten populär. Für solch einen Rat werden Menschen nach einem repräsentativen Schlüssel ausgelost. Dadurch können sie die verschiedenen sozialen Schichten einer Gesellschaft besser abbilden als gewählte Parlamente, da in diesen überwiegend reichere, gebildete, karriereorientierte und dadurch auf Wahllisten und dann in der Öffentlichkeit durchsetzungsstärkere Personen dominieren. Parlamente sich folglich eher Vertretungen privilegierter Kreise, während Bürger*innenräte die ganze Breite der Bevölkerung abbilden können.
Wie bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen gilt aber auch für Beteiligungsformen: Die Mischung macht’s. Bürger*innenräte sollten daher immer von weiteren Formen des Austausches und der Ideenentwicklung begleitet werden. Das schon etwas betagte „Bürgerhandbuch“ von Paul Ackermann und Ragner Müller (2015, Wochenschau in Schwalbach, 310 S.) kann da gute Dienste leisten, informiert es doch übersichtlich gegliedert und ansprechend aufgemacht über die Beteiligungsmöglichkeiten, die das bestehende System seinen Bürger*innen bietet. Vom Wählen über das Gründen oder Mitmischen in Parteien und Verbänden, Beteiligungsverfahren in Kommunalpolitik oder Planungen und Akteneinsicht bis zur Einflussnahme als Verbraucher*in erhalten die Leser*innen Einblick in Handlungsmöglichkeiten. Abbildungen zeigen Verfahrensabläufe, allerdings führt die Kürze der Darstellung zu Lücken oder sogar Fehlern wie beim Recht auf Akteneinsicht (S. 242), welches ganz andere und viel weitergehende Rechtsgrundlagen hat. Protestformen des zivilen Ungehorsams fehlen ebenfalls, obwohl sie Beteiligungsprozesse beflügeln können.

Justiz als Legislative und Teil der Macht
Georg Büchner nannte die Justiz die "Hure des Fürsten". Diese fraglos sexistische Formulierung (Hure als Stigmatisierung berufstätiger Frauen, zudem hier noch als Schimpfwort genutzt) sagt in der Sache etwas Richtiges aus – nämlich dass Gerichte nicht unabhängig sind, sondern Teil der Sphäre herrschender Funktions- und Deutungseliten. Die kontrollieren sich nicht gegenseitig, sondern spielen sich die Bälle zu. Die Gewalten sind nicht geteilt, sondern einander zu Diensten. Die Justiz agiert dabei einerseits als Absicherung von Macht gegen Rebellion und Abweichung, andererseits tritt sie immer öfter selbst in die Rolle der Machtausübenden. Durch Urteile und Beschlüsse, die Recht umdefinieren und Sanktionen verhängen, agieren sie wie eine Legislative mit direkt exekutiver Wirkung. Auffälliges Beispiel sind jüngste Beschlüsse von Oberlandesgerichten und Oberverwaltungsgerichten zu politischen Aktionen. Denen wird dabei das Recht abgesprochen, für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit das Autofahren zu behindern (VGH Hessen) oder sich auf Rechtfertigungsgründe bei Protesten zu berufen, denn solche gäbe es in Rechtsstaaten nicht. Dort dürften die Bürger*innen durch das Angebot an Beteiligung und zum Wählen auch nur dieses wahrzunehmen, ansonsten aber die Füße stillzuhalten. Wortlaut und Quellen der Beschlusse sind auf justiz.siehe.website zu finden.

Endlich: Digitale Korrespondenz für Normalbürger*innen
Seit einigen Monaten ist das Justizpostfach als kostenlose Alternative zum elektronischen Bürgerpostfach und zum De-Mail Konto online, mit dem rechtswirksam mit der Justiz kommuniziert werden können soll (§ 32a Abs. 4 Nr. 5 StPO, § 130a Abs. 4 Nr. 5 ZPO, §55a Abs. 4 Nr. 5 VwGO u.v.m.). Die Registrierung läuft laut der Internetseite ebo.bund.de am sichersten über eine BUND-ID per freigeschalteter Online-Ausweisfunktion in Kombination mit einem NFC-fähigen Smartphone oder Kartenlesegerät. Angeboten werden auch der Weg über einen Elsterzugang oder Email-Adresse mit Passwort, allerdings ist zweifelhaft, ob das dann auch für rechtsgültige Justizkorrespondenz führt. EU-Bürger*innen können eine "Unionsbürgerkarte" beantragen, die einen passenden Chip enthält (Link). Für etliche Rechtsvorgänge, unter anderem Revisionsverfahren, sind solche digitalen Kommunikationswege inzwischen vorgeschrieben, was Nicht-Anwält*innen immer wieder Probleme schafft. Ob das neue Angebot diese nun löst, wird sich zeigen. Erfahrungswerte liegen noch nicht vor.

StVG-Novelle gescheitert
Der Versuch, die rechtlichen Grundlagen für Verkehrsberuhigung und Umverteilung von bisherigen Autoflächen für Fahrrad und Fuß über eine Novelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zu verbessern, ist im Bundesrat gescheitert. Offenbar haben sich auch Landespolitiker*innen der Ampelparteien der CDU-Order in den Landesregierungen unterworfen. Da zurzeit viele Gerichte Veränderungen verbieten, die Autos den Platz wegnehmen, dürften schwere Zeiten für Verkehrswende und Klimaschutz anbrechen. Grund ist, dass die meisten Gerichte die aktuelle Formulierung „Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs“ als Ziel aller Verkehrslenkung einseitig so auslegen, dass nur das störungsfreie Autofahren gemeint sei. Im Gesetz steht das so zwar nicht, die Sichtweise ist aber von den Gerichten im Dienste der Autokonzerne durch Rechtsprechung etabliert worden.


Verfasst im Oktober - für Contraste im Dezember 2023
Justiz produziert soziale Ungerechtigkeit
Die meisten Kleinstdelikte treffen Menschen mit geringem Einkommen oder anderen Benachteiligungen. Zudem werden ihre Gerichtsverfahren im Fließbandstil abhandelt. Wegen fehlenden Geldes führen dann geringe Strafen zu Gefängnisaufenthalten. In der ARD-Doku "Arm und Reich vor Gericht" gibt eine Richterin offen zu, dass sie bei 15 Verfahren pro Tag den Betroffenen kaum gerecht werden kann. Solche Kurzverfahren seien ein "Massengeschäft". Unter den Angeklagten seien viele Rentner*innen, die zum ersten Mal beim Ladendiebstahl erwischt wurden. Die ARD zitiert die Richterin: „Die Leute haben schon kein Geld, und dann sollen sie auch noch hohe Geldstrafen abzahlen. Für Taten, die letztendlich einen Schaden von zehn Euro angerichtet haben“ (Quelle)

Neues Einfallstor für harte Bestrafungen bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
Seilwachen heißen die Personen, die bei Kletteraktionen darauf aufpassen, dass Unbefugte und vor allem Nichtkundige die Kletternden sowie indirekt Betroffene nicht durch unsachgemäßes Eingreifen in Gefahr bringen. Sie erklären Außenstehenden, was gerade passiert. Wenn nötig, stellen sie sich Übereifrigen in den Weg, wenn diese an Kletterseilen und Befestigungen herumfummeln wollen. Bislang wurden solche Personen nicht dafür bestraft. In Gießen ist jetzt geschehen – und zwar gleich zu sechs Monaten auf Bewährung. Wie das? Durch eine Novellierung hat der Gesetzgeber den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verschärft – zum einen durch den neuen Paragraph 114 im Strafgesetzbuch (tätlicher Angriff), zum anderen durch eine kleine Einfügung im § 113, der defensive Handlungen wie das Im-Weg-Stehen oder Einhaken bei Sitzblockaden behandelt. Dort ist jetzt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorgesehen, wenn „die Tat mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangen wird.“ Das wirkt zielgerichtet gegen politisch Aktive und andere gemeinsam Aktive wie Fanclubs usw. Der Staat hat sich ein hohes Einschüchterungspotential verschafft selbst bei Handlungen, die keine Gefahr heraufbeschwören. Menschen sollen sich unterwürfig verhalten – sonst: Mindestens 6 Monate! In Gießen geht der Prozess in die nächste Instanz.

Autofahren und Versammlungsfreiheit
Bei Raddemos, Abseil- und Anklebeaktionen auf großen Straßen kommt es regelmäßig zu juristischen Auseinandersetzungen über die Frage, welchen Stellenwert das Autofahren hat. Gibt es ein Recht darauf, alle Verkehrsflächen immer und überall nutzen zu können? Viele Gerichtsbeschlüsse enthalten diese Einschätzung. Sie führen die im Straßenverkehrsgesetz (StVG), auf dem die Straßenverkehrsordnung (StVO) beruht, vorhandene Zielvorgabe „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ nur zugunsten von PKWs und LKWs an – als gäbe es Fuß, Fahrrad und ÖPNV nicht, deren Sicherheit und Leichtigkeit ja gerade von PKWs und LKWs gefährdet wird. Zudem wird eine allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Grundgesetz auf Autos angewendet, die überall fahren dürfen. Fußgänger*innen und Radler*innen müssten dann ja auch überall fahren dürfen – dürfen sie aber nicht. Woher holen die Gerichte diese Auffassung? Ein Gesetz, in dem solches steht, findet sich nicht. Stattdessen sind die Gerichte selbst die Quelle. Sie haben das Fantasieprodukt in Urteilen verfasst und beziehen sich jetzt auf ihre eigene Kreation. Fixiert wurde die Sichtweise kürzlich in Beschlüssen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) gegen eine Fahrradstraße in Gießen und das Protestcamp gegen deren Abriss. Diese könnten nun wiederum von Versammlungsbehörden und anderen Gerichten genutzt werden, um Demonstrationen überall einzuschränken. Dann bekäme die „Geschichte des Versammlungsrechts“ ein neues Kapitel. Die bisherigen haben Michael Breitbach und Dieter Deiseroth im gleichnamigen Buch (2023, Nomos in Baden-Baden, 249 €) auf sagenhaften 967 Seiten zusammengetragen. Die Geschichtsschreibung beginnt vor 1848, nimmt das Jahr dann als ersten Schwerpunkt und zeigt weiter für Kaiserreich, die DDR und die BRD Debatten, Entwicklungen und Praxis des Versammlungsrechts auf, welches vor allem als aktueller Trend vom Streben nach Sicherheit und Gefahrenabwehr immer wieder bedroht ist. Dieses Spannungsfeld arbeitet Christian Baudewin in „Öffentliche Ordnung und Versammlung“ ab (2023, Nomos in Baden-Baden, 322 S., 99 €). Die Darstellung ist umfangreich, aber sehr einseitig pro öffentliche Ordnung verfasst. Deren Vorrang erscheint als notwendige Folge ständigen Missbrauchs der Versammlungsfreiheit durch Extremist*innen, wobei der Autor Links- und Rechtsextreme mehrmals gleichsetzt. So ergibt sich für ihn als Fazit, dass Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in der Regel gerechtfertigt sind. Dass damit alle möglichen ideologischen Ziele wie die freie Autofahrt plötzlich höher gewichtet werden als die Versammlungsfreiheit, problematisiert der Autos nicht.


August
Immer mehr Verwirrung um Nötigungsparagrafen
Die Urteile über Aktionen, die zu Verkehrsblockaden führen, gehen immer weiter auseinander. Einige Staatsanwaltschaften und Gerichte gehen angesichts der Vielzahl stehender Autos von schwerer Nötigung aus oder verhängen Haftstrafen bis knapp einem Jahr. Andere hingegen sehen in den Abseil- oder Anklebeaktionen gar keine Straftaten. Das liegt auch nahe, berühren die einen doch den Straßenraum, der in 4,70m Höhe endet, gar nicht, während die anderen etwas tun, was als Sitzblockade seit Jahrzehnten weit verbreitet ist und stets als Form zulässiger Demonstrationen gewertet wurde. Führen nicht alle Versammlungen zu Verkehrsbehinderungen? Was ist an den aktuellen Aktionen so besonders? Die praktizierte Gleichsetzung von Störung = Nötigung würde Versammlungs- und Streikrecht in Frage stellen. Offenbar fühlt sich die Politik unter Druck und reagiert gereizt, während Jurawissenschaft und -praxis ebenfalls weit auseinanderklaffen und überfordert wirken.

Polizeidienstvorschriften und mehr zum Download
Unter diesem Titel bietet die Internetseite www.nulled.to/topic/1490380-german-police-collection-pdv-100-lf-371-pdv-3841-g7-vs-nfd-restricted/ etliche gescannte, interne Dienstanweisungen und Leitfäden aus Polizei und Geheimdiensten zum Download und Durchlesen an. Mit dabei sind Anleitungen zur Internetüberwachung, Eigensicherung, Fahndungspraxis und vieles mehr. Ideen zum kreativen Umgang mit der Polizei unter polizeiaktionen.siehe.website.

Autostraßen umwandeln? Komplizierte Rechtsfragen stoppen Verkehrswende
Es sind bislang meist nur sehr kleine Veränderungen, aber in manchen Städten werden Flächen, die bisher dem Autoverkehr zur Verfügung standen, in Grünflächen oder Fahrradstraßen verwandelt. Oft dürften die Autos dort zwar weiterhin fahren (was der eigentlichen Idee von Fahrradstraßen widerspricht und nur mit Ausnahmeschildern möglich ist, die aber regelmäßig angebracht werden), zudem werden in gleicher Zeit mehr neue Straßen gebaut als bestehende umgewandelt. Das und viele andere autofreundliche Maßnahmen führen trotz kleiner Verbesserungen zu immer mehr Autos und Autofahrten. Dennoch könnte jede Umwandlung einer Autofläche ein kleiner Hoffnungsschimmer für die Transformation im Verkehrssektor sein. Als robuste Garanten der Privilegien für den Autoverkehr entpuppen sich leider mehr und mehr die Verwaltungsgerichte. Sie stellen hohe Hürden für Eingriffe in den Autoverkehr auf – und begründen das mit der bestehenden Rechtslage. Diese ist tatsächlich immer noch sehr autozentriert, zusätzlich legen die Verwaltungsgerichte die in den Gesetzen verwendeten Begriffe wie „Verkehr“ sehr einseitig als „Autoverkehr“ aus, obwohl sich das aus dem Gesetzestext nicht herausholen lässt. So geht es bei „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“, der zentralen Zielsetzung aller Gesetze zur Mobilität, vom Wortlaut her nicht nur um den Autoverkehr, wird aber meist so ausgelegt. Tatsächlich gefährden Autos die Sicherheit und Leichtigkeit stärker als alle anderen Verkehrsmittel, so dass die rechtliche Vorgabe auch als Grundlage zur Verdrängung der Autos gewertet werden könnte. Eine umfangreiche Sammlung formaler und technischer Vorgaben und Möglichkeiten zur Schaffung von „Radverkehrsanlagen“ enthält das gleichnamige Buch aus dem Forum-Verlag Herkert in Merching zum Preis von 76 Euro. Es kann folglich helfen, Radverkehrsanlagen funktional und rechtlich korrekt zu errichten. Viele Fotos, Zeichnungen und die Texte vermitteln auf 144 Seiten praxisorientiert das nötige Knowhow einschließlich passender Checklisten für Planung und Unterhaltung von Radwegen, Fahrradstraßen und Nebenanlagen.

Gerichtsprozesstrainings fast jedes Wochenende
Über 2000 Strafverfahren allein gegen die „Letzte Generation“, dazu viele weitere vor allem gegen unabhängige Aktionsgruppen – der Staat lässt die Muskeln spielen, um einen ihm unangenehmen Protest einzuschüchtern. Dabei ist in diesem Fall die Streitlage ziemlich eindeutig: Der Staat ignoriert Forderungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, eigene Versprechen und verfehlt zudem die gesetzlich vorgeschriebenen Klimaschutzziele, bricht also das Gesetz. Statt sein Verhalten zu korrigieren, erlässt er Beschleunigungsgesetze und gibt Gelder frei für immer mehr der klimaschädlichen Verkehrsbauten, Rüstungsprojekte und Infrastruktur fürs Transportieren und Verbrennen fossiler Energien. Auf den Anklagebänken sitzen aber die, die das zerstörerische Verhalten von Konzernen und Staat kritisieren. Die Absurdität dieser Konstellation schafft eine optimale Situation, um aus den Gerichtsprozessen Tribunale gegen die herrschende Politik zu machen. Um das zu lernen, finden zurzeit viele Gerichtsprozesstrainings statt. Sie machen aus Angeklagten juristisch versierte Selbst- und Laienverteidiger*innen. Das kann helfen, zusätzlich zu den direkten Aktionen auch die Gerichtssäle für den politischen Wandel zu nutzen. Infoseite mit Terminen von solchen Trainings, die offen sich für alle: prozesstipps.siehe.website.

Mai 2023
Gibt es ein Grundrecht auf Autofahren und "Leichtigkeit des Verkehrs"?
Mobilität, also die Möglichkeit und Fähigkeit, seinen Aufenthaltsort zu wechseln, ist ein Grundbedürfnis und sollte auch ein Grundrecht sein. Fahrpreise, Barrieren, fehlende Nahverkehrsverbindungen, ständige Gefahren durch Autos usw. schränken dieses Recht allerdings ein. Zudem steht Mobilität nicht direkt als Grundrecht im Grundgesetz, sondern kann nur hilfsweise indirekt aus der allgemeinen Handlungsfreiheit oder in Spezialfällen auch aus anderen Grundrechten wie der Berufsfreiheit abgeleitet werden. Damit wäre die Mobilität bereits nachrangig gegenüber zum Beispiel der Versammlungsfreiheit. Es ist also schon deshalb falsch, dass mitunter die "Leichtigkeit des Verkehrs" als Grund für Versammlungsverbote oder -beschränkungen auf Straßen angeführt werden.
In der praktischen Auseinandersetzung kommt es aber noch dicker. Denn weder das aus anderen Grundrechten hilfsweise abgeleitete Recht auf Mobilität noch der Begriff "Leichtigkeit des Verkehrs" sagen aus, welches Verkehrsmittel dabei genutzt wird. Trotzdem werden diese Floskeln völlig unreflektiert und wie selbstverständlich nur auf den Autoverkehr angewendet. Dafür gibt es keinerlei irgendwie nachvollziehbare Herleitung. Es wäre genauso berechtigt, auf Basis der allgemeinen Handlungsfreiheit das Autofahren zu verbieten, weil es den Kindern die Handlungsfreiheit nimmt, auf der Straße zu spielen, den Radler*innen die Möglichkeit, dort zu fahren, oder Sportler*innen, dort Basketball zu spielen.
Der Bezug auf vermeintliche Grundrechte ist deshalb ein juristischer Trick, das Autofahren zu bevorzugen. Das Grundgesetz gibt diese Bevorzugung nicht her. Sie erfolgt aber trotzdem, und ist daher ideologisch bestimmt.
Auch aus der Straßenverkehrsordnung lässt sich eine Bevorzugung des Autoverkehr nicht herauslesen. Gegenüber dem Versammlungsrecht ist die StVO ohnehin nachrangig, d.h. mit Formulierungen aus der StVO dürfte ein Versammlungsverbot nicht begründet werden. Wird es aber. Dabei reicht allein § 1 der StVO, um das Auto zu verbieten. Dort steht im Absatz 2 nämlich: "Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." Ein Auto gefährdet immer - und zwar stets mehr als andere Verkehrsmittel und damit überflüssigerweise bzw. unverhältnismäßig. Da die Verben mit einem "oder" verbunden werden, reicht die StVO-Formulierung als Verbotsgrund. Sätze, aus denen eine ähnliche Schlussfolgerung schlüssig wäre, finden sich in weiteren Paragrafen, zum Beispiel "Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird" oder "Es darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann". Autos für die eigene Mobilität zu nutzen, schränkt andere Formen der Mobilität und andere Formen des freien Handelns (Spiel, Sport, Erholung, Entspannung usw.) stark ein – zudem die körperliche Unversehrtheit durch Luftverschmutzung, Unfälle und Lärm. Da es Alternativen zum Auto gibt, ist dessen Benutzung unverhältnismäßig. Wo die Alternativen fehlen, ist das Folge einer dieses Fehlen gezielt herbeigeführten Verkehrspolitik und damit ebenfalls nicht alternativlos. Das Autofahren des Einzelnen ist daher gerade nicht von der allgemeinen Handlungsfreiheit gedeckt und folglich ein niederrangigeres Interesse gegenüber Versammlungsrecht oder aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitete Rechte Anderer. Der Staat ist rechtlich gebunden, Bedingungen herzustellen, die die allgemeine Mobilität ermöglichen, ohne auf das grundrechtsinkompatible Autofahren zurückgreifen zu müssen – und zwar für alle ohne Ausschlüsse zum Beispiel durch Behinderungen oder Armut.

Klimakrise als rechtfertigender Notstand bei Straftaten?
Wer sich auf den rechtfertigen Notstand (§ 34 im Strafgesetzbuch) beruft, erlebt in der Regel dessen Nichtbeachtung durch Gerichte. Entweder geht das Gericht gar nicht darauf ein oder behauptet, es seien mildere Mittel vorhanden, die Rechtsordnung würde durch eine Anerkennung gefährdet, es gäbe ein staatliches Vorrangsrecht in der Gewaltausübung, welches dann Rechtfertigungsgründen ausschließt, oder die angeklagte Handlung sei nicht geeignet gewesen, den Klimawandel zu stoppen. Wer sich genauer informieren will, findet einen guten Einstieg in die Dogmatik unter juwiss.de/2-2023. Meinungsbasierter und eher auf Zeitungsleser_innen zugeschnitten ist archive.ph/BfNa9. Allgemeiner zum rechtfertigenden Notstand sind die Seiten juracademy.de/strafrecht-at1/rechtfertigender-notstand.html und 34stgb.siehe.website.

Brief an King Charles III. zeigt Lage von Gefangenen auf
Julian Assange hat in einem prosaisch verfassten Brief „An Seine Majestät“, dem neuen englischen König, auf die beklemmenden Verhältnisse in Gefängnissen aufmerksam gemacht. Die lesenswerte, satirische Einladung zum Besuch findet sich unter anderem auf www.jungewelt.de/artikel/450084.kr%C3%B6nung-charles-iii-an-seine-majest%C3%A4t.html.

März
Neue Reportage zum „Fall Ella“
Auf der Internet-TV-Plattform funk (ARD/ZDF-Gemeinschaftsprojekt) ist eine neue Dokumentation über Verhaftung und Prozess der Aktivistin im Dannenröder Wald erschienen. Die von der Justiz als „unbekannte weibliche Person 1“ geführte Irin war über 1,5 Jahre eingesperrt worden, weil sie ihren Namen nicht preisgab und dieser nicht herausgefunden werden konnte. Kletterpolizisten hatten ihr vorgeworfen, sie in Lebensgefahr gebracht zu haben, was sich aber im Laufe des Gerichtsverfahrens als Lügen herausstellte. Die nun veröffentlichte Doku, in der Ella auch selbst auftritt, ist unter youtu.be/SMq-Cbi7i5U anzusehen.

Verschärfung des Nötigungsparagraphen
Erneut hat ein Amtsgericht mehrmonatige Haftstrafen gegen Demonstrant*innen verhängt, die mit ihrer Aktionsform (hier: Transpiaufhängen und Klettern über einer Autobahn) die Polizei veranlasst hatten, zwecks Entfernen der Parolen den Autoverkehr zu behindern. Beim Prozess in Frankfurt formulierte der dortige, der grünen Partei angehörige Staatsanwalt mehrfach, dass aus seiner Sicht jede Störung des Autofahrens, auch allein schon der Effekt, einen Umweg zu fahren, eine Nötigung darstelle. Das widerspricht zum einen der aktuell geltenden Rechtsmeinung und zeigt, dass es hier darum geht, die Auslegung und Anwendungspraxis des Nötigungsparagraphen so zu verändern, dass er zur Waffe der Herrschenden gegen aufkommenden Protest genutzt werden kann. Zum anderen zeigt sich ebenfalls in der aktuellen Rechtsprechung, dass einseitig die Störung des Autoverkehrs als Nötigung begriffen wird. Wer sein Auto auf den Rad- oder Fußweg bzw. sogar auf Straßenbahngleisen parkt, wird nur verkehrsordnungsrechtlich verfolgt. Ganz einheitlich ist die Rechtsprechung aber noch nicht. Am Amtsgericht Kassel gab es im Februar einen Freispruch für eine Abseilaktion. Mehr auf autobahn.siehe.website.

Kampf um Autobahnen als Versammlungsort
Die Auseinandersetzung um Aktionsformen, die „des Deutschen liebstes Kind“ (gebräuchliche Beschreibung für Autos) stören, findet nicht nur in der Strafjustiz seinen Niederschlag. Immer restriktiver werden auch angemeldete Versammlungen behandelt, dürfen nur noch auf Nebenstraßen oder gleich auf dem Fuß- und/oder Radweg stattfinden. Als Argument wird die „Leichtigkeit des Verkehrs“ benannt, die vermeintlich ein Grundrecht sein soll. Wo das steht, bleibt allerdings im Dunkeln. Ebenso ungeklärt blieb bisher, warum „Verkehr“ mit „Autoverkehr“ gleichgesetzt wird, denn wenn eine Demo von der Straße auf den Geh- und Radweg verlagert wird, würde es dort ja zur Störung kommen. Das aber zählt offenbar nicht. In den letzten Jahren tobt deshalb der Streit auch vor vielen Verwaltungsgerichten – und die Beschlüsse könnten unterschiedlicher nicht sein. Von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Stadt zu Stadt fallen ähnliche Fälle sehr unterschiedlich aus. Die restriktivste Praxis findet sich zurzeit in Nordrhein-Westfalen, welches das Verbot des Demonstrierens auf Autobahnen sogar im neuen Versammlungsgesetz festgeschrieben hat. In Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern werden auch ohne solche Rechtsgrundlage Autobahndemos verboten. In Berlin, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern sowie ein einigen weiteren Einzelfällen wurden Abseil- oder Raddemos auf und über Autobahnen hingegen erlaubt.

Anleitung für Versammlungsanmeldung und -durchführung
Um das Versammlungsrecht wird vielerorts gestritten. Regierende wollen es verschärfen, um ungestört weiter umweltzerstörende oder menschenverachtende Politik fortsetzen oder die Wirtschaft bei solchem Treiben schützen zu können. Verschiedene Kritiker*innen suchen Wege, öffentliche Aufmerksamkeit zu erringen. Was auffällt: Gestritten wird vor allem um die formalen Rahmenbedingungen. Das eigentliche Potential der Demonstrationsfreiheit liegt aber meist in deren kreativem Gebrauch. Doch der geschieht eher selten. Das dokumentiert beispielsweise Jasper Prigges Buch „Versammlungsfreiheit“ (2. Auflage 2021, Felix Halle Verlag in Düsseldorf, 204 S., 14,90 €), in welchem anschaulich und ausführlich die Schritte von der Planung einer Versammlung über Anmeldung, Kooperationsgespräch bis zur Durchführung beschrieben werden. Das ist hilfreich, aber leider bezieht sich das gesamte Buch nur auf die üblichen Latsch- oder Rumstehdemos. Die Form einer Versammlung ist aber viel freier. Noch stärker als rechtliche Informationen, die dieses Buch gut vermittelt, braucht es eine größere Variabilität bei den tatsächlichen Formen. Eine Fahrradstraße einrichten? Sich über Autobahnen abseilen? Ampelschaltungen fußgänger*innenfreundlich machen? Plätze für Obdachlose oder Straßenmusik schaffen? Geht alles – per Demorecht! Das genannte Buch bietet da wie andere Veröffentlichungen keine Hilfe. Das überraschend nicht, da es aus der Feder eines Anwaltes stammt, der Versammlungsrecht auf der eigenen Internetseite gar nicht als eigenen Schwerpunkt aufführt. Infos für kreative Versammlungen auf demotipps.siehe.website.

Januar
Justiz wetzt die Messer gegen politisch Aktive
Über 2000 Strafverfahren allein gegen Aktive von Letzte Generation, dazu weitere wegen Blockaden vor klimazerstörenden Firmen und als Folge von Abseilaktionen über Autobahnen während der Danni-Räumung, zur Verkehrsminister*innenkonferenz 2021 in Bremen und zur Eröffnung der IAA am 7.9.2021 rund um München: Der Nötigungsparagraph wird immer mehr zur Waffe der Staatsmacht gegen den zunehmenden Protest für Klimaschutz und eine echte Verkehrswende. Weil der Staat bei diesen Themen im Handeln völlig versagen, schärfen sie nun diese Waffen. Dabei arbeiten die beteiligten Stellen zum Teil mit sehr platten Lügen, so bei einem Verfahren wegen einer Versammlung vor den Toren der viel CO2 emittierenden HeidelbergCement, als Staatsanwaltschaft und Gericht behaupteten, das Fabrikgelände hätte nur die eine Ausfahrt gehabt. Tatsächlich gab es fünf (!) weitere. Zudem gibt es drei weitere Strategien. Eine dient der Diskreditierung des Protests, in dem dieser mit angstmachenden Begriffen wie „Klimaterroristen“ (Unwort des Jahres) belegt oder wieder mit Lügen geearbeitet wird, z.B. ausgedachte Horrorstories wie der Verursachung eines Todesfalls im Straßenverkehr durch Aktivist*innen in Berlin. Die zweite Strategie ist der Ruf nach schärferen Gesetzen. Und die dritte eine veränderte Praxis der Auslegung bestehenden Rechts durch die dem politischen Diskurs folgenden Gerichte. Letzteres bezieht sich zurzeit vor allem auf den Nötigungsparagraphen. Dabei werden mehrere Tricks angewendet. So ignorieren immer mehr Gerichte die klare Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, rein psychischen Druck nicht als Gewalt im Sinne des § 240 StGB (Nötigung) zu werten. Andere Gerichte rechnen Handlungen der Polizei den Aktivist*innen zu. Wenn diese den Verkehr regelt, seien die beteiligten Beamt*innen nur „willenlose Werkzeuge“ der Demonstrierenden und deshalb sei alles, was die Polizei macht, deren Tat. Die im Gesetz vorgeschriebene Verwerflichkeitsprüfung, nach der nur Handlungen eine Nötigung darstellen können, die im Verhältnis zum verfolgten Ziel der Aktion unpassend ist, wird so interpretiert, dass politische Ziele nicht mehr zählen. Das Oberlandesgericht Celle hat das in einem Beschluss vom 29.7.2022 (Az. 2 Ss 91/22) so formuliert: „Niemand ist berechtigt, in die Rechte anderer einzugreifen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Auffassungen Geltung zu verschaffen.“ Da das OLG Celle diesen dogmatischen Rechtssatz auch nicht hinsichtlich des Versammlungsrechts einschränkte, ist hier ein faktisches Verbot aller Protestformen mit störender Wirkung zu entdecken – also auch von ganz normalen Versammlungen und Streiks. Der Chefkommentator des Beck-Kommentars zum StGB, Thomas Fischer, geht noch einen Schritt weiter. Er verneint in einem Fachartikel nicht nur Rechtfertigungsgründe für Protestformen, die stören, sondern behauptet die Legalität von Gewalt Betroffener gegen Menschen, die z.B. bei einer Demonstration eine Straße benutzen und daher dort keine Autos mehr fahren dürfen. Da das Kommentarbuch von Fischer in Gerichtssälen in der Regel stark beachtet wird, hat dieser faktische Gesetzgebungskraft. Folglich sind solche Äußerungen brandgefährlich. Sämtliche Quellen mit längeren Zitaten und weiteren Ausführungen sowie einige kritische Beiträge des Videoformats „Hirnstupser“ zu den Veränderungen sind auf noetigung.siehe.website zu finden.

Trainings zum Schreiben von Revisionen
Angesichts der dramatischen Verschiebungen in der praktischen Rechtsprechung wird es wichtig sein, Strafprozesse in die höheren Instanzen und am Ende zum Verfassungsgericht zu tragen. Oberlandesgerichte sind dabei meist die Revisionsinstanz überprüfen Fehler in der Rechtsanwendung der Vorinstanzen. Hier müsste das wilde Treiben der Amts- und Landgerichte eigentlich schon gestoppt werden. Allerdings zeigt das Beispiel des OLG Celle auch in den höheren Etagen den starken Willen zur Einschüchterung und damit Eindämmung von Protest. Trotzdem lohnt es sich, das Schreiben von Revisionen zu erlernen, da diese formgerecht sein müssen, und das nicht leicht ist. Revisionsschreiben ist die Königsdisziplin der Strafverteidigung. Es gibt trotzdem (oder deswegen?) nur wenige Bücher, die das dafür nötige Wissen vermitteln. „Die Revision im Strafrecht“ von Mattias Weidemann/Fabian Scherf (3. Auflage 2017, Nomos in Baden-Baden, 207 S., 22 €) ist eines davon und für Studierende gedacht. Gerade dadurch ist es für die geeignet, die sich vor Gericht selbst oder gegenseitig verteidigen. Denn auf allzu detaillierte Darstellung aller Möglichkeiten wird verzichtet, dafür sind die Anforderungen an eine formgerechte Revision sehr anschaulich beschrieben. Die Übungsaufgaben können zudem ein nützlicher Check sein, das Gelesene auch verstanden zu haben und anwenden zu können. Besonders praktisch: Die Checkliste am Ende des Buches. Am 25./26.3. findet in der Projektwerkstatt Saasen ein Training zum Revisionsschreiben statt.

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