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FREI VON INHALT? POLITISCHE POSITIONEN IM ANARCHISMUS UND IHR EMANZIPATORISCHER GEHALT

Hauptschwächen anarchistischer Konzepte - emanzipatorisch geprüft


1. Hauptschwächen anarchistischer Konzepte - emanzipatorisch geprüft
2. Links

Bevor an einigen zentralen Punkten Lücken und Widersprüche in als anarchistisch gepriesenen Theorien und Positionen genauer benannt werden, sollen hier die Hauptschwachpunkte zusammengefasst benannt werden. Das dient dem leichteren Lesen der Folgetexte. Denn neben vielen kleinen Schwächen gibt es einige schwere Defizite, die sich wie rote Fäden durch Theorie und Praxis der AnarchistInnen ziehen. Sie entspringen veralteter Herrschaftsanalysen und dem Festhalten an Organisationskonzepten, die durch Blindheit gegenüber informellen Hegemonien und modernen (versteckten) Hierarchien zum anarchistischen Standard werden konnten.

Machtkämpfe unter vermeintlich Herrschaftsfreien
Eigentlich ... müssten AnarchistInnen ja horizontale Organisierungsformen schaffen und interne Machtkämpfe meiden.
Die Realität sieht jedoch deutlich anders aus: Ausgrenzungen, Ellbogenmentalität, offen und verdeckt ausgetragene Konkurrenzkämpfe oder sogar Zensur sind an der Tagesordnung. Meist geht es um Definitionsmacht, Anteile an öffentlicher Aufmerksamkeit (PR), Spenden- und Fördergeldern. So werden KonkurrentInnen weggebissen, aus Medien oder Protestaktionen weggedrängt, diffamiert, isoliert. Oft werden ausgerechnet die Gruppen und Personen ausgegrenzt, deren Kontakt dem guten Image bei Staat oder reichem BildungsbürgerInnentum im Weg stehen - fast unglaublich, schließlich geht es um Anarchie! Als Tricks zur Durchsetzung werden gesteuerte Entscheidungsverfahren und spaltende Dogmen genutzt. Spitzenreiter ist die Gewaltfrage, aber auch der vermeintliche Gegensatz zwischen Reform und Revolution sowie andere Streitfragen können für Gerangel um die besten Plätze in den anarchistischen Hierarchien genutzt werden.

Die Angst vor der eigenen Konsequenz: Sicherheit und Kontrolle statt dynamischer Offenheit
Eigentlich ... müsste Anarchie das Offene, Unklare, Unsichere und Dynamische lieben.
Wer moderne Herrschaftsanalysen liest (siehe z.B. die entsprechenden Kapitel zu Beginn von "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"), wird schnell erkennen, dass Verregelung oder Kontrolle nicht ohne Privilegien, Vereinheitlichung und Definitionsmacht über Richtig und Falsch zu haben sind. Anarchie unterscheidet sich fundamental von allen (!) anderen Gesellschaftskonzepten, die das Gute über Institutionen der Durchsetzung und Absicherung erzwingen wollen. Die einen setzen auf den guten Herrscher (oder imaginieren einen Übervater als Gott in dieser Rolle mitsamt irdischer StellvertreterInnen). Andere kreieren komplizierte Wahlsysteme und glauben, dass für alle am besten ist, wenn an nur namentlich bekannte Personen Kreuzchen vergeben werden. Die sind dadurch plötzlich legitimiert, Regeln und SchiedsrichterInnen des großen Lebensspieles zu bestimmen. Die große Masse wird an der Leine der Lohnabhängigkeit gehalten. Sie nennen das Demokratie. Die historischen Demokratievorbilder z.B. aus Griechenland können sich nicht wehren, obwohl es bei ihnen ganz anders ablief: Ämter wurden verlost und rotierend besetzt - allerdings nur unter der männlichen, waffentragenden Bevölkerung.
Wieder Andere finden das Wählen irgendwie doof und wollen, dass immer alle überall mitbestimmen. Sie sitzen in endlosen Plena zusammen (Basisdemokratie) oder rennen ständig zu Wahlurnen (direkte Demokratie). Alle unterscheiden sich damit nur in der Art, wie ihre Regeln zustande kommen. Sie glauben an das Gute durch Beschlüsse, Vorschriften und mehr. Sie brauchen Durchsetzungsorgane, denn irgendwer muss darüber wachen, ob etwas Beschlossenes auch eingehalten wird. In den offenen Hierarchien gleicht sich das: Diktatur, Demokratie oder Kommunismus haben allesamt Regierungen, Ämter, Polizei, Gerichte und Gefängnisse. Es ist erstaunlich, wie ähnlich sich diese vermeintlich gegensätzlichen Systeme in der Praxis sind. In den Scheinalternativen von Basis- oder direkter Demokratie sind solche Strukturen versteckter - aber ebenso vorhanden.

Mit Anarchie hat das alles wenig zu tun. Genauer: Nichts. Anarchie ist der Verzicht auf Einheitlichkeit, Regeln und deren Kontrolle mitsamt Durchsetzung. Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Gegenkultur. Genau deshalb fällt es AnarchistInnen wohl auch so schwer, offensiv dafür einzutreten, dass herrschaftsfreie Gesellschaft kommunikativ und dynamisch sein soll - ohne doppelten Boden. Absicherungen würden freie Kommunikation und Vereinbarungen einengen. Sie würden Grenzen schaffen, die überwacht und deren Übertreten sanktioniert werden muss (sonst existieren sie nicht). Das aber bildet dann wieder ein Korsett - schon im Kopf. Hinzu kommt, dass schon in anderen Systemen das Versprechen der Sicherheit nur ein Propagandatrick ist, dessen vorgetäuschte Erfüllung vor allem Staaten Zustimmung ergaunert. Das gilt auch für autoritäre Ideen in der Anarchie. Niemand kann Zukunft vorhersagen und festlegen. Die sanktionierende Gewalt in Form Uniformierter kommt meist ohnehin erst, wenn alles vorbei und zu spät ist . Noch mehr gilt für die Justiz, dass sie Verbrechen nicht verhindert, sondern nur hinterher eine Art eigenes Zusatz-Verbrechen ausführt - sprich: Weitere Menschen schädigt (durch Verhöre, Einsperren ...). Anarchie müsste stattdessen das Unsichere und Offene als Ziel formulieren und dafür werben, genau das bewusst zur Grundlage gesellschaftlicher Prozesse zu machen.

Im Original: Offen oder verregelt?
Aus Rudolf Rocker: Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus
Der Anarchismus ist keine Patentlösung für alle menschlichen Probleme, keine Utopie einer perfekten Gesellschaftsordnung (wie er so oft bezeichnet wurde), weil er grundsätzlich alle absoluten Schemata und Konzepte verwirft. Er glaubt nicht an eine absolute Wahrheit oder an bestimmte Endziele der menschlichen Entwicklung. Vielmehr an eine unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit von sozialen Modellen und menschlichen Lebensbedingungen, (...) denen man (...) keinen bestimmten Endpunkt und kein festes Ziel zuweisen kann.

Rudolf Rocker, Anarchosyndicalism, Secker und Warburg 1938 (zitiert von Noam Chomsky, Quelle hier)
Selbst Freiheit ist nur ein relativer und kein absoluter Begriff, da er die stete Tendenz hat, sich auszuweiten und auf mannigfaltige Weise immer größere Kreise zu ziehen. Für die Anarchisten ist Freiheit kein abstrakter philosophischer Wert, sondern die lebensnotwendige und konkrete Möglichkeit, die jeder Mensch hat, um all seine Kräfte, Fähigkeiten und Talente, wie sie ihm von Natur her verliehen sind, zu voller Entfaltung zu bringen und sie für die Gesellschaft gewinnbringend zu machen. Je weniger diese natürliche Entwicklung des Menschen von kirchlicher und politischer Bevormundung beeinträchtigt ist, desto tüchtiger und harmonischer kann die menschliche Persönlichkeit werden und Maßstab der geistigen Kultur der Gesellschaft sein, in der sie aufgewachsen ist.

Für die offensive Befürwortung des Verzichts auf Regeln, Überwachung und Sanktion sind fast alle AnarchistInnen zu ängstlich. Spätestens nach ein oder zwei kritischen Nachfragen ziehen sie sich zurück auf das sicher scheinende Festland des Kontrollierens und Eingreifens aus privilegierter Position. Bisherige anarchistische Positionen, Utopien oder Programmatiken sind voller skurriler Ideen, das Freie und Offene einzuhegen. Damit machen sich die AnarchistInnen zu den TotengräberInnen ihrer eigenen Ideen. Offenbar glauben sie selbst nicht, was sie propagieren: Eine Gesellschaft ohne Sicherheiten und Kontrolle!

Dass viele AnarchistInnen ihren eigenen Idealen nicht vertrauen, bringt sie in beste Gesellschaft. Politischer Meinungskampf ringt nirgends darum, ob kontrolliert wird, sondern wie das geschieht und wer das darf. Überall auch in sich als "links" oder emanzipatorisch verstehenden Gruppen ist der seltsame Hang zum Glauben an das Gute von oben verbreitet. Es scheint also kein anarchistisches Phänomen zu sein, den Bock zum Gärtner machen zu wollen - sprich: Die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu kritisieren, aber nichts sehnlicher zu wünschen, als dass diese das Gute schaffen und sichern. Am liebsten mit den eigenen FreundInnen auf dem Thron ...

Entscheidungsfindung, Kollektivsubjekt, Innen und außen
Eigentlich ... wäre eine anarchistische Welt eine ohne Institutionen, Überwachung und Schubladen.
Doch das klappt nicht mehr, wenn AnarchistInnen konsequent ihre Irrwege weiter verfolgen. Denn wer Regeln aufstellt, muss auch kontrollieren, sonst sind die sinnlos. Darüber hinaus bedarf es Methoden, wie die Regeln aufgestellt werden. Da ein Verzicht auf Überwachung und Regulierung wegen der eigenen Angst vor offen-dynamischer Gesellschaft nicht wirklich angestrebt wird, muss der eigene, meist etwas breiige Hang zur Wir-haben-uns-alle-lieb-Egalität im Ringen um die etwas bessere Art der Führung ausgelebt werden. Das hat in der Vergangenheit zu einer unübersichtlich großen Zahl an Vorschlägen für Entscheidungsfindungsmodellen, Kollektivität, vermeintlich guten Hierarchien usw. geführt. Doch alle leiden unter den gleichen Problempunkten:
  • Sie vertrauen nicht den Menschen und ihren Vereinbarungen, sondern suchen etwas, was verbindlich ist und für alle gilt. Dazu müssen Entscheidungen getroffen werden, für die wiederum Verfahren notwendig sind.
  • Die Entscheidungen sollen von allen für alle getroffen werden - doch dieses "alle" ist unbestimmt. Es muss ihm ein Grenze zwischen Innen und Außen gegeben werden, sondern funktioniert das Modell nicht. Dadurch entstehen Privilegien, zudem bedarf jedes so definierte Kollektiv eines Gründungsaktes, der dem Kollektiv selbst vorangeht - also ohne Legitimation erfolgt.
  • Um das Kollektiv zu beschreiben, es damit überhaupt zum Leben zu wecken und in die Köpfe der Beteiligten zu bringen, bedarf es einer beschreibenden Qualität des Kollektivs. Es entsteht ein "Wir", welches als Subjekt zu handeln beginnt und neben die Menschen mit ihren freien Vereinbarungen tritt. Da die Handlungsmacht aber nur entweder auf den Einzelnen oder auf dem Gesamtwillen fußt, stehen die Menschen und ihre Kollektivsubjekte in Konkurrenz zueinander. Das Kollektivsubjekt braucht Macht.

Traditionen, Dogmen und Tabus
Völlig überflüssig, aber dennoch auch in anarchistischen Kreisen weit verbreitet, sind Traditionen, Dogmen und Tabus, die nicht begründet werden, sondern einfach da sind. Die darüber entstehenden Vereinheitlichungen reichen von Kleidung über Aktionsabläufe bis zu Szenesprache und Umgangsformen. Alle diese durch ständige Wiederholung dominanten Formen des Verhaltens und Denkens stellen den offenen und dynamischen, sozialen Raum permanent in Frage. Zudem verstärken sie das Innen und Außen durch die Unterstreichung mittels kultureller Codes.

Aus: Michael Wilk, 1999: Macht, Herrschaft, Emanzipation, trotzdem-Verlag (S. 130)
PC=Political correctness - das richtige politische Verhalten. Begriff aus dem angloamerikanischen Raum, mit in meinen Augen dann zweifelhafter Wirkung, wenn er die Auseinandersetzung über Verhalten auf die Erfüllung von Verhaltenskodizis reduziert.

Soweit einige zentrale Schwächen im deutschsprachigen Anarchismus. Beginnen wir, gewappnet mit diesem Wissen, nun die Wanderung durch ausgewählte Blindflecke.

Zum nächsten Text über Revolution und Reform, dem zweiten im Kapitel über Strategien

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