Gender-Trouble

DISKURSIVE HERRSCHAFT: WIE SICH TRADITIONEN, NORMEN UND WAHRHEITEN EINBRENNEN

Diskurssteuerung


1. Diskurs, Kategorien, Erwartungen, Standards: Die Herrschaft im Kopf
2. Diskurssteuerung
3. Beispiele für Diskurse und ihre Steuerung
4. Hirnstupser zum Thema
5. Rollen und Zurichtung
6. Aufklärung: Demaskieren als Ziel
7. Links und Lesestoff

Jakob Augstein im Spiegel am 6.6.15 (S.17)
Eine kleine, aber deutungsmächtige und machtbewusste Elite von Alphajournalisten und politischen Publizisten dirigiert virtuos und durchsetzungsstark das Meinungsmonopol.

Diskurse sind eng verbunden mit direkten und marktförmigen Herrschaftsformen. Denn sie sind über diese beeinflussbar - über Bildung, Medien, Streuung gezielter Informationen sowie über Wissenschaft. Gerade letztere hat viel dazu beigetragen, biologistische Normen zu schaffen. Dass Frauen gefühlsbetonter sind, dass Schwarze sportlicher, aber weniger intelligent sind, dass Minderjährige nicht mündig sind, wer als behindert gilt - all das hat seinen Hintergrund in wissenschaftlichen Diskursen und deren ständigen Weitertragen im Alltag. Die Institutionen der Herrschaft nutzen die Diskurse und beeinflussen sie über ihre herausgehobenen Möglichkeiten. Beispiele der letzten Jahre sind die humanitären Kriege (weitgehend gelungener Diskurs), der Wohlstand durch globale Märkte (in großen Teilen gescheitert, weil offensive Proteste Gegendiskurse schufen) oder das Gute an der Demokratie einschließlich der Verschleierung ihrer Herrschaftsförmigkeit (weitgehend gelungen).

Im Original: Institution und Diskurs
Aus Gronemeyer, M., 1988: "Die Macht der Bedürfnisse", Rororo-Verlag
Die Macht hat sich modernisiert in unseren Breiten. Sie hat ihre Plumpheit, Dreistigkeit, Rohheit, das Barbarische abgelegt. Eine Macht, die sich terroristisch gebärdet, mit Gewalt herumfuchtelt, trägt den Makel, hoffnungslos altmodisch zu sein, nicht auf dem laufenden, nicht up to date. Auch hier gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Elegante Machtausübung ist ein Privileg der "Ersten Welt". Diktatur, Tyrannei, grelle Ausbeutung, die schäbigen Gestalten der Macht, bleiben den armen Ländern vorbehalten.

Erich Fromm (1990): „Die Furcht vor der Freiheit“, dtv in München (S. 87)
In einer jeden Gesellschaft bestimmt der Geist, der in den mächtigsten Gruppen dieser Gesellschaft herrscht, den Gesamtgeist. Das kommt zum Teil daher, dass diese Gruppen das gesamte Bildungssystem unter ihrer Kontrolle haben - die Schulen, die Kirche, die Presse und das Theater -, wodurch sie die ganze Bevölkerung mit ihren eigenen Ideen durchtränken. Außerdem genießen diese mächtigen Gruppen ein solches Ansehen, dass die unteren Schichten nur allzu bereit sind, ihre Wertbegriffe zu übernehmen, sie nachzuahmen und sich mit ihnen psychologisch zu identifizieren.

Aus Foucault, Michel (1991): "Die Ordnung des Diskurses"
Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbare Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. (S. 11)
Es gibt, glaube ich, eine dritte Gruppe von Prozeduren, welche die Kontrolle der Diskurse ermöglichen. Diesmal handelt es sich nicht darum, ihre Kräfte zu bändigen und die Zufälle ihres Auftauchens zu beherrschen. Es geht darum, die Bedingungen ihres Einsatzes zu bestimmen, de sprechenden Individuen gewissen Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern, daß jedermann Zugang zu den Diskursen hat: Verknappung diesmal der sprechenden Subjekte. Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewinnen Erfordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist. Genauer gesagt: nicht alle Regionen des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen. (S. 25f)

Aus Foucault, Michael (1977): "Dispositive der Macht", Merve Verlag Berlin
Nicht die Veränderung des "Bewußtseins" der Menschen oder dessen, was in ihrem Kopf steckt, ist das Problem, sondern die Veränderung des politischen, ökonomischen und institutionellen Systems der Produktion von Wahrheit. Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien - das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht - sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher und kultureller Hegenomie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist. ...
In Gesellschaften wie der unsrigen kann die "politische Ökonomie" der Wahrheit durch fünf historisch bedeutsame Merkmale charakterisiert werden:

  • die Wahrheit ist um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und die Institutionen, die ihn produzieren, zentriert;
  • sie ist ständigen ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt (Wahrheitsbedürfnis sowohl der ökonomischen Produktion als auch der politischen Macht);
  • sie unterliegt in den verschiedensten Formen enormer Verbreitung und Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- und Informationsapparaten, die sich trotz einiger strenger Einschränkungen relativ weit über den sozialen Körper ausdehnen);
  • sie wird unter der zwar nicht ausschließlichen aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer und ökonomischer Apparate (Universität, Armee, Presse, Massenmedien) produziert und verteilt;
  • schließlich ist die Einsatz zahlreicher politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Konfrontationen ("ideologischer" Kämpfe). ... (S. 51/52)

Aus José Antonio Marina (2011), „Die Passion der Macht“ (S. 84)
Wer aber die Moralsysteme steuern kann, übt eine Macht aus, die tyrannisch zu werden vermag. Das ist ein Fall von Indoktrination in großem Stil. Die Religionen haben während Jahrhunderten diese Macht monopolisiert. Die moderne Soziologie bestimmt die Erziehung und die Moral zu Ordnungen, die für die soziale Kontinuität sorgen. Gut handeln heißt, gut gehorchen, schreibt Durkheim. Das integrierte Individuum muss gezähmt sein. Es geht darum, in jedem die Nachahmung bekannter Akte zu erreichen und die Fähigkeit, so viele Verpflichtungen auf sich zu nehmen, wie die soziale Ordnung angibt. Die Ordnung ist angenommen worden, ohne dass die Eingewöhnung mit physischem Zwang einherging. Es hat sich ein moralischer Habitus, eine Sitte gebildet. Ein Überkritischer könnte sagen, durch die Moral verinnerlicht das Subjekt die es umgebende Tyrannei. Es reproduziert in seinem Inneren die Autorität des Über-Ich und kollaboriert so an den Systemen der Macht. Alle diktatorischen Systeme haben eine Moral einsetzen wollen. Schließlich aber geben sie Lenin Recht: «Ich nenne moralische Handlung jede, die der Partei nützt, und unmoralisch jede, die ihr schädlich ist.» Es sieht so aus, als ob die Moral - die uns doch zur Freiheit führen sollte – sich in das feinste, listigste und wirkungsvollste Instrument der Macht verwandelt.

Diskurse als Legitimation von Herrschaft
Ob die Ausbeutung am Arbeitsplatz, die ungleiche Verteilung von Reichtum und Produktionsmitteln, Privilegien oder institutionelle Macht - immer braucht Herrschen einen Legitimationshintergrund, um dauerhaft bestehen zu können. Dieser wird über Diskurse geschaffen. Sie reden uns ein, dass ohne autoritäre Ordnung nur Chaos und Gewalt herrschen würde, dass Gott Männer und Frauen für unterschiedliche Rollen geschaffen hat, dass die weiße Rasse existiert und überlegen ist usw.
Von Gesetzen unterschieden sich Diskurse durch ihre intensive Verankerung quer durch die ganze Gesellschaft. Alle Privilegierten singen das Lied von der guten Begründung für ihren Status, aber selbst viele der Unterprivilegierten glauben an den höheren Sinn ihres herabgestuften Daseins. Sie geben ihre Überzeugungen in sozialer Zurichtung via Erziehung, Religionen, Rituale oder einfachen Gesprächen im Alltag weiter.

Als Begriff des Herstellens entweder ...
  • eines Zusammenhanges der Zugehörigkeit zu einer nicht-sozial abgegrenzten Gruppe von Menschen (z.B. nach biologischem Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Größe, Wohnsitz, Herkunft, Abstammung) und behaupteten sozialen Eigenartigkeiten oder
  • eines Zusammenhanges der Zugehörigkeit zu einer sozial abgegrenzten Gruppe von Menschen (z.B. nach Religionszugehörigkeit, Bildungsgrad, Sprache, Beruf, Titel) und behaupteten, allgemeinen (d.h. über das soziale Abgrenzungsmerkmal hinausgehenden) sozialen Eigenartigkeiten

wird oft "Konstruktion" verwendet, wobei auch dieser - wie beim Diskurs - einschließlich einer kontinuierlichen Weitergabe dieses konstruierten Zusammenhanges (z.B. über Generationen, Sprache, Traditionen, Gesetze und Normen – bewusst und unbewusst) gemeint ist. Das Demaskieren des durch Konstruktion entstandenen Diskurses heißt dann Dekonstruieren, die gesellschaftspolitische Theorie dazu "Dekonstruktivismus".

Aus José Antonio Marina (2011), „Die Passion der Macht“ (S. 70f)
Die Art, die Macht zu begrenzen, ist, sie mit der Legitimität zu verbinden. Wenn sie keine Legitimität hat, bleibt sie nackte faktische Macht. Dies ist die große Unterscheidung von Macht - legitim oder faktisch ... Von dem Augenblick, in dem diese Zweiheit auftaucht, wird jeder Herrscher danach trachten, seine Macht mit einem moralischen Band zu stärken. So beginnt ein umstrittener Wettlauf nach den Legitimationen.

Geschichtsschreibung als Herrschaft
Wer definieren kann, wie Geschichte abgelaufen ist, beherrscht die Gegenwart. Das ist eine wichtige Erkenntnis allgemeiner Herrschaftstheorie. Geschichtsschreibung ist eine Form diskursiver Herrschaft, also der Beherrschung der Massen über das allgemeine Denken, Sprache und Kultur. Sie ist immer und überall präsent. Die Funktions- und Deutungseliten produzieren permanent Beiträge über Abläufe der Vergangenheit und ihren Anteil daran. Vor allem geht es darum, eigene Erfolge zu kreieren.

Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 163)
Die Verdichtung der Geschichte, unser Verlangen nach klaren sauberen Erzählungen und das Bedürfnis von Eliten und Organisationen, ein Bild der Kontrolle und der Zweckgebundenheit zu entwerfen, wirken alle zusammen, um ein falsches Bild historischer Kausalität zu vermitteln. Sie machen uns blind gegenüber der Tatsache, dass die meisten Revolutionen nicht das Werk revolutionärer Parteien sind, sondern der Niederschlag spontaner und improvisierter Aktion („Abenteurertum“ im marxistischen Lexikon), dass organisierte soziale Bewegungen für gewöhnlich das Produkt, nicht die Ursache unkoordinierter Proteste und Demonstrationen sind und dass die großen emanzipatorischen Zugewinne für die menschliche Freiheit nicht das Ergebnis ordnungsgemäßer institutioneller Vorgänge sind, sondern sich den unordentlichen, unvorhersehbaren, spontanen Aktionen verdanken, die die Sozialordnung von unten her aufgesprengt haben.

Aus Günter Dux, "Die Logik der Weltbilder" (S. 25)
Geschichte, nimmt man sie nicht einfach in dem trivialen Sinn der Abfolge unzähliger Ereignisse, deren jedes den vorherigen Zustand irgendwie ändert, versteht man sie vielmehr als die Abfolge von Lebensformen, in denen der Mensch sich die Welt zugänglich macht und eben damit sich selbst in ihr auslegt, folgt einer einsichtigen Logik in der Entwicklung.

Aus Walter Benjamin, "Geschichtsphilosophischen Thesen"
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen 'wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die überlieferung von neuem dem Konformismus abzu-gewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. ... Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.

Gehirnwäsche (Quelle: brand eins 7/2015, S. 8)
Anteil der Franzosen, die im Mai 1945 angaben, Russland habe den größten Einfluss auf den Sturz Hitlers gehabt: 57 Prozent
Anteil der Franzosen, die im Mai 1945 angaben, die USA hätten den größten Einfluss auf den Sturz Hitlers gehabt: 20 Prozent
Anteil der Franzosen, die 2015 angaben, Russland habe den größten Einfluss auf den Sturz Hitlers gehabt: 23 Prozent
Anteil der Franzosen, die 2015 angaben, die USA hätten den größten Einfluss auf den Sturz Hitlers gehabt: 54 Prozent

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