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GESCHICHTE SOZIALER ORGANISIERUNG

Emanzipation: Das Herrschaftsförmige aus den Beziehungen verdrängen


1. Soziale Organisation als Grundform menschlichen Lebens
2. Wer macht Geschichte? Was prägt die Gesellschaft?
3. Emanzipation: Das Herrschaftsförmige aus den Beziehungen verdrängen

Emanzipation bedeutet Befreiung und Ausdehnung von Handlungsmöglichkeiten. Sie enthält also sowohl die Befreiung von etwas wie auch die Freiheit zu etwas. Dabei ist sie als Prozess gedacht, was schlicht eine realistische Annahme zum einen über die Prozesse der Befreiung "aus rechtl., polit.-sozialer, geistiger oder psych. Abhängigkeit" (Meyers Taschenlexikon) darstellt als auch bereits mitdenkt, dass die Ausdehnung von Handlungsmöglichkeiten nur als evolutionärer Prozess gelingt, da jede neue Entwicklung erst die Chance zur weiteren Entwicklung auf dem erreichten Niveau schafft.

Im Original: Definitionen zu Emanzipation
Def. von "Emanzipation" in Meyers Taschenlexikon
Befreiung von Individuen oder sozialen Gruppen aus rechtl., polit.-sozialer, geistiger oder psych. Abhängigkeit bei ihrer gleichzeitigen Erlangung von Mündigkeit und Selbstbestimmung.

Aus Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau
Emanzipative Prozesse im libertären Sinne, zeichnen sich gerade durch Infragestellungen aus, die nicht nur eine Umstrukturierung von Herrschaft beabsichtigen, sondern die in der Lage sind, das Wesen der Herrschaftsstrukturen selbst anzuzweifeln. Dieser oft schwierige Schritt des Zweifels, bedarf eines, über den Ist-Zustand der Gesellschaft hinausreichenden Maßstabs, der die Menschen in die Lage versetzt, sich gedanklich über die Ebenen/Grenzen der vorgefundenen Gegebenheiten hinwegzusetzen. ... (S. 45)
Emanzipation in unserern Verständnis strebt eine Form der Mündigkeit und Selbstständigkeit an, die immer wieder aufs Neue die gesetzten Grenzen anzweifelt, die letztlich in der Auseinandersetzung, Überprüfung und auch in der Überschreitung des "Gegebenen" ihre eigenen Maßstäbe zu entwickeln vermag. Sie beschreibt in diesem Sinne einen dynamischen Prozess des Lernens, des EntwickeIns eigener Stärke gegen Widerstände, der nicht in der banal selbstaufgewerteten Position endet, sondern der in der Lage ist, auch gerade diesen Prozess der Aufwertung (der u.U. andere entwertet) in Frage zu stellen. Emanzipation unter anarchistischer Vorstellung, steht für den Versuch der Annäherung an eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Dieser Prozeß ist abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und somit nicht linear und starr, sondern auch mit dem Wesen von "Versuch und Irrtum“ behaftet. Nicht zuletzt die immer wieder neu entstehende Schwierigkeit mit eigener, während emanzipativer Schritte entstehender, Macht und Stärke umzugehen, macht das Bemühen um herrschaftsfreien Umgang, und das Streben nach einer Gesellschaft ohne Staat, zu einer nicht endenden Auseinandersetzung. (S. 48)


Aus Marx, Karl (1988, 15. Auflage): "Zur Judenfrage" in: MEW 1 (S. 370), Dietzverlag in Berlin
Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. (...) erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.

Aus Kappler, Marc (2006): "Emanzipation durch Partizipation?", Marburg (S. 17)
Der Unterschied zwischen der Bewusstwerdung der eigenen Kräfte als politische und der Bewusstwerdung jener als gesellschaftliche Kräfte, ist die Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten beim ersteren auf vorgegebene politische Verfahrensweisen, wogegen bei der zweiten Variante die Überwindung der konventionellen und institutionalisierten politischen Strukturen hinzukommt. Ähnlich gelagert – nur um den Prozesscharakter erweitert – ist die Trennung von Martin Greiffenhagen in ein konservatives und ein progressives Verständnis von Emanzipation. Ein konservatives Verständnis liegt vor, wenn im statischen Sinne die „Freilassung einzelner oder Gruppen innerhalb eines unerwünschten Herrschaftsgefüges“ gemeint ist. Ein progressives dagegen wäre „ein prozeßhaftes Verständnis, welches das politische Gefüge selbst in Frage stellt und in die Emanzipationsbewegung einbeziehen will.“



In diesem Sinn verbindet die Idee von Emanzipation die verschiedenen Aufhebungen von Beschränkung. Sie will die Produktivkraft der einzelnen Menschen und ihrer freien Zusammenschlüsse steigern, sie will die Handelnden aber gleichzeitig befreien aus formalen Schranken, will ihnen die Fähigkeit vermitteln, Diskurse zu hinterfragen, um eigene Überzeugungen bilden zu können. Ebenso will sie allen Menschen den Zugang zu den Handlungsmöglichkeiten schaffen, die in einer Gesellschaft entwickelt sind - vom Gebrauch der Hilfsmittel und Techniken bis zu Wissen und praktischen Erfahrungen.
Allerdings gibt es kein Rezeptbuch der Emanzipation. Auch der Entwurf von Utopien, wie eine Gesellschaft nach emanzipatorischer Wandlung aussehen kann, hilft nur als Anregung und Gedankenmodell. Denn erstens ist Emanzipation ein immerwährender Prozess, weil jeder Schritt der Befreiung und neuer Handlungsmöglichkeiten die Ausgangslage des weiteren Fortschreitens verändert, d.h. in der Regel die Optionen erweitert. Insofern müssten auch die Entwürfe der Utopien ständig fortgeschrieben werden. Sie sind ein Brainstorming zur Zukunft durch die Brille der Gegenwart, die aber schon morgen veraltet sein kann und wird.
Zweitens gibt es auch keinen Schalter, der umgelegt werden könnte, um eine gewünschte Zukunft zu erreichen. Zwar sind politische Umstürze oder kriegerische Eroberungen in der Lage, geschichtsträchtigte und groß erscheinende Veränderungen zu erzeugen. Aber das gilt vor allem vor den Augen einer auf zentrale Machthandlungen fixierten Geschichtsschreibung. Die in der gesamten Gesellschaft gestreuten, aber zur Zeit sehr ungleich verteilten Machtressourcen, eben die Diskurse oder der Zugriff auf Produktionsmittel, verändert sich bei solchen scheinbaren Sprüngen wenig oder gar nicht. Befreiung bedeutet hier, die Zwänge,gesteuerten Deutungen, ungleich verteilten Ressourcen und Zugangsberechtigungen sowie die formalisierten Normen in allen Situationen und Zuständen zu enttarnen, zu hinterfragen und zu überwinden. Zusammengefasst: Es gilt, das Herrschaftsförmige in den Verhältnissen, von der gesellschaften Ebene über die Subräume, in denen wir uns bewegen (Gruppe, Familie, Firma, Verein), bis in den Alltag zu entdeckenund Strategien zu entwickeln, sie zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. Daher stellt sich die Frage, in welchen Formen Herrschaft auftreten kann, um sie lokalisieren, hinsichtlich ihrer Wirkmechanismen entlarven und erfolgreich bekämpfen zu können.

Was ist Herrschaft?
Herrschaft ist ein komplexes, sich gegenseitig verstärkendes und sicherndes sowie ständig selbst reproduzierendes Phänomen. Es schafft Strukturen, innerhalb derer die Anwendung von Herrschaft für die Menschen funktional ist und der Verzicht auf Herrschaft der Selbstaufgabe gleich kommt. Versuche, diese Herrschaft zu beschreiben, können nur Hilfsdefinitionen liefern, die das Unbeschreibbare zwecks rationaler Fassbarkeit in Begriffe und gedankliche Schubladen packen. Im Text „Ohne Herrschaft ginge viele nicht – und das wäre gut so“ teilte die Gruppe Gegenbilder (siehe unten und im Buch "Autonomie&Kooperation") Herrschaft in fünf Typen:
  • Herrschaft als Institution: Oben und Unten sind gut fühlbar, wo Herrschaft institutionell auftritt, d.h. in Form einer sichtbaren oder unsichtbaren, aber fühlbaren Autorität. LehrerInnen, PolizistInnen, Eltern usw. müssen nicht ständig anwesend sein, um als potentiell bedrohende Autorität dennoch immer zu wirken. Institutionelle Herrschaft sind auch physisch spürbare Unterschiede in der Zugänglichkeit zu Ressourcen z.B. durch Eigentumsrecht. Passwörter, Tür- und Schrankschlösser und mehr schaffen offensichtliche Unterschiede zwischen Menschen.
  • Marktförmige Zwänge, Kapitalverteilung und ökonomische Abhängigkeiten: Der Zwang zur ständigen marktförmigen Reproduktion, zum Verkauf eigener Arbeits- und Denkkraft sowie der nur per Geld oder Tausch zu begleichende Wert in allen Produkten und in vielem Wissen normiert das Verhalten im Alltag. Selbst für Produkte, die im Überfluß da sind, müssen Menschen Geld erwirtschaften, um an sie zu kommen. Ausbrechen aus dieser Norm ist wiederum mit dem Einschreiten der institutionellen Macht verbunden, genauso wie diese den Zwang zur durchgreifenden Wertlogik erst garantiert.
  • Diskurs, Kategorien, Erwartungen, Standards: In den Köpfen und als deren Ausfluss an allen Stellen dieser Gesellschaft reproduzieren sich bestimmte Wahrnehmungen und Weltanschauungen, die nicht der eigenen Überzeugung, sondern dem entspringen, was als „Norm“alität gesetzt wird: Zweigeschlechtlichkeit, Rassen, Gewaltenteilung, Gut und Böse sowie vieles mehr sind bei näherem Hinsehen gar nicht existent, wohl aber durch gerichtete Wahrnehmung doch eine Selbstverständlichkeit, bei deren Infragestellung die jeweilige Person als „unnormal“ bis „ver-rückt“ gelten würde.
  • Konstruktion und Instrumentalisierung kollektiver Identitäten: Die Autonomie von Menschen wird durch die Schaffung von Kollektiven und die erzwungene oder diskursive Integration der Einzelnen in dieselben deutlich eingeschränkt. Zugehörigkeit zu Nation, Familie, oft auch zu Vereinen, Regionen, Dorfgemeinschaften, Clans, den Kollektiven am Arbeitsplatz, der kulturell gleich Interessierten, ähnlich gekleideter Personen usw. wird ohne Zustimmung oder durch deutlichen Erwartungsdruck herbeigeführt. Ab dieser Zugehörigkeit ist die einzelne Person nicht mehr voll selbstbestimmt handlungsfähig, weil das Kollektiv eine eigene Subjektivität erlangt – wenn auch bei näherem Hinsehen immer nur durch konkrete Personen, die im Namen des Kollektivs, also des Volkes, der Nation, der Gruppe u.ä. sprechen.
  • Metaebene: Menschen haben sehr unterschiedlich gelernt, neben dem unmittelbaren Erleben auch in der Metaebene zu denken. Sie können dann aus der eigenen Befangenheit und konkreten Situation heraustreten und wie einE externe BetrachterIn Verhalten, gegenseitige Beeinflussung, Interessen und Strategien der Beteiligten analysieren. Wer das tut, steht auf einem anderen Level gegenüber denen, die darauf verzichten. Beide handeln oft unbewusst, z.B. entsprechend ihrer Sozialisierung. So oder so schafft es bedeutende Unterschiede.

Herrschaft als alles durchdringender, sich ständig reproduzierender Systemkern
Herrschaft ist überall und tritt in verschiedenen Formen auf. Ebenso reproduziert sich Herrschaft auf sehr unterschiedliche Weise. Die institutionellen Formen werden über formale Herrschaft organisiert. Sie treten innerhalb der Gesellschaft im Großen (Regierungen, Konzern-Hierarchien, Bildungssystem usw.) wie im Kleinen (Vereine, Familien, Arbeitsplatz/Ausbildung usw.) auf, sind also überall präsent, überlagern und beeinflussen sich. Fast immer ist jeder Mensch in jedem Augenblick in mehreren formalen Herrschaftsverhältnissen gefangen.
Noch durchdringender sind weitere Typen von Herrschaftsverhältnissen: Erstens das marktförmige, also die ständige Notwendigkeit zur markt- und meist geldförmigen Reproduktion sowie die Taxierung aller Dinge und immer öfter auch von Menschen nach ihrem Warenwert. Zweitens das diskursive, also die Normen, Erwartungshaltungen, Zurichtungen und Rollenlogiken zwischen den Menschen. Sie beherrschen den Alltag der Menschen in jeder Minute. Menschen richten ihr Verhalten nach den Erwartungshaltungen des sozialen Umfeldes aus, taxieren einander nach Nützlichkeit, versuchen ihre Rolle auszufüllen und fordern von anderen selbiges ein - vielmals sehr unterschwellig, aber deshalb nicht weniger wirksam. Ob mensch einkaufen geht oder nur spazieren, ob mensch schläft oder wacht, fernguckt oder Fußball spielt - immer gelten die Normen, immer ist definiert, was sich in diesem Moment und für die konkrete Person gehört. Regeln, Wertkategorien und mehr durchziehen das gesamte Leben („Bio-Macht“).
Herrschaft bedeutet dasPrivileg, etwas zum Nachteil anderer tun zu dürfen, ohne selbst negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Das stellt ein entscheidendes Motiv dar, auch herrschaftsförmigzu handeln. Beständige Macht über andere zu haben, ist also selbst der Auslöser, diese auch zu gebrauchen. Deshalb ist auch die Theorie, durch Kontrolle die Ausübung von Herrschaft einhegen zu können, sinnlos, denn in der Konsequenz würden bestimmten Menschen neue Privilegien zugebilligt, die ihnen Kontrollmöglichkeiten eröffnen. Wenn aber Herrschaft sich selbst auslöst, so würden diese Privilegien vor allem zur Ausübung von Macht führen - dann unkontrolliert. Folglich ist es kein Wunder, dass

  • Polizei, Armee und Gefängnisse die gewalttätigsten Teile einer Gesellschaft sind, denn sie haben das Recht auf Gewalt,
  • niemand so oft das Recht bricht wie RichterInnen und StaatsanwältInnen, denn sie haben die Deutungshoheit über das Recht und
  • es nirgendwo anders so viele sexuelle Gewalt und Missbrauch gibt wie in Familien, Ehen, in Arzt- und Therapiepraxen sowie in Heimen und Internaten, denn sie haben eine Deutungs- und Verfügungshoheit über die sexuelle Selbstbestimmung ihrer "Opfer".

Herodot führte es in seinen"Historien" aus:"Wie kann die Alleinherrschaft etwas Rechtes sein, da ihr gestattet ist, ohne Verantwortung zu tun, was sie will? Auch wenn man den Edelsten zu dieser Stellung erhebt, wird er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Das Gute, das er genießt, erzeugt Überhebung, und Neid ist dem Menschen schon angeboren." (III. Buch 80, zitiert nach: Massing, Peter/Breit, Gotthard (2002): „Demokratie-Theorien“, Wochenschau Verlag Schwalbach, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (S. 21))
Genützt hat die Warnung wenig. Bis heute sind gerade die höchsten WächterInnen über Recht und Ordnung besonders gut angesehen - sei es das Bundesverfassungsgericht oder internationale Institutionen. Das zeigten einen naiven Glauben an das Gute von oben, obwohl klar ist, dass jede privilegierte Stellung gerade die Ausübung von Herrschaft provoziert. Das bedeutet dann, dass Machtgebrauch immer zum Machtmissbrauch tendiert.
Dieses „System“ Herrschaft durchziehtalles und reproduziert sich ständig neu. (Fast) alle Menschen sind nicht nur beherrscht durch Institutionen, Rollen und Erwartungshaltungen, Normen und Zurichtungen, Inwertsetzung und Verkauf der eigenen Fähigkeiten, sondern agieren auch selbst als aktives Subjekt zur Herstellung von Herrschaft. Menschen werden zugerichtet und richten zu. So durchdringt Herrschaft alle Beziehungen zwischen Menschen. Besonders offensichtlich wird das bei der Betrachtungsweise der Gesellschaft als eine räumliche Einheit. Der Gesamtraum ist herrschaftsförmig organisiert, es gibt die Institutionen der Macht, die Kontrolle, die Regeln und Gesetze sowie eine Vielzahl subtiler Formen der Normierung und Zurichtung. Der Gesamtraum kann in viele Subräume zerlegt werden - und immer wieder finden sich die gleichen Logiken von Herrschaft. Immer und immer weiter ist Gesellschaft bis in kleinste Zellen menschlichen Zusammenlebens zerteilbar. Die Zellen überschneiden sich, kaum ein Mensch ist nur Teil einer Familie oder nur Teil der MieterInnen in einem Haus, der ArbeitnehmerInnen am Arbeitsplatz, der SchülerInnen in einer Klasse usw. Aber in jeder Zelle spiegelt sich das volle Programm von Herrschaft wieder. Diese Zellen sind ständig im Fluß, sie vergehen und andere entstehen neu. Diese Neuentstehung ist der deutlichste Punkt, wie Herrschaft funktioniert und allgegenwärtig ist bzw. sich reproduziert. Wo neue soziale Gruppen entstehen, z.B. Vereine, Firmen, Familien oder eben auch politische Gruppen und Zentren, so ist jedes Mal theoretisch zunächst ein leerer Raum geschaffen. Die Frage der Herrschaft muss sich dort neu regeln. Es spricht nicht für die Existenz eines Naturgesetzes ist, dass sich Herrschaft dort von selbst organisiert. Das „System“ von Herrschaft erscheint weder aus biologischer Sicht irgendwie schlüssig noch erfolgreich. Dennoch wird Herrschaft in jedem neu geschaffenen Raum wieder neu hergestellt. Die Logiken gleichen denen des Umfeldes mit einer Tendenz zur ganz allmählichen, stetigen Modernisierung der Formen von Herrschaft, ohne selbige ganz oder teilweise zu überwinden. Die diskursiven Vorgaben sorgen dafür, dass Menschen sofort in ihre Rollen springen und „wie von selbst“ Verhaltensweisen reproduzieren, die die AkteurInnen auch vorher in anderen Subräumen zeigten. Veränderungen, bei Menschen immer möglich, bewegen sich in den Kanälen des Normalen und Normierten, d.h. Personen springen von einer Rolle zur anderen, aber selten raus aus den gesellschaftlich vorgedachten, diskursiv geprägten Rollentypen. Meist verbinden sich die diskursiven Verhältnisse mit marktförmigen Zwängen, die in allen Subräumen reproduziert werden - Reiche bleiben reicher als andere, ständig wird über Geld und davon abhängige Möglichkeiten nachgedacht usw. Schließlich wirken bei der ständigen Herstellung von Herrschaft formale regeln: Wer kommt ans Konto ran, hat die Schlüssel zu einem Raum, kann nach außen vertreten, ist formaleR ChefIn, wird von außen als Autorität angesprochen oder dargestellt usw. Das tritt auch in politischen Bewegungen auf, d.h. auch diese trägt zur ständigen Reproduktion der gängigen Herrschaftsmuster bei.
Herrschaft ist also etwas, was sich selbst immer wieder herstellt. Das ist Normalität. Emanzipation ist daher nur als energischer und aktiver Gegenprozeß vorstellbar. Die politische Bewegung ist das beeindruckendste Beispiel für die Überlegenheit des allumfassenden „Systems“ Herrschaft selbst gegenüber dem formulierten Willen der AkteurInnen. In krassem Gegensatz zu den eigenen Slogans, ständigen Beteuerungen und politischen Positionen sind politischen Zusammenhänge insgesamt und in jedem Subraum von Hierarchien und genormten Verhalten intensiv durchzogen. Zurichtungen, Erwartungenshaltungen, unterschiedliche Möglichkeiten, die ständige Sortierung nach Nützlichkeit oder auch formale Hierarchien prägen den Alltag politischer Arbeit. In jeder neuen Gruppe und in jedem neuen Projekt reproduziert sich diese Herrschaft ständig - und sie gleicht den Logiken von Herrschaft, wie sie in der Gesellschaft auch insgesamt gelten. Insofern ist politische Bewegung ein fester Bestandteil des „Systems“ - sie ist ebenso an der Aufrechterhaltung von Herrschaft beteiligt wie jeder andere Teil von Gesellschaft. Das ist nicht überraschend, sondern entspricht der Logik einer sich diskursiv, marktförmig und institutionell im gesamten Leben verankernden und überall reproduzierenden Herrschaft. Aber es ist fatal. Politische Bewegung ist nicht das Gegenmodell zur Herrschaft, sondern eher „zuständig“ für die Organisierung von Herrschaft in den Subräumen politischer Arbeit. Sie ist damit systembildend, ob sie will oder nicht. Noch mehr: Gerade die Selbstreproduktion von Herrschaft in „linken“ politischen Gruppen führt zur Modernisierung von Herrschaft, weil dort verkrustete, allzu offensichtliche oder uneffiziente Führungstechnologien offensiver in Frage gestellt und durch neue Techniken ersetzt werden. Auch von daher ist nicht überraschend, dass es gerade Ex-„Linke“ sind, die nach Erklimmen der Karriereleiter später an anderer Stelle der Gesellschaft Herrschaft moderner umsetzen und erneuern - siehe die effizienten neoliberalen „Reformen“ gerade rot-grüner und rot-roter Koalitionen oder die Modernisierung zentralistischer NGO-Strukturen durch die instrumentellen Herrschaftsverhältnisse bei Attac oder, noch neuer, Campact und .ausgestrahlt. Selbst „linksradikale“ Organisierungen mit Plena, Delegiertenräte und Orga-Gruppen vollführen in diesem Sinne nur Modernisierungen überkommener Strukturen wie Mitgliederversammlungen und starrer Hierarchien. Gerade in politischen Gruppen, die wie alle kleinen und großen Strukturen Subräume der Gesellschaft, d.h. teil-eigenständig, aberintensiv verwoben mit allem sind, ist die ständige Reproduktion von Herrschaft gut zu er erkennen:
  • Akzeptanz formaler Zwänge von außen (Geld, gesetzlicher Rahmen für Rechtsformen, Räume, Versammlungsrecht, Strafrecht usw.).
  • Selbstreproduktion von Normierungen, Dominanzen oder Rollenverhaltenin den Gruppen und Netzen.
  • Durchsetzung eines kollektiv-identitären „Wir“, Aufbau kollektiver Identitäten, d.h. der Organisierung nach sozialen Codes verbunden mit ständigen Ab- und Ausgrenzungen gegenüber dem „Anderen“.
  • Effizienzstreben (nicht als solches das Problem) unter den herrschenden Bedingungen, die Erfolg an gesellschaftskonformes Verhalten zu binden scheint.
  • Integration strategisch erfahrener Politaktivistis in herrschaftsförmige Organisationsformen (z.B. "Aufsaugen" durch die NGOs).
Gleiches gilt für die Menschen, die Emanzipation anstreben, für ihre Lebensbereiche. Familien, (Nicht)Arbeitsplatz, Freizeittreffen ... alles kann schnell zur Reproduktion von Herrschaft oder zum Kampffeld der wichtigsten gesellschaftlichen „Schlacht“ werden - der um die ständige Wiederherstellung und Erneuerung von Herrschaft oder deren Überwindung.

Herrschaft als Prozess auf Gegenseitigkeit
Offen bleibt aber die Frage, ob Herrschaft wie ein Naturgesetz alles Soziale durchzieht, weil der Mensch von Natur aus "so ist" bzw. er Herrschaft und Orientierung braucht, um zu überleben. Oder ob es aufgrund der überwältigenden Prägung von Gesellschaft durch das Prinzip „Herrschaft“, aufgrund von Zwängen und Erwartungshaltungen nur unendlich schwer fällt, diese Vereinnahmung zu sprengen. Denn Herrschaft ist als alles durchdringender Prozess zur Alltagsnormalität der Menschen geworden, wird daher selten reflektiert, fällt kaum noch als etwas Besonderes auf und, das ist das Paradoxe, scheint sogar auch für die Beherrschten von Nutzen zu sein. Denn für sie fällt aus der Unterwerfung unter die vorhandenen Gesetze, Hierarchien, Institutionen und Normen ebenso ein Nutzen ab wie durch die Übernahme geltender Normen und Diskurse. Die Einbettung in den Strom der Gesellschaft (im Sinne des Bildes "Tote Fische schwimmen mit dem Strom") ist funktional und sichert das individuelle Überleben, vermeidet Gefahren und gibt Zugang zu - wenn auch begrenzten - Quellen der Reproduktion. Vor allem aber gibt es das gute Gefühl, dazuzugehören, keine Außenseiterposition einzunehmen und den eigenen Weg nicht ständig gegenüber einer abweichenden Außenwelt gegenüber und vor sich selbstlegitimieren zu müssen.
Herrschaftsverhältnisse sind damit auch eine Sache auf Gegenseitigkeit, allerdings dabei stark motiviert durch den Entzug von Alternativen und die Angst vor Abweichung.
Eine Aussage darüber, ob Herrschaft überwindbar und ein Leben freier Menschen in freien Vereinbarungen möglich ist, kann nur über den Versuch und die Auswertung desselben erfolgen. Dabei ist der Versuch ein dauernder Prozess, denn Befreiung im emanzipatorischen Sinne stellt ein ständiges Zurückdrängen von Herrschaftsförmigkeit aus allen Ebenen von Gesellschaft und allen Facetten von Leben dar. Welche Gesellschaft dann entsteht und sich wieder weiterentwickelt und wie sich Menschen von ihren Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens verändern, bleibt immer offen.
Für die Frage, ob es sinnvoll ist, das Herrschaftsförmige aus allen sozialen Beziehungen und Verhältnissen zu verbannen, ist das aber nicht entscheidend. Denn sowohl für den Fall, dass Herrschaftgenetisch oder naturgesetzlich erforderlich ist, als auch für den gegenteiligen oder einen anderen Fall wäre es für eine politische Praxis mit emanzipatorischem Anspruch richtig, jede Form von Herrschaft, also von Normierungen,Zwängen,Hierarchien usw., zurückzudrängen. Der Versuch wird zeigen, wieweit der Prozess vorangetrieben werden kann - eben dann auch abhängig von den naturgegebenen Ausgangsbedingungen. Es gibt keine Chance zur abschließenden theoretischen Klärung, sondern nur den Versuch. Denn der Prozess verändert stetig die Bedingungen und Erkenntnisse.

Zum nächsten Text im Kapitel über die Geschichte sozialer Organisierung: Die Formeneiner Menschenmenge

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