Gender-Trouble

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

Das Recht – wessen Recht?


1. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
2. Von Gewalt, Kriminalität und was davor geschieht
3. Von Schuld und Verantwortung
4. Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet
5. Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen
6. Das Recht – wessen Recht?
7. Ich will nur das Beste für dich!
8. Von Rache und Gerechtigkeit
9. Die alles entscheidende Frage
10. Von Reformen und wie es sein sollte

Die vorangehenden Analysen haben gezeigt, dass es bei der Strafjustiz und ihrer Legitimation mit „Recht“ und „Gerechtigkeit“ letztendlich darum geht, gewaltförmigem Verhalten zwischen Menschen entgegenzuwirken. Ebenfalls, dass Gewalt meistens aus einem Konflikt zwischen dem Täter und seinem Umfeld hervorgeht. Dieses Umfeld wird durch die (staatliche) Rechtsordnung bestimmt. Die Gesellschaft wird, durch das Recht gehalten, zu einer Einheit, welche dem Täter gegenübertritt. Dieses eindeutige Gegeneinander provoziert somit geradezu einen Konflikt. Wir sehen, dass die Gesellschaftsordnung, das Recht, in vielen Fällen sogar Auslöser für Gewalt ist. Zeit, sich ein paar Fragen zu stellen:

Wir haben Regeln. Normen. Es gibt Dinge, die darf man - und Dinge, die darf man nicht. Wieso? Wieso darf ich? Wieso darf ich nicht? Wieso darf ich mein Kind schlagen und ihm sagen, was es tun muss? Wieso darf ich bestimmen, was andere Menschen zu tun haben?[1] Wieso darf ich Dinge besitzen, die ich nicht brauche? Wieso darf ich nicht Dinge besitzen, die ich brauche? Wieso darf ich Land besitzen? Wieso darf ich das nicht, wenn ich kein Geld habe, um es zu kaufen? Wem gehört die Erde? Wer darf besitzen? Wieso? Wieso darf man jemanden ein Leben lang seiner Freiheit berauben und ihm unter Gewaltandrohung befehlen, was er zu tun hat? Wieso darf ich nicht auf die Strasse stehen und jemandem einen Zettel in die Hand drücken, wo drauf steht, was ich denke?[2] Wieso darf ich nicht nackt rumlaufen – so wie ich geboren wurde? Wieso darf die Polizei mich verprügeln?[3] Wieso darf ich jemanden von einem Gebiet wegschicken, welches ich gar nicht brauche, um zu überleben – er aber schon? Wieso darf der Mann aus Bulgarien nicht hier leben und arbeiten? Oder die Frau aus dem Kongo? Und wieso darf eine Schweizer Bank Millionengeschäfte mit einer Firma führen, die Menschen bewusst die Existenzgrundlage entzieht[4]? Wieso darf man? Wieso hat man das Recht, Dinge zu tun, die anderen schaden? Wieso hat man nicht das Recht, Dinge zu tun, die dem Gesetze widersprechen? Wieso hat man recht? Wieso unrecht? Was ist Recht? Wieso darf man Menschen in den Knast schicken? Verurteilen? Ihnen Gewalt antun? Wieso darf man strafen?

„Weil es nun mal eine Ordnung braucht“, wird wohl die meistgenannte Antwort sein. Ebenfalls bestplatziert wird die Beteuerung sein, „unser System ist nun mal nicht perfekt – und das wird es auch nie sein – aber immerhin tausendmal besser als andere oder gar keines.“ Wieso? Wieso braucht es eine Ordnung? Damit sich die Menschen nicht umbringen? Damit sich die Menschen nicht verprügeln? Damit die Menschen untereinander keine Gewalt anwenden? Man teilt Gewalt aus, damit die Vergewaltigten keine Gewalt anwenden? Und verhindert die Bestrafung der genannten Unrechte Gewalt zwischen den Menschen? Und fördern die genannten Rechte ein gewaltfreies Zusammenleben? Worum geht es also? Geht es wirklich darum, dass sich die Menschen nicht schlagen, prügeln, vergewaltigen oder umbringen? Wieso sollten sie das tun? Und verhindert dies das Recht? Wodurch werden solche Taten hervorgerufen?

Rechte werden bekanntlich oft damit gerechtfertigt, dass sie das Recht des Stärkeren brechen[5] und damit die Schwächeren in einer Gesellschaft beschützen. Dies mag auf den ersten Blick zutreffen, nimmt man das Beispiel des grossen, starken Mannes, der zuhause im Vollrausch seine Frau schlägt und durch das Recht, durch den Staat, dafür bestraft werden kann. Dabei stellt sich aber bald einmal die Frage nach der Stärke. In diesem Beispiel hat man es mit einer Gesellschaftshierarchie zu tun: der Mann ist zwar stärker als seine Frau, aber wiederum schwächer als die Polizei. Hier ändert sich von Situation zu Situation, wer der Stärkere ist. Recht ist aber immer das Recht des Stärkeren. Denn nur der Stärkere kann strafen[6] und nur wer strafen kann, kann sein Recht durchsetzen. Wer nun der stärkere ist und welche Eigenschaften ihn stark machen (nebst der rein physischen gibt es viele andere Möglichkeiten, stärker zu sein) ist sehr unterschiedlich und kann sich fortlaufend verändern. In einer Diktatur ist eine Minderheit stärker als eine Mehrheit – in einer Demokratie ist (theoretisch[7]) eine Mehrheit stärker als eine Minderheit.

Alle anderen Vorstellungen, dass Recht etwas Höheres, Allgemeineres, gerechteres, unantastbareres, verbesserndes oder entwickelndes sei, gehören auch für einen Bundesrichter in den Bereich der Illusionen.[8] Illusionen, mit denen der Stärkere den Schwächeren geschickt blenden kann. Solange Recht festgelegt wird, herrscht also immer der Stärkere über den Schwächeren. Gibt es somit noch einen Grund, wieso es irgend ein Recht geben sollte? Wäre es nicht ehrlicher, zu sagen, „kein Mensch, kein einziger, hat auch nur ein einziges Recht“? Niemand hat Recht, niemand hat irgendein Recht, nichts ist gerechtfertigt oder legitim?

An diesem Punkt angelangt müsste man nämlich den ganzen höheren Kram vergessen und sich wieder mit der Situation abfinden, dass da Menschen sind, von denen jeder einzelne seine Bedürfnisse hat, die er befriedigen will. Gesellschaft müsste als das gesehen werden, was zwischen einzelnen Menschen, zwischen Individuen, entsteht. Zwischen einem Menschen, der seine ganz individuellen Bedürfnisse und Interessen hat, und den anderen. Ein Netz, welches zwischen diesen Menschen entsteht. Mit dem Ziel, die Bedürfnisse des einzelnen mit denen des anderen zu verknüpfen oder konfliktfrei aneinander vorbei zu bringen.

[1] In einem demokratischen Rechtsstaat, wo angeblich jeder einzelne Bürger mit seinem Wahl- oder Nichtwahlverhalten mitbestimmt, was Recht ist, bestimmt er damit auch, was der einzelne Mensch zu tun und lassen hat.

[2] In den meisten Städten der Schweiz „braucht es zum Verteilen von Flugblättern jeglicher Art eine schriftlich angefragte, gebührenpflichtige Bewilligung.“ [www.aktiv-unzufrieden.ch/dokumente/Petition.doc]

[3] Fallbeispiele für die Straflosigkeit von Gewalttaten bis hin zu fahrlässiger Tötung, die in Polizeigewahrsam geschehen, gibt es zahlreiche. Ein Beispiel ist die Geschichte des Eldar S. (www.eldar.ch) aus Zürich, der Tod des Asylsuchenden Samson Chukwu in einem Walliser Ausschaffungsgefängnis (www.augenauf.ch/bs/doku/chukwu/sc00.htm) oder der Fall „Aubonne-Bridge“ aus Genf (www.aubonnebridge.net)

[4] Aktuelles Beispiel: Die Schweizer Bank Credit Suisse bringt den Malaysischen Holzkonzern Samling am 7. März 2007 an die Börse und beteiligt sich mit den erhofften Gewinnen direkt an der Zerstörung des Lebensraumes der Penan auf Borneo. Samling hat sich seit jeher skrupellos über die harsche Kritik von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen hinweggesetzt. Der Schweizer Umweltaktivist und Völkerkundler Bruno Manser ist seiner Zeit auf einer Samling-Konzession verschollen. Credit Suisse hat nach Gesprächen mit verschiedenen Umweltorganisationen und einer Petition (6100 Unterzeichnende innerhalb einer Woche) verlauten lassen, sie werde „selbstverständlich an der Organisation des Börsengangs von Samling festhalten.“ Laut Schätzungen der Schweizer „Sonntagszeitung“ verdiente die Credit Suisse mit Samling rund 10 Mio US-Dollar. [Quelle: www.bmf.ch/de/news]

[5] Viviane Manz in NZZ Folio, Januar 2004, S. 3

[6] Siehe dazu Interview mit Jörg Bergstedt, Seite 94

[7] „Theoretisch“, weil diese Idealvorstellung von Demokratie kaum der Realität entspricht, siehe dazu Interview mit Edmund Schönenberger.

[8] Siehe Interview mit Thomas Merkli, Seite 57

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