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ATTAC

Generation Attac (Text von Jochen Stay)

Siehe auch: Attac +++ BUKO +++ NGO-Strukturen +++ NGO-Ziele
Infoseite und Bestellseite für das Buch "Mythos Attac" und andere Materialien

Vor fünf Jahren wurde Attac Deutschland gegründet. Gleichzeitig erleben wir in den letzten Jahren so etwas wie die Renaissance der Protestbewegungen: Proteste gegen den Irakkrieg, die globalisierungskritische Bewegung, den anhaltenden Widerstand gegen Castor-Transporte und die Demos gegen den Sozialabbau, um nur einige Beispiele zu nennen. Noch nie - vielleicht mit Ausnahme der Zeit der Friedensbewegung Anfang der 80er im Westen und der Oppositionsbewegung 1989 im Osten - haben im Nachkriegsdeutschland so viele Menschen an mindestens einer Demonstration teilgenommen, wie in den letzten Jahren.

Dennoch gibt es keinen Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Der rasante Wandel unserer Gesellschaft lässt auch die Protestbewegungen nicht unberührt. Jede Bewegungsgeneration lernt zwar vieles von den vorhergehenden, muss aber immer wieder auf neue Rahmenbedingungen reagieren und die entscheidenden Fragen beantworten: Wie sind unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen effektiver Protest und politisches Engagement möglich? Wie müssen wir uns organisieren, wie erreichen wir viele Menschen und wie die Öffentlichkeit? Wo also muss der Hebel ansetzen, damit der Erfolg eintritt? Der fünfte Jahrestag der Gründung von Attac Deutschland ist mir deshalb willkommener Anlass, um zu analysieren, wie sich die Protestbewegungen und ihre Rahmenbedingungen in den letzten Jahren verändert haben.

Getragen werden diese Proteste im Wesentlichen von einer Protestgeneration, die sich in einigen Punkten von ihren Vorgängergenerationen unterscheidet. Ich nenne diese aktuelle Protestgeneration "Generation attac", ohne sie mit den Mitgliedern der Organisation gleichzusetzen. Was zeichnet diese Generation aus, und was unterscheidet sie von früheren Protestgenerationen?

Ich werde versuchen, eine ganze Reihe an Unterschieden herauszuarbeiten, wobei ich zuerst zehn meiner Ansicht nach positive Veränderungen schildere, um danach sechs problematische Entwicklungen zu benennen.

  1. Die "Generation attac" ist eigentlich eine Mischung unterschiedlicher Protestgenerationen. Sie besteht einerseits aus vielen jungen Menschen, aber auch aus erstaunlich vielen Älteren, die nach Jahren der Resignation neu aktiv geworden sind - übrigens im Osten wie im Westen der Republik. Dadurch entsteht ein brisanter Mix aus jugendlichem Elan und vielfältiger Protest-Erfahrung.
  2. Die aktuelle Protestgeneration pflegt thematische Vielfalt. Sie wendet sich gegen Krieg, Umweltzerstörung, globale Ungerechtigkeit und Sozialabbau. Sie ist immer dort aktiv, wo es gerade am Nötigsten ist. Die Zeit der Ein-Punkt-Bewegungen ist vorbei, zwar vielleicht noch nicht bei den Hauptamtlichen in den Nichtregierungsorganisationen (NG0s), aber auf jeden Fall an der aktiven Basis der Bewegungen.
  3. Die neue Protestgeneration arbeitet kooperativ über die Grenzen unterschiedlicher politischer Milieus und Kulturen hinweg. Ideologisches Klein-Klein und Abgrenzungsrituale gehören vorerst der Vergangenheit an. War es bisher eine treffende Karikatur linken Sektierertums, wie im Kinofilm "Das Leben des Brian" die "Judäische Volksfront“ und die "Volksfront von Judäa" gegeneinander arbeiten, so haben diese nun zueinander gefunden und arbeiten mit vielen anderen Organisationen und aktiven Menschen in einem lockeren Netzwerk gemeinsam für eine gerechtere und friedlichere Welt. Gewerkschaften und Kirchen, Umweltverbände und Menschenrechtsorgani sationen, Aktionsgruppen und Theoretiker, Repräsentanten der Zivilgesellscha ft und jugendliche Rebellinnen, ihnen allen scheint derzeit das gemeinsame Ziel wichtiger als die eigene Profilierung auf Kosten anderer. Betont wird inzwischen eher das Gemeinsame, nicht das Trennende, auch wenn es sicherlich weiter Unterschiede geben darf.
  4. Die "Generation attac" arbeitet in effektiver Weise transnational. Über die Grenzen von Staaten hinweg werden gemeinsame politische Kampagnen verabredet, internationale Großdemonstrationen veranstaltet oder globale dezentrale Protesttage koordiniert. Hier spielt einerseits das Internet mit all seinen Kommunikationsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Aber auch der direkte Kontakt ist gut organisiert wie selten, hergestellt beispielsweise bei den Welt- und kontinentalen Sozialforen der Globalisierungskritiker. Die auf dem Europäischen Sozialforum im November 2002 für den 15. Februar 2003 verabredeten Großdemonstrationen gegen den bevorstehenden Irakkrieg rund um den Globus waren in dieser Hinsicht ein Quantensprung. In der „New York Times " war nach diesem Tag zu lesen, dass nun neben den USA eine zweite Weltmacht sichtbar geworden ist, nämlich die Weltöffentlichkeit.
  5. Die derzeit Aktiven können auf einen riesigen Erfahrungsschatz von Protest-Know-how zurückgreifen. Durch die geschilderte Durchlässigkeit der verschiedenen Bewegungen, politischen Milieus und staatlichen Grenzen ist auch ein riesiger Erfahrungsaustausch auf allen Ebenen entstanden. Die unterschiedlichen politischen Kulturen aus verschiedenen Bewegungstradi tionen befruchten sich gegenseitig und man hört einander gebannt zu, um zu erfahren, was es über politische Strategie, Aktionsformen, Öffentlichkeitsarbeit, Umgang mit Polizei und Justiz, Kampagnenplanung oder organisatorisches Know-how zu lernen gibt.
  6. Die bedeutendste Entwicklung der letzten Jahre ist, dass sich viele in den Protestbewegungen wieder zutrauen, dicke Bretter zu bohren. Zwar existiert bei den meisten Aktiven von heute - im Gegensatz zur früheren westdeutschen Bewegungs-Linken - kein anderer Gesellschaftsentwurf mehr im Hintergrund. Aber wenn beispielsweise attac heute mit dem einerseits diffusen aber andererseits ehrgeizigen Slogan "Eine andere Welt ist möglich" agiert, dann zeigt dies schon, das man gewillt ist, sich mit den Mächtigen in Wirtschaft und Regierungen anzulegen, auch wenn ein kurzfristiger Erfolg nicht in Reichweite ist. Dass gerade auch junge Aktivistinnen und Aktivisten bereit sind, sich trotz "revolutionärer Ungeduld' auf den langwierigen Weg des Ringens um wirkliche Veränderungen zu machen, ist eine der ermutigen den Eigenschaften aktueller Bewegungen.
    Noch vor Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass in unzähligen deutschen Städten - wie im Sommer 2003 - bunte Aktionen gegen etwas so sperriges wie einen Vertrag der Welthandelsorganisation (WTO) zur Liberalisie rung von Dienstleistungen (GATS) stattfinden.
  7. Die heutigen Protestbewegungen profitieren massiv von moderner Kommunikationstechnologie. Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns Ende der 80er Jahre hochmodern vorkamen, als wir nach einer gelungenen Blockadeaktion unsere Presseerklärung mittels eines Faxgerätes innerhalb einer Stunde an alle wichtigen Zeitungen schicken konnten, auch wenn uns die Finger fast wund wurden vom einzelnen Eintippen aller Faxnummern. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass alle, die es wissen wollen und auch alle, die es eigentlich nicht wissen wollen, in Windeseile informiert werden, wenn irgendwo eine kleine Mahnwache stattfindet. Was war es noch vor zehn Jahren für ein riesiger Zeit- und Geldaufwand, alle an einer großen Kampagne Beteiligten per Rundbrief auf dem Laufenden zu halten. Jetzt ist dies per Internet und elektronischen NewsIettern im Handumdrehen möglich. Längst haben unabhängige Infoplattformen im Internet wie beispielsweise de.indymedia.orgn Part von Gegenöffentlichkeit übernommen, mit der die "taz" einst angetreten war. Heute spielen sich manche politischen Kampagnen praktisch nur noch im Netz ab - und waren trotzdem, oder gerade deshalb, erfolgreich. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) gestartete Initiative " Hanau selber kauf en ", mit der verhindert wurde, dass eine Plutoniumf abrik nach China exportiert wurde.
    Und seit alle Leute mit einem Handy rumlaufen, sind die Organisation, der Ablauf, der Informationsfluss und die Pressearbeit bei großen Demonstratio nen und Aktionen ohne ständiges Telefonieren und ohne SMS?Verteiler kaum noch vorstellbar. Die neue Technik macht alles viel flexibler und ermög licht es, innerhalb kürzester Zeit viele Menschen und auch die Presse an einem bestimmten Ort zu versammeln, wenn dies notwendig ist.
  8. Die "Generation attac" hat es so leicht wie niemand vorher. Denn noch nie war die Teilnahme an einer Protestveranstaltung so normal wie heute. In der DDR war oppositionelles Demonstrieren gar nicht vorgesehen, und in der "alten" Bundesrepublik war Protest noch ein Ausdruck von Gegenkultur zum herrschenden Mainstream und führte vielerorts zu heftigen Familienkonflik ten. Heute dagegen werden immer mehr Jugendliche von ihren Eltern gera dezu ermuntert, auf die Straße zu gehen, Und es macht sich bemerkbar, dass es zumindest im Westen inzwischen in jeder Alterstufe unzählige Menschen gibt, für die das Mitstreiten in einer der zahlreichen Protestbewegungen seit den 50er Jahren Teil ihrer Biographie ist und für die es deshalb in bestimmten zugespitzten politischen Situationen gar kein so großer Schritt ist, erneut auf die Straße zu gehen. Ein zusätzlicher Vorteil kann es manchmal sogar sein, dass inzwischen ja viele Ex-Bewegte an Schlüsselstellen der Gesellschaft sitzen, beispielsweise in Zeitungsredaktionen, Behörden oder Gerichten.
    Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich ist mir bewusst, dass es immer noch eine Minderheit ist, die sich an Protesten beteiligt und dass die gesellschaftliche Mehrheit sich machtlos wähnt; aber die politisch aktive Minderheit ist in letzter Zeit gewachsen.
  9. Die heutige Protestgeneration hat die Trennung von den vormals wichti gen Mitstreitern aus der grünen Partei gut verdaut. Längst wurde aus dem Jammern über grünes Umfallen in der Militär-, Atom- oder Sozialpolitik ein neues Selbstbewusstsein. In vielen Politikfeldern sind die Aktionsgruppen, Initiativen und NGOs wieder zu einer Art außerparlamentarischen Opposition geworden. Sie sind dabei zu lernen, wie sich politische Erfolge erzielen lassen, spielen immer öfter professionell auf der Klaviatur zwischen Lobbying, Massenprotest und zivilem Ungehorsam.
  10. Die Hemmschwelle für die Beteiligung an Aktionen zivilen Ungehorsam, also an begrenzten Regelverletzungen, ist deutlich gesunken. Zum einen liegt dies an den in den letzten Jahrzehnten erkämpften Freiräumen, beispielsweise in der Frage der Strafbarkeit von Sitzblockaden. Zum anderen nimmt man es mit der Frage, wann ziviler Ungehorsam überhaupt legitim ist, offensichtlich nicht mehr so genau. Kaum eine Gruppe beschäftigt sich vor ihrer Aktion noch mit der Frage, ob denn auch schon alle legalen Mittel zur Durchsetzung des Ziels ausgeschöpft sind - streng genommen eine notwendige Voraussetzung, wenn man zivilen Ungehorsam "nach Lehrbuch" praktizieren will. Aber da der Ungehorsam medienwirksam ist, wird er gerne eingesetzt – mit oft beachtlichem medialen Erfolg.

Wunderbare Zeiten also? Nur bedingt. Bevor Euphorie ausbricht, möchte ich die Schwierigkeiten ansprechen, die die Veränderungen der letzten Jahre mit sich bringen. Ich will dies an sechs Punkten erläutern, die an manchen Stellen durchaus dem eben Gesagten widersprechen. Das liegt daran, dass sich nicht alles in eindeutige Erklärungsmuster packen lässt ? Widersprüche gehören zum Bild der Bewegungen naturgemäß dazu.

  1. Protest hat an gesellschaftlicher Sprengkraft verloren. Dass die Teil nahme an einer Demo inzwischen nicht mehr Ausdruck eines gegenkulturellen Modells ist, sondern weitgehend ein Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden ist, nimmt dem Protest natürlich auch einen Teil seiner Wirkung. Wer nicht mehr provoziert und wer das System nicht mehr grundlegend in Fragje stellt, ist nicht mehr so gefährlich für die Etablierten und wird auch in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen.
    Das Absterben des typischen alternativen Milieus, dUS dem große Teile der Bewegungen in den 70er und 80er Jahren erwuchsen, nimmt dem Protest von heute auch eine gewisse Tiefenschärfe. Es ist eben nicht mehr so, dass diejenigen, die demonstrieren, sich auch automatisch ökologisch ernähren, in Wohngemeinschaften wohnen und mit dem Fahrrad zur Arbeit im selbstverwalteten Betrieb fahren. Beim Marsch durch die Institutionen sind auch große Teile dieser Kultur verloren gegangen.
    Die vorhin schon genannte Besetzung von Schlüsselpositionen der Gesellschaft mit Ex-Bewegten kann natürlich auch Nachteile mit sich bringen, bei spielsweise wenn sich diese bemühen, sich von ihrer Vergangenheit abzugrenzen oder auch nur, wenn sie die politischen Taktiken von Protestbewegungen so gut kennen, dass sie es einfacher haben, diese auszuhebeln.
  2. Kuschelfaktor und Open-Space-Netzwerke ersetzen stringente Gruppenarbeit. Wenn es nicht mehr das gesellschaftliche Gegenmodell ist, was schweißt dann Protestgruppen heute zusammen? War früher die Gruppe für viele die Keimzelle oder die Verheißung einer neuen Gesellschaft, oder doch zumindest eine effektive Arbeitsform, so bestimmen heute vor allem emotionale Werte den Zusammenhalt auch einer politischen Gruppe. Da geht es um den Erlebniswert, manchmal auch den Kuschelfaktor - also die Frage, wie nahe mir die anderen Gruppenmitglieder emotional stehen. Macht es Spaß, mit denen zusammenzuarbeiten? Manchmal geht es auch ganz direkt um die Möglichkeit der Partnerwahl. Klar, das alles gab es auch vor Jahrzehnten schon, aber inzwischen stehen diese Faktoren ganz offensichtlich im Vorder grund und werden auch offensiv vertreten. Dabei kann das Politische durch aus ins Hintertreffen geraten.
    Daneben ist zu beobachten, dass die traditionellen Arbeitsformen, etwa in Form wöchentlicher Gruppentreffen, langsam an Bedeutung verlieren und durch lockere Netzwerke ersetzt werden, die das Open-Space-Prinzip in großer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung praktizieren. Alles ist im Fluss. Mehr oder weniger zufällig, aber immer entlang persönlicher Sympathien bil den sich Knotenpunkte im Netzwerk und lösen sich wieder auf. Man trifft sich in kleiner oder großer Runde, immer wieder mit anderen aus dem Netz, bei Feten oder zum gemeinsamen Frühstück, zum Wohnung renovieren oder zu einem Ausflug ins Grüne - und am Rande werden Infos ausgetauscht, politische Aktionen entwickelt und Verabredungen getroffen. Auch das gab es natürlich alles schon früher, aber eben meist nur neben einem verbindlichen Gruppenzusammenhang und nicht so frei schwebend wie heute.
    Die unverbindlicheren Strukturen haben konkrete Folgen: Den Rekordteilnehmerzahlen bei Demos und Aktionen stehen teilweise schwache organisatorische Kerne vor Ort gegenüber. Zwei Jahre nach der größten Demo in der Geschichte der Bundesrepublik - gegen den Irakkrieg im Februar 2003 - gibt es erschreckend wenig aktive lokale Friedensinitiativen. Und auch die Zahl der halbwegs vorbereiteten Bezugsgruppen, die sich an den Blockaden der Castor-Transporte beteiligen, nimmt stetig ab, obwohl sich gleichzeitig seit einem Tiefpunkt im Herbst 2001 jedes Jahr mehr Menschen auf die Straße vor Gorleben setzen.
  3. Protest wird nicht mehr gemacht oder gelebt, sondern genutzt. Wichtiger als die Rettung der Welt ist für viele politisch aktive junge Menschen der ganz praktische Nutzwert des Engagements - und zwar für sich selbst. Die wollen rausholen was geht - Emotionen, Wissen, Erlebnisse oder Karrierechancen. Es gibt keine vollständige Identifikation. Eine gewisse Distanz wird konsequent eingehalten. Vergleichen lässt sich dies mit einer Art User-Haltung bei technischen Geräten, Das Aufwand-Nutzen-Verhältnis muss stimmen, Erfolge müssen heute erlebbar sein, ja es kommt insgesamt stark auf den Erlebniswert an. Politische Eventkultur ist angesagt. Dagegen ist die Bereitschaft, wirkliche Mühen auf sich zu nehmen, oftmals gering ausgeprägt.
  4. Die sozialen Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert. Der Druck auf Arbeitslose steigt. Jedes Semester, das länger studiert wird, kostet bares Geld, Sozialen und politischen Projekten werden staatliche Zuschüsse gekürzt. Mehr und mehr Menschen brauchen ihre ganze Kraft und Zeit, um ökonomisch zu überleben. Das sind denkbar schlechte Rahmenbedingungen für ehrenamtliche politische Arbeit. Immer mehr Aktivisten fällt es schwer, mal ein paar Monate oder gar Jahre für die Politik zu "opfern", statt konsequent an der eigenen Karriere zu basteln oder gegen den sozialen Absturz anzukämpfen.
  5. Themensurfen beschleunigt Protestzyklen. Die inhaltliche und organisatorische Flexibilität der aktuellen Protestgeneration, gestern gegen den Irak krieg, heute gegen ungerechte Globalisierung und morgen gegen den Sozialabbau, hat auch zur Folge, dass es einerseits zwar so viele Demonstrationen und Demonstranten wie selten gibt, aber andererseits ein Bewegungshype so schnell wieder verflachen kann, wie er entstanden ist. Während sich Medien und Organisatoren noch über die Stärke des Protestes freuen, ist die Karawane längst zum nächsten Thema weitergezogen.
    Die heutige Protestgeneration hat etwas von den Bildschirmkids, die sich durch die Fernsehprogramme zappen oder durchs Internet surfen. Die Sprunghaftigkeit und Unverbindlichkeit macht sich nicht nur an den Protestinhalten fest, sondern auch an den Formen. Wer sich einmal an einer Aktion zivilen Ungehorsams beteiligt, wird deshalb nicht gleich zur gewaltfreien Aktivistin, die auch in den kommenden Jahren politische Gegenmacht auf se organisiert.
  6. Die Berichterstattung leidet unter den Gesetzen des Medienmarktes. Der Zapping-Effekt wird noch verstärkt durch die massenmediale Wahrnehmung der Proteste. Hatten es die Bewegungen in den 60er, 70er und 80er Jahren noch mit einem weitgehend feindlichen Medienumfeld zu tun, so wird heute zwar öfter wohlwollend berichtet. Allerdings führt dies zu zwei problematischen Folgen:

Erstens: Die Darstellung in den Medien erinnert inzwischen oft an Sport berichterstattung. "Höher, schneller, weiter“ ist die Devise. Werden neue Rekorde aufgestellt, berichten die Journalisten in epischer Breite. Doch gibt es keine neuen Bestleistungen, dann fehlt dem Protest der Neuigkeitswert und er geht im medialen Grundrauschen unter. Nach 17 Stunden Castor-Blockade durch die vier im Betonblock angeketteten Aktivistinnen und Akti visten von Robin Wood im Frühjahr 2001 war jede Aktion danach kaum mehr iinteressant, weil sie den Atommüllzug weniger lange aufgehalten hat. Nach einer halben Million Demonstranten am 15. Februar 2003 in Berlin hatten die Aktionen und Demonstrationen gegen den Irakkrieg kaum noch eine Chance, adäquat wahrgenommen zu werden. Obwohl noch wochenlang jedes Wochenende Hunderttausende auf die Straße gingen, war dies den Zei tungen nur noch zweispaltige Artikel auf Seite 5 wert. Und wer heute mit einem riesigen Transparent ein Gebäude erklettert, kann sich schon glücklich schätzen, wenn ein Foto in der regionalen Presse erscheint.

Zweitens: Seit einigen Jahren gibt es auch Proteste, die praktisch erst von den Medien gemacht werden. Da passt irgendein Thema gerade ins redaktio nelle Konzept und wird hochgepuscht. Sogar teils aus Pressekreisen initiiert wurden Anfang der 90er Jahre die Lichterketten gegen rassistische Gewalt. Die Greenpeace-Aktion gegen die Versenkung der Ölplattform Brent Spar war vor allem deshalb so erfolgreich, weil die Medien im Sommer 1995 gerade kein anderes Thema hatten und dieses mächtig spannend fanden. Es gab dann sogar eine Nachfolgekampagne gegen die französischen Atomtests auf Mururoa, zu der manche Zeitungsredaktionen mit eigenen Protestbooten aufbrachen. Die nächsten Greenpeace-Aktionen waren dann wieder out, weil es den Lesern sonst langweilig geworden wäre. Der Widerstand gegen den ersten rot-grünen Castor-Transport nach Gorleben im März 2001 wurde mehrere Tage praktisch live und rund um die Uhr auf diversen Sendern übertragen. Das lag aber nicht in erster Linie am genialen Konzept der Proteste, son dern daran, dass alle Journalistinnen und Journalisten die Geschichte von dem Konflikt grüne Regierung gegen grüne Basis so spannend fanden.

Auch die Dynamik der Montagsdemos gegen Hartz IV im letzten Sommer hatte eine starke mediale Komponente. Presse und Fernsehen haben sich wie eine ausgehungerte Meute auf die erste kleine Magdeburger Montagsdemo gestürzt. Und durch diese breite Berichterstattung bekam die Idee so schnell so großen Zulauf ? wurde aber von den Medien auch wieder massiv herunter geschrieben, als die Sache begann, sich immer mehr auszuweiten.

Es geht hier meist nicht um politische Inhalte, auch nicht um die Meinung des Chefredakteurs, sondern um die Gesetze des Medienmarktes, und diese spielen inzwischen leider die weitaus größte Rolle bei der Beantwortung der Frage, welchen Platz welche unserer Aktionen in der Berichterstattung einnimmt. Es erinnert mich manchmal an die In/Out-Listen auf den Vermischtes-Seiten der Zeitungen. Da kann dann die beste Pressearbeit kaum noch etwas nutzen, und es bleibt letztendlich fast dem Zufall überlassen, ob ein Thema einschlägt, und wie lange es auf der Agenda bleibt.

Soweit mein Blick auf die aktuellen und veränderten Rahmenbedingungen von Protestbewegungen. Es schließt sich natürlich die Frage an, wie nun die Bewegungen mit den Veränderungen umgehen können. Das für Erfolg oder Misserfolg von Protestbewegungen oft entscheidende window of opportunity, also der Zeitraum, in dem sich die entscheidenden politischen Chancen auf tun, kommt immer plötzlicher. Bewegunqszyklen werden aus den genannten Gründen immer schneller, und wir müssen versuchen, mit unseren Mitteln dazu beizutragen, Ressourcen wie Geld, Engagement und Know-how in aktuelle Auseinandersetzungen aktiv hineinzutragen und zwar punktgenau dann, wenn es darauf ankommt. Das geht nicht mehr nur mit Organisationen, die langfristige Pläne und Hauptamtliche haben, deren Terminkalender schon für mehrere Monate ausgebucht ist - jedenfalls nicht nur.

Deshalb, und auch als Reaktion auf das veränderte Protestverhalten, gibt es seit einem guten Vierteljahr etwas Neues in der bundesrepublikanischen Pro testlandschaft. Unter www.campact.de knüpfen einige junge Aktivistinnen und Aktivisten nach dem US-amerikanischen Vorbild "move on" ein Online Netz politisch aktiver Bürgerinnen und Bürger. Campact bietet Möglichkeiten an, mit nur fünf Minuten Zeit vom eigenen Rechner aus politisch aktiv zu werden. Fertig formulierte Protestmails und E-Cards an Bundestagsabgeord nete können ohne großen Aufwand abgeschickt werden. "Politik to go" hat das die " Frankfurter Rundschau" genannt: alles schon fertig gekocht, direkt zum Mitnehmen für die Laufkundschaft.

Seit dem Start von Campact wurden auf diese Weise schon zwei Online-Kampagnen gestartet: für einen Volksentscheid über die EU-Verfassung und für die Offenlegung von Nebeneinkünften der Bundestagsabgeordneten. Beide Kampagnen sind inzwischen so gut wie abgeschlossen. Die Campact Organisatoren sind bereits auf der Suche nach neuen Themen.

Campact ist offensichtlich modern: virtuell, schnell, kurzlebig. Niemand muss sich mehr zu den oft ätzenden oder langwierigen Treffen von Initiativen und Protestgruppen quälen. Es reicht ein Internetzugang in den eigenen vier Wänden. Politisches Engagement ist also endlich auch in einer völlig asepti schen Variante möglich. Das entspricht dem Zeitgeist. Ob es eine erfolgreiche Variante wird, muss sich aber erst noch zeigen.

Mindestens ebenso wichtig erscheint es mir, noch bessere Instrumente zu entwickeln, um diejenigen Bewegungsaktivisten, die über große Erfahrung, vielfältige Kontakte und politisches Geschick verfügen, bei der Stange zu halten. Jahr für Jahr gehen den Protestbewegungen unschätzbare personelle Ressourcen aus biographischen und ökonomischen Gründen verloren.2)

Letztlich kommt es darauf an, die vorhandenen Stärken der "Generation attac" offensiv zu nutzen und ihre Schwächen geschickt aufzufangen, statt aus Gewohnheit in althergebrachten Handlungsmustern hängen zu bleiben. Gefragt ist dabei gerade bei den Organisatoren der Protestbewegungen poli tisches Fingerspitzengefühl. Es gibt riesige Potenziale, die aber nicht auf Knopfdruck zur Verfügung stehen, sondern immer wieder neu gewonnen werden wollen. Dazu bedarf es der richtigen Mischung aus gesundem Rea lismus und motivierenden Visionen.

Die aktuelle Situation der Protestbewegungen birgt große Chancen, aber wir müssen sie auch nutzen.

1) Dieser Text basiert auf einem Vortraq, den der Aumr auf der Strategiewerkstdtt der "Bewegungsstiftung " am 5. März 2005 in Berlin gehalten hat.

2) Gerade die Bewegungsstiftung (vgl www.bewegungsstiftung.de) könnte ein spannender Ausgangspunkt für Handlungsfähigkeit in plötzlich entstehenden windows of opportunity sein. Über einen Eilantrag könnte kurzfristig Geld bereitgestellt werden, und gleichzeitig gäbe es "Bewegungsarbeiter", die ihr Know-How einbringen - so entstünde ein wichtiger Beitrag für effektiven Protest.

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