Hirnstupser

WELTGIPFEL IN JOHANNESBURG (“RIO+10“)

Was ist Nachhaltigkeit?


1. Nachhaltigkeit: Argument für die Modernisierung der Demokratie
2. Was ist Nachhaltigkeit?
3. Die Inhalte von Nachhaltigkeit und Agenda 21: Mehr Atomtechnik, mehr Gentechnik, universelle Lebensentwürfe
4. Nachhaltig marktfetischistisch
5. Nachhaltige Umweltbildung
6. Governance, Runde Tische, Zivilgesellschaft: Hilfe, noch mehr Demokratie droht!
7. NGOs: Schwach, anbiedernd, inhaltsleer:  Umwelt-NGOs als Akzeptanzbeschafferinnen von Staat und Wirtschaft
8. Aufruf zu Aktionen gegen Rio+10

Der Definitionen gibt es viele – sie sagen vor allem aus, daß es keine einheitliche Definition gibt. Nachhaltigkeit ist das, was sich jedeR draus macht, die Regierenden, die Konzerne, die Umwelt-NGOs oder wer auch immer. Zugrunde liegt eine eher banale ökologische Aussage, z.B. im Text "Die Welt ist keine Ware" von Hartwig Berger („Stachelige Argumente“, 5/1999, S. 9): „Die Debatte um Nachhaltigkeit ist aus einer leicht begreiflichen Erkenntnis entstanden, die Bauern, Förster und Fischer im einfachen Satz zusammenfassen würden: Es darf nicht mehr geerntet werden als nachwächst. Etwas anspruchsvoller formuliert, können wir auch sagen: Ökologische Teilsysteme wie Gewässer, Landschaften oder Wälder und Gesamtsysteme wie die Meeresströmungen oder das Weltklima dürfen nicht so belastet werden, dass dadurch ihre Funktionen und ihre Funktionsfähigkeit geschwächt oder nachteiligt verändert werden. Nachhaltig ist demnach ein Handeln, welches das Funktionieren der Natur als Ressourcenquelle, als Aufnahmemedium für Emissionen und als Lebensgrundlage für die Menschen nicht einschränkt.“
Doch diese fachlich orientierte Definition ist beliebig dehnbar. Wie ist das Ziel zu erreichen und wie sieht das gewünschte Endstadium aus? Dazu gibt es keine Klarheit. Herrschaftsverhältnisse werden regelmäßig ausgeblendet. So kann der von Kinderhänden geknüpfte Teppich als nachhaltig gelten, wenn die Kinder so „gehalten“ werden, daß sie nicht verhungern, und der Anbau der Rohstoffe so erfolgt, daß der Boden erhalten bleibt. Sehr stark verengt wird Nachhaltigkeit auf die Frage der Effizienz: Nur Technik und moderne Regierungssysteme (die wehrhafte Demokratie als Weltmodell) können die Rettung sein. So findet sich in der Freitag am 13. Juli 2001 (S. 5) das Zitat: „Wir sind für den Wettbewerb der Eigentumsformen, um die Form zu finden, die am meisten nachhaltige Effizienz zeitigt ...“. Der Bundesverband der Deutschen Industrie sprang 1999 auf den Nachhaltigkeitszug auf und bestimmte gleich die Richtung: „... In der Tat drohte vor Jahrzehnten auch in Deutschland kurzfristig - und kurzsichtig -, rational erscheinendes Verhalten die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Schadstoffe in Gewässern, in der Luft und im Boden nahmen beunruhigende Ausmaße an. Seither ist aber viel geschehen. Durch Innovationen und Investitionen ist es der Industrie in Deutschland gelungen, Umweltbelastungen durch Fabriken enorm zu reduzieren. Gleichzeitig wurde der Lebensstandard nicht nur gehalten, sondern erheblich gesteigert. Technisch ausgedrückt heißt das: Umwelt- und Ressourcenverbrauch sowie Wirtschaftswachstum wurden entkoppelt. ... Neue Techniken senken den Treibstoffverbrauch drastisch. Biotechnologien reduzieren die Flächenanforderungen in der Ernährung. Kernenergie vermindert den CO2-Ausstoß in der Energieversorgung ... Es ist schon seltsam, daß gerade diejenigen, die sich so engagiert für Umweltschutz und Ressourcenschonung einsetzen, gleichzeitig neuen Technologien so skeptisch gegenüberstehen, bei der Biotechnologie auf die Bremse treten und bei der Kernenergie den totalen Ausstieg wollen. Der Ausstieg Deutschlands macht die Welt nicht sicherer - im Gegenteil. Unsere Sicherheitsstandards sind führend inder Welt. Wir müssen weiter dazu beitragen können, daß die Kernenergie weltweit sicherer wird, um Katastrophen wie Tschernobyl in Zukunft zu verhindern. ...
Eine nachhaltige soziale Sicherung setzt zuallererst auf private Initiative. ... Einer der wichtigsten Schlüssel für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft heißt Bildung. ... Die Hochschulen müssen die Freiheit haben, um die besten Hochschullehrer zu konkurrieren (und die nicht so guten zu entlassen). Die Freiheit der Hochschulen, Studiengebühren zu erheben, gehört genauso dazu, wie private Hochschulen zu gründen und zu stärken. ... Und eine Politik für Nachhaltigkeit hat verstanden, daß es einen fruchtbaren Wettbewerb um knappe Ressourcen gibt. Nachhaltig können nur solche Gesellschaften sein, die in diesem Wettbewerb Boden gewinnen oder wenigstens halten. ... Die Ursachen für diese Defizite sind weitgehend bekannt. Bei wichtigen Faktoren im Wettbewerb der Standorte um Investitionen und Innovationen hat Deutschland Nachteile aufzuweisen. Die Arbeitskosten sind im internationalen Vergleich die höchsten, die Arbeitszeiten die kürzesten der Welt. Die Steuer- und Abgabenbelastung unternehmerischer Betätigung ist in Deutschland besonders hoch. An allen diesen Hebeln muß eine Politik für Nachhaltigkeit ansetzen. (aus: Position des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zur Nachhaltigkeit, 1999)
Da wollte auch Wirtschaftsminister Werner Müller nicht fehlen und schrieb für eine Schrift der führenden Umweltmanagement-Organisation B.A.U.M. den folgenden Text: „Die Wirtschaft in Deutschland richtet sich mehr und mehr am Leitbild der Nachhaltigkeit aus. Der Diskurs hierüber wird offensiv geführt und der Erfolg zeigt, dass Nachhaltigkeit mit Gewinn für das Unternehmen und die Umwelt umsetzbar ist. Bislang sind es jedoch vorwiegend Großunternehmen, die Engagement zeigen und Schrittmacherfunktion übernehmen.“ (Grußwort zum B.A.U.M.-Jahrbuch, Quelle: B.A.U.M.-News Nr. 16 vom 8.10.2001).

Wie unendlich dehnbar die Ideologie der Nachhaltigkeit ist, zeigen etliche KritikerInnen, die ihre Bedenken äußern, aber doch ständig wieder in den Sog aufgenommen sind. So schrieb etwa der gleichzeitig in Berlin für Agenda 21 auftretende Prof. Elmar Altvater im Vorwort zu seinem Buch „Vernetzt und verstrickt“ (1997, Westf. Dampfboot in Münster, S. 22): „Der Begriff der Nachhaltigkeit hat ... den "Charme eines Posie-Albums" - und folglich auch nur dessen politische Verbindlichkeit.“ Im gleichen Buch formulierte Andreas Missbach im Text „Nachhaltige Entwicklung und Nord-Süd-Konflikt“ (S. 86-89): „Der Brundtland-Bericht selbst enthält keine überzeugende Analyse und kein widerspruchsfreies Programm, sondern ist ein wissenschaftliches und politisches Konsensdokument. Gerade dessen Unschärfe und Widersprüchlichkeit waren entscheidend für seinen Erfolg. Der Bericht besitzt den Charme eines Posie-Albums: es finden sich unzählige gute Ratschläge jedwelcher Provinienz. ... Jenseits von Worthülsen aber hören die Gemeinsamkeiten auf: nämlich dann, wenn es um die Entwicklungsstrategien gegen die Armut und die nötigen Veränderungen zum Schutz der lebenserhaltenden Ökosysteme geht. ... Entscheidend für die allgemeine Akzeptanz des Brundtland-Berichtes war das Bekenntnis zu realem weltwirtschaftlichem Wachstum. Die Autoren des Berichts sprachen sich für ein fünf- bis zehnfaches Wachstum der Produktion bis zum nächsten Jahrhundert aus ... Nachhaltige Entwicklung ist für diese Kritiker lediglich eine Ausdehnung der Entwicklungsideologie, ein Versuch des Nordens, die Kontrolle zu behalten, nichts Geringeres als "eine neue Welle der Kolonialisierung" ...

Die Debatte um Nachhaltigkeit verfolgt andere Ziele als meist angegeben. Sie ist eine der ältesten ideologischen Grundlagen für die Zuspitzung von Herrschaftsverhältnissen, für die Legitimierung der Dominanz westlicher Lebensmodelle und für die Schein-Integration kritischer Stimmen in das große, gemeinsame Projekt einer Erneuerung der Welt. Die Nachhaltigkeit ist älter als die erst in den letzten Jahren entstandenen Debatten um Freiheit durch Sicherheit, Menschenrechte durch humanitäre Kriege und Wohlstand durch Ausgrenzung. Diese Debatten aber haben wichtige gemeinsame Grundlagen – sie dienen der Verklärung von Herrschaftsinteressen und der Modernisierung von Politik und Zugriffsrechten auf Mensch und Natur. Und sie sind Teil des ideologischen Kampfes zwischen den Regierungen vor allem der Industriestaaten, um internationale Konkurrenz und Einflußsphären.
Dieses ist gar kein Geheimnis und keine abstruse Verschwörungstheorie. Wer es wissen will, muß nur lesen, z.B. in Texten von Michael Müller, Vize-Fraktionschef der SPD im Bundestag und Präsidiumsmitglied im Deutschen Naturschutzring. Als Vorsitzendes der Kommission „Aufbruch 21“ hat er dem DNR eine auf Nachhaltigkeit getrimmte Programmatik verpaßt. Michael Müller und Ulla Burchardt, beide SPD-MdBs, schreiben in der FR vom 17.4.2002: „Die Leitidee der nachhaltigen Entwicklung ist schon deshalb von großer, ja strategischer Bedeutung, weil sie die wichtigste Antwort auf die Herausforderung der neoliberalen Globalisierung ist. Sie ist zuerst ein europäisches Konzept. Denn mit ihr verbinden sich sich drei große Ideen der europäischen Moderne: Gerechtigkeit, Demokratie und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Nicht von ungefähr kamen die wichtigsten Impulse von den drei europäischen Regierungschefs Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland.
Das Konzept hat in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Nachhaltigkeit ist die wichtigste Alternative zu einem US-Unilateralismus, der auf militärische Stärke setzt und die Welt den Interessen der Wall Street unterordnet. Sie setzt dagegen auf mehr Partnerschaft, mehr Demokratie und mehr Mitverantwortung. Mit ihr kann Europa eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Globalisierung einnehmen, statt an den Rand gedrängt zu werden. ... Der Europäische Rat hat die Nachhaltigkeit zum Leitziel der EU ausgerufen. Damit kann Europa - wie schon beim Kyoto-Prozess - eine entscheidende Vorreiterrolle einnehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Bundesrepublik, als das wirtschaftlich stärkste Land der Europäischen Union, sich an die Spitze der Nachhaltigkeitsdebatte stellt. Nachhaltigkeit ist kein theoretischer Ansatz mehr. Denke global und handele lokal, regional und national - das ist die politische Maxime, um Europa zu behaupten ...“
Das aktuellste Werk zur Nachhaltigkeit ist die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Schon die Entstehung zeigt das Besondere: Beteiligt sind alle Ministerien, die Umweltverbände, viele Institute und Prominente. Modernes Regieren schafft Integrationsplätze. Die Idee des „Governance“, des scheinbaren Verschwimmens der Grenzen zwischen Regierenden und Regierten, schimmert deutlich durch. Viel deutlicher als die Umweltverbände enttarnt Achim Brunnengräber, Mitarbeiter von MdB Ernst-Ulrich von Weizsäcker, den Sinn des Papieres: „Allem Anschein nach hat die Nachhaltigkeitsstrategie ein ganz anderes Ziel. Sie wird zu einer Öffentlichkeitskampagne, durch die die rot-grünen "Reformen" sozial-ökologisch geschickt vermarktet werden sollen. Sie dürfte vor allem auf der partizipativen Ebene Erfolg haben (Stichwort "symbolische Politik"), neue inhaltliche Maßstäbe werden dadurch nicht gesetzt. Das wird auch gar nicht gewünscht. Rio+10 ist nur ein kleiner Aspekt der viel umfangreicheren Wahlkampfstrategie der Bundesregierung. Denn wohlgemerkt: Erst geht's auf den Gipfel, dann in die Wahllokale.“ (Achim Brunnengräber, „Rio+10 - nur Schaufenster nationaler Nachhaltigkeit?“, in: Ökologisches Wirtschaften 1/2002, S. 8)

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