Verkehrswende

GESCHICHTE DER PRODUKTIVKRAFT UND DIE ÖKONOMISCHE UNTERDRÜCKUNG DES MENSCHEN

Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung


1. Produktivkraft: Tätigkeit als Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft
2. Geschichtliche Entwicklung der Produktivkraft
3. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung
4. Ökonomische Zwänge, Abhängigkeit und Kapitalverteilung
5. Links

In den agrarischen Gesellschaften der “Natur-Epoche” wurde die Vergesellschaftung über personale Abhängigkeitsbeziehungen reguliert. Der Sklave war Besitz des Sklavenhalters, der Fron-Bauer arbeitete zu großen Teilen für “seinen” Feudalherrn oder seinen Pfaffen. Dies bedeutet nicht, dass die Abhängigen den Herrscher auch persönlich kennen mussten, aber es war klar, zu wem sie “gehörten”. Auch die nicht-herrschaftsförmigen Beziehungen innerhalb der bäuerlichen Gemeinde waren personal strukturiert. Allein die regionale Begrenztheit bäuerlichen Handelns aufgrund fehlender oder unerschwinglicher Transportmittel erklärt die sprichwörtliche “Beschränktheit” und “Enge” des bäuerlichen Daseins. Entsprechend war auch die Produktion neben der Erfüllung der abgepressten Fron an den konkreten Bedürfnissen der dörflichen Gemeinschaften orientiert. Ein abstraktes Anhäufen von Reichtum war weder gewollt noch möglich, gute Ernten wurden direkt in höheren Lebensgenuss und ausgedehntere Muße umgesetzt. Entsprechend der personal vermittelten Struktur der Gesellschaft und der am Gebrauchswert der Dinge orientierten Produktionsweise kann man die Mensch-Natur-Mittel-Beziehung bei der Produktion der Lebensbedingungen als personal-konkrete Produktivkraftentwicklung bezeichnen.
Mit dem Einsetzen der “Mittel-Epoche” und dem Aufstieg des Kapitalismus änderte sich die Vergesellschaftungsform vollständig. Mit Gewalt wurden alle personal strukturierten Beziehungen zerschlagen und durch eine abstrakte Vergesellschaftungsform ersetzt. Aus dem Bauern wurde der “doppelt freie” Lohnarbeiter, “frei” von Boden und “frei”, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aus dem ursprünglichen Schatzbildner, dem Händler oder feudalen Räuber, wurde der Warenproduzent, der Kapitalist. Zu Recht nennt man diese Raubphase, die der Entfaltung des Kapitalismus vorausging, nicht nur die “sogenannte ursprüngliche Akkumulation” (Marx 1976/1890, 741), sondern auch “ursprüngliche Expropriation” (Lohoff 1998, 66), da die Menschen von allen Mitteln “enteignet” wurden, die ihnen eine kapitalismusunabhängige Grundversorgung bot. Das “Bauernlegen” in England ist legendär. In Indien brachen die englischen kolonialen Eroberer den Webermeistern die Finger, damit sich englische Kleidung auf dem indischen Subkontinent durchsetzen konnte. Heute werden Staudämme gebaut, die nur wenigen Menschen “Fortschritt” bringen, aber Millionen von ihrem Land vertreiben und zur “Überbevölkerung” machen.
Wie aber funktioniert diese abstrakte Vergesellschaftung? Die Grundlagen dafür hat Karl Marx im Kapitel “Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis” des “Kapital” aufgedeckt. Im Feudalismus waren die gesellschaftlichen Verhältnisse durch persönliche Abhängigkeiten bestimmt. Die Arbeitsprodukte gehen in ihrer konkreten, d.h. Naturalform in die gesellschaftliche Reproduktion ein. Entsprechend charakterisiert Marx die Arbeit: “Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form.” (Marx 1976/1890, 91)
Die Besonderheit, die Konkretheit, die Nützlichkeit der Dinge, was Marx “Naturalform” nennt, bestimmt die Arbeit. Man könnte auch von einer Subsistenzproduktion sprechen. Es wird das produziert, was konkret gebraucht wird. Getauscht werden nützliche Dinge gegen andere nützliche Dinge. Ein abstrakter Vermittler wie das Geld spielt kaum eine Rolle. Marx weiter: “... die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte.” (Marx 1976/1890, 91f)
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind entsprechend der Konkretheit und Nützlichkeit der Arbeit vorwiegend konkrete “persönliche Verhältnisse”. Eine Idealisierung dieser “persönlichen Verhältnisse” ist jedoch völlig unangebracht, denn es handelte sich um personale Zwangsverhältnisse wie Sklavenbesitz, Leibeigenschaft oder patriarchale Familienstrukturen.
Anders im Kapitalismus, so Marx: Hier sind persönliche Verhältnisse “verkleidet” in Verhältnisse von Sachen. Wie ist das zu verstehen? Im Kapitalismus wird nicht auf direkte Verabredung des gesellschaftlichen Bedarfs produziert, sondern in Form “voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten” (Marx 1976/1890, 87). Diese Produkte werden dann im Nachhinein im Tausch einander als Werte gleichgesetzt, was bedeutet, sie als geronnene Arbeitszeiten gleichzusetzen. Die Produkte werden entsinnlicht, ihre jeweilige Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit interessiert nicht mehr, es interessiert nurmehr der Wertinhalt. Damit wird die Arbeit nicht mehr durch die Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit bestimmt, sondern einzig durch die Tatsache, dass sie Wert schafft. Der Wertvergleich, also Vergleich von Arbeit(szeit) auf dem Markt ist ein sachliches, von der Konkretheit der Dinge abstrahierendes Verhältnis. In dieses “Verhältnis der Sachen” sind die persönlichen Verhältnisse “verkleidet”, sie bestimmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse.
Beispiel: Ich gehe in einen Laden und kaufe Milch. Dafür lege ich Geld auf den Tisch. Ich stelle abstrakt “persönliche Verhältnisse” her: zum Bauern, zur Milchfahrerin, zum Arbeiter an der Abfüllanlage etc. - doch diese Verhältnisse sind “verkleidet” in ein sachliches Verhältnis, und das ist das des Geldes als Preis bzw. Wert.
Ein solches “sachliches Verhältnis” wäre erträglich, wäre es statisch. Doch das Gegenteil ist der Fall - und das ist es, was den Terror der Ökonomie ausmacht. Die gesellschaftlichen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erhalten ihre subjektlose Dynamik durch die Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz. Das bedeutet: Wert “ist” nur Wert, wenn er Kapital wird, wenn der Wert sich auf dem Markt auch wirklich realisiert, d.h. wenn er auf Wert in Geldform trifft und in Kapital umgewandelt wird, wenn er die Konkurrenz um das beschränkte Geld auf dem Markt gewinnt. Die Verwertung von Wert ist dauerhaft nur sichergestellt, wenn Wert zu Kapital wird, um die nächste Runde des Warenzirkulation anzutreiben. Das Kapital ist Ausgangs- und Endpunkt einer sich stetig steigernden Spirale der Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz: “Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.” (Marx 1976/1890, 167)
Die Wertabstraktion, die Verdinglichung menschlicher Beziehungen, hat verschiedene Erscheinungen: als Ware, als Geld, als Lohn. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind damit der Vermittlung durch den Wert unterworfen, so auch die Arbeit und die Produktivkraftentwicklung. Wir sprechen daher für die “Mittel-Epoche” von entfremdeter Produktivkraftentwicklung. Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert ist der klassische Fall einer “sich selbst organisierenden und sich selbst reproduzierenden” Bewegungsform. Diese Selbstorganisation des Werts ist selbst subjektlos, mehr noch, sie unterwirft jedes Subjekt unter seine maßlose Bewegung. Damit tritt die Gesellschaft den Menschen - obschon von ihnen geschaffen - als Fremde gegenüber: “Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.” (Marx 1976/1890, 89)
Es schien eine Befreiung zu sein, die persönlichen Abhängigkeiten des Feudalismus zu verlieren. Allerdings erkaufte man sich dies mit einer “ordnenden, aber unsichtbaren Hand” (Adam Smith) für die Gesellschaftsorganisation. Es entstanden sachliche Mächte, vorwiegend auf den “Märkten”, denen gegenüber alle Menschen gleich sein sollten.

Robert Kurz 1999, 36:
Da die Verallgemeinerung von Geldbeziehungen aber nur durch die Konstitution anonymer, großräumiger Märkte möglich war, musste sie zusammen mit der Tendenz zur totalen Vereinzelung auch die Tendenz zur totalen Konkurrenz bringen. Denn der anonyme, sozial unkontrollierte Vergleich der Waren weit voneinander entfernter Produzenten, die in keinerlei kommunikativer Beziehung mehr zueinander stehen, entfesselt das sogenannte ‘Gesetz von Angebot und Nachfrage’: Die Waren müssen über den Preis miteinander konkurrieren, und somit unterliegt auch die Produktion dem stummen Zwang der Konkurrenz. Das bedeutet, dass der gesellschaftliche Zusammenhang der ‘vereinzelten Einzelnen’ nur noch negativ durch die ökonomische Konkurrenz hergestellt wird.

Geld als Kapital löst alle alten Gemeinwesen auf, vereinzelt die Menschen und wird stattdessen zum sachlichen “realen Gemeinwesen” (Marx 1983/1857, 152). Nicht mehr der Gebrauchswert der Ware oder auch der Geldschatz stehen im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern der Wert in seiner ruhelosen Dynamik verselbständigt sich gegenüber den Menschen und wird “automatisches Subjekt” (Marx 1976/1890, 169). Die Versachlichung schleicht auch in das Leben selbst. Das Kapital als herrschende Sache “existiert ... in Verfahrensabläufen, objektiven Produktionsabläufen und materialisiert in Konzernpalästen, Autobahnen, Fernsehern, Raketen, Doseneintopf.” (Pohrt 1995, 122f).
Auch die Art der Arbeit hat sich komplett gewandelt. War sie vor dem Kapitalismus primär auf die konkret-sinnliche Produktion von Gebrauchswerten ausgerichtet, die dazu dienten, das Leben zu sichern und angenehmer zu gestalten, so ist sie im Kapitalismus nurmehr abstrakte Arbeit für Geld. Was produziert wird, ist irrelevant, die Arbeit hat mit einem besseren Leben nichts mehr zu tun. Erst über den Umweg des Geldes sind Güter zugänglich, die gewissermaßen als “Abfallprodukt” der abstrakten Verwertung von Wert auf der Grundlage der von anderen geleisteten abstrakten Arbeit “anfallen”. Der Konsum, ein besseres Leben, ist und war immer nur nachrangiger Effekt der Verwertung abstrakter Arbeit. Dies wird heute umso deutlicher, da die Produktion von Waren mit einem besseren Leben immer weniger zu tun hat. Die Qualität der Produkte sinkt, die Zerstörungen, die bei ihrer Herstellung angerichtet werden, stehen in keinem Verhältnis mehr zu ihrem Nutzen - die Milch, die erst vier Länder bereist, um endlich als Joghurt auf unserem Tisch zu landen, mag die Absurdität dieser Produktionsweise illustrieren.

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