Verkehrswende

PROJEKTWERKSTATT IN SAASEN
DIE "VILLA KUNTERBUNT" DES KREATIVEN WIDERSTANDES

Interview zur Projektwerkstatt, den Zielen und politischen Strategien


1. Du glaubst, schon alles zu kennen?
2. Wo ist Saasen?
3. Interview zur Projektwerkstatt, den Zielen und politischen Strategien
4. Wichtige Debatten und Aktionen rund ums Haus
5. Film und Broschüre über die Projektwerkstatt
6. Links zur Projektwerkstatt & Co.

Das folgende Interview wurde für das Buch "Theories of change" aufgenommen und ist dort veröffentlicht.

Projektwerkstatt - eine selbstorganisierte Plattform für Projekte und Aktionen
Die Projektwerkstatt wurde 1990 gegründet und zog drei Jahre später in das heutige Gebäude in Saasen (Hessen). Das Haus ist im Besitz einer Stiftung.
Die Projektwerkstatt versteht sich als Tagungshaus und Treffpunkt für politische Gruppen, vor allem aber als Werkstatt für kreative Projekte . Sie bezeichnet sich selbst als Experimentierfeld ohne Zuständigkeiten, Hierarchien, Regeln und Beschränkungen, das sich an Menschen richtet, die ein “von kapitalistischen Zwängen mehr und mehr losgelöstes, widerständiges und selbstorganisiertes Leben entwickeln wollen”.
Projekte, die in der Projektwerkstatt ansässig sind, beschäftigen sich mit Themen wie kreativen Protestformen, Selbstorganisierung, Verkehrswende, Psychiatriekritik, Repression und Gentechnik.
Das Interview ist im Herbst 2019 in der Projektwerkstatt Sassen aufgenommen worden.

Was ist die Projektwerkstatt und wie ist sie entstanden?
Die Projektwerkstatt hier ist das einzige übrig gebliebene von vielen ähnlichen Projekten. Die sind 1990 quasi auf einen Schlag entstanden, so innerhalb eines halben Jahres oder so. Es gab damals auch schon die Jugend-Umweltverbände, die es auch heute noch gibt, aber noch nicht besonders lang. Die waren so Anfang der 80er entstanden als Loslösungsprozess von den Erwachsenen-Verbänden.
Die Bewegung hatte damals noch eine andere Struktur. Es gab über 1000 Basis Umweltgruppen. Und man hatte nicht so viele Hauptamtliche. Unser Ziel mit den Projektwerkstätten war eigentlich die Enthierarchisierung der Umweltverbände und eine völlige inhaltliche Radikalisierung weg von der vorherrschenden Staatsnähe.

Exkurs: Anarchismus
Der Kern des Anarchismus ist die Ablehnung jeglicher Art von Hierarchie. Der Staat als Organisationsform wird abgelehnt. Dem wird eine Gesellschaft gegenübergestellt, in der sich Individuen selbstbestimmt und freiwillig in Kollektiven organisieren. Der Anarchismus versteht sich selbst als Synthese von individueller Freiheit und sozialer Verantwort gegenüber der Gemeinschaft.
Vorläufer des Anarchismus finden sich bereits in der griechischen Antike. William Godwin gilt mit seinem Werk über politische Gerechtigkeit und sein Einfluss auf Glück und Tugend („Political justice and its influence on general virtue and happiness“) als Begründer der anarchistischen Weltanschauung. Die Bezeichnung Anarchismus wurde aber erst durch und Pierre-Joseph Proudhon’s Werk über den Eigentums-Begriff 1840 etabliert, in dem er die wesentlichen Elemente des Anarchismus zusammenstellt. ++ Mehr Infos

Wir waren davor selbst Teil der Jugend-Umweltverbände und hatten über die Jahre eine erhebliche inhaltliche Entwicklung gemacht. Also wir fingen schon mit klassischem Naturschutz wie Hecken pflanzen, Bäche renaturieren an. Wir haben uns dann immer weiter politisiert und dann relativ schnell festgestellt: hier hängt ja alles mit allem zusammen.
Die Jugend-Umweltverbände dehnten sich dann auch auf internationalistische, feministische und sonstige Themen aus. Und es war uns völlig klar, dass die Umweltzerstörung mit der Existenz von Kapitalismus und Herrschaft zusammenhängt. Und das brachte uns auf einen klaren Konfliktkurs zu den Erwachsenen-Verbänden, die eine völlige Staats- und Kapitalismus-integrierte Umweltpolitik fuhren.
Als wir dann den ersten erfolgreichen Antrag, einen Landesverband abzusägen, in Hessen stellten, kriegten die Erwachsenen Panik und lösten ihre eigenen Jugendverbände auf.
An unserem Vorgehen zeigte sich auch der grundlegende Unterschied zum marxistisch angehauchten Lager. Dort muss man zuerst die Macht erobern. Man ändert Dinge erst, wenn man Macht hat. Das ist anders in der anarchistischen Denke. Und die Jugend-Umweltbewegung hatte schon sehr klar eine anarchistische Prägung.

Exkurs: Marxismus
Ziel des Marxismus ist Abschaffung von gesellschaftlichen Klassen durch eine Revolution. Begründet wurde die Theorie durch Karl Marx und Friedrich Engels am Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie lässt sich in drei Teilgebiete unterteilen: Kritik an Gesellschaft, an Kapitalismus und an Ideologie bzw. Philosophie.
Laut des Marxismus erwachsen alle Ideen, Vorstellungen und Gedanken aus der gesellschaftlichen Realität. Damit entstehen sie aus den vorherrschenden Machtverhältnissen und damit aus den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen. Wobei mit Produktionsverhältnissen die gesellschaftliche Beziehung zwischen Menschen gemeint ist, während sie Produkte produzieren, austauschen, verteilen oder verbrauchen. Wichtig dabei sind nicht nur die Eigentumsverhältnisse, sondern auch andere Faktoren wie Arbeits- oder Verteilungsverhältnisse.
Der Kapitalismus führt laut Marx zu immer größeren Krisen. Durch eine Revolution - auch als Klassenkampf bezeichnet - komme es dann zur kommunistischen Ordnung. In dieser gebe es dann keinen Gegensatz von “Herr und Diener” mehr. Marx beschreibt diesen Vorgang als eine Art natürliche Entwicklung, die zwangsläufig so passieren würde. Der Anarchismus widerspricht dieser “Schicksals-Theorie” und hebt hervor, dass sich Zustände nur ändern, wenn die Ursachen durchschaut und sich dagegen aufgelehnt wird.
Ein weiterer Unterschied zwischen Marxismus und Anarchismus zeigt sich im Verhältnis zum Staat: Während laut der marxistischen Theorie die Arbeiter:innen zunächst die Macht erringen müssen, lehnt die anarchistische Theorie den Staat als Konstrukt gänzlich ab.
Sowohl im Anarchismus als auch im Marxismus gibt es vielfältige Strömungen. ++ Mehr Infos

Als es dann 1990 zu diesem Konflikt mit den Erwachsenen Verbänden kam, halfen die Erwachsenen ein bisschen nach. Die schmissen uns raus. Freundlicherweise – muss ich im Nachhinein sagen. Sonst hätten wir da nicht so schnell den Absprung geschafft. Wir hätten uns da wahrscheinlich noch ein bisschen weiter an ihnen abgekämpft und gehofft, dass man das irgendwie reformieren kann. Aber so wir flogen raus und standen sozusagen auf der Straße.
Wir wollten auf keinen Fall einen neuen Verband gründen. Das war uns klar. Wir haben ungefähr ein halbes Jahr rumexperimentiert. Da entstand zum Beispiel die Schüler:innenaktion Umwelt. Das waren lauter Arbeitsgruppen an den Schulen, die da dann zum Beispiel einen Einweg-Boykott oder so organisiert haben. Wir haben an so Netzwerkstrukturen gebastelt. Das war, glaube ich, einfach noch zu nahe dran an einem Verband und einem Label.
Und irgendwann – ich glaube es ist mehr so zufällig entstanden – gab es die Möglichkeit, in einem Vereinsheim von einer Naturschutzgruppe, die uns unterstützt hat, unterzukommen. Dort haben wir uns einen Raum eingerichtet. Zuerst hieß das dann Naturschutz-Öffentlichkeitswerkstatt. Da muss man sich jetzt ein bisschen die Zeit vorstellen, in der das passiert ist. Das war Ende 1989, Computer hatte so gut wie keiner. Und wir schafften uns da ein Fotolabor, ein Analyselabor, einen Laserdrucker, einen Scanner und einen Computer, wo du layouten konntest, an. Das war damals extrem teuer. Und das konnte man bei uns dann offen nutzen.
Irgendwann kamen dann alle möglichen anderen Ideen dazu und die Öffentlichkeitsarbeit war nicht mehr so wichtig. Dann wurde der Ort in Naturschutz-Projektwerkstatt umbenannt. Dann machten wir viel mehr Themen als nur Naturschutz und dann hieß es nur noch Projektwerkstatt.
Und als das entstand, war ziemlich schnell klar: Das ist die Idee!
Es entstanden in unglaublich kurzer Zeit um die 50 Projektwerkstätten. Die hießen nicht alle Projektwerkstätten, also ich nenne die so als Überbegriff, um das irgendwie zu beschreiben. Und damit waren wir schlagartig organisiert und es war total geil - du konntest überall Aktionen machen, du hattest immer eine Projektwerkstatt in der Nähe.

Wie hat das funktioniert, dass diese Idee sich so schnell verbreitet hat?
Naja, die Leute waren ja vernetzt. Kurz davor waren sie noch gemeinsam die Jugend-Umweltverbände und es gab die Verteiler. Also damals nicht mit eMail – das gabs ja alles noch nicht, das war ja die Zeit, wo das Internet so ungefähr erfunden wurde - sondern mit Rundbriefen oder Telefonketten.
Das war früher schon ein bisschen komplizierter, aber es hat funktioniert und man hat sich einfach öfter getroffen und telefoniert. Also die Leute waren schon irgendwie zusammen.
Auf jeden Fall ging es einfach superschnell. Ein Glücksfall für uns war die BeeRDigung der DDR: Die Bundesregierung hat ganz viele Programme gemacht, dass es zum Austausch zwischen Ost und West kommt. Sommer der Begegnung haben sie das genannt. Dabei hast du Geld bekommen, wenn du ein Austauschprojekt mit einer Ortsgruppe in Ostdeutschland machst.
Wir haben uns da sehr sehr schnell organisiert. Das war sehr interessant, weil wir da viel schneller als die schwerwiegenden Verbände waren. Und so hat die Szene der Ex-Jugend-Umweltbewegung extreme Anteile von diesem Geld abgegriffen. Damit haben wir dann den Aufbau also die Renovierung von Räumen und Projekte finanziert.
So entstanden auf jeden Fall diese 50 Projektwerkstätten.
Das war die geilste Zeit. Wir waren ziemlich stark und es gab geile Konfrontationen. Das konnte man gut sehen am deutschen Umwelttag von 1992: Der war von Lufthansa und Daimler und solchen Leuten organisiert, aber mit den Umweltverbänden zusammen. Und wir haben den deutschen Umwelttag von unten gemacht. Damit haben wir über die Hälfte der Aussteller:innen vom offiziellen Umwelttag auf unsere Seite gekriegt. Daran konnte man sehen, wie wirkmächtig wir waren.
Insgesamt hatten wir so ungefähr drei richtig geile Jahre. Da haben wir richtig fette Aktionen gemacht. Und dann modernisierte sich ganz viel – also auch in der Gesellschaft. Der Staat wurde intelligenter und hat eine Projektwerkstatt nach der anderen eingekauft.

Wie meinst du das?
Hier in Hessen gab es sieben oder acht Projektwerkstätten. Und dann wurde das freiwillige ökologische Jahr begründet und damit entstand der Konflikt: Wir traten dafür ein, dass die FÖJis, die das ökologische Jahr machten, eine Selbstverwaltung haben. Also eine Eigenvertretung und so weiter und so fort.
Das ist zwar auch noch immer sehr demokratisch gedacht, aber nun ist das FÖJ ja auch ein staatliches Projekt. Also man kann keine staatliche Dienstleistungseinrichtung anarchistisch organisieren. Das muss man schon außerhalb des Staates machen. Aber du kannst dann da wenigstens gute Elemente reinbringen. Die Landesregierung in Hessen war natürlich gegen so eine Selbstverwaltung.
So und dann gab es natürlich Besprechungen. Viele Projektwerkstätten hatten FÖJ Stellen. Und wir sind immer für das Mitbestimmungsrecht der FÖJis eingetreten. Irgendwann hieß es dann von der Landesregierung - der war das irgendwann zu blöd - dass alle, die für ein solches Mitbestimmungsrecht für FÖJler eintreten, ihre FÖJ Stellen gestrichen kriegen.
Und jetzt konntest du sehen was passiert. Wir hatten diese FÖJ Stellen eingerichtet in den Projektwerkstätten und das waren auch alles unsere Leute aus dem Zusammenhang. Eigentlich war das echt super. Und jetzt hattest du was zu verlieren. Jetzt geht die Falle zu. Jetzt mussten sich die Projektwerkstätten also überlegen: distanzieren wir uns von unseren politischen Überzeugungen, um die FÖJ Stelle zu behalten? Weil da hängen jetzt ja auch Leute dran, die auf den Stellen sitzen und nicht gerade übermorgen arbeitslos auf der Straße sitzen wollen. Da kommst du also in einen riesigen Konflikt.
Am Ende hat sich ungefähr die Hälfte der Projektwerkstätten der Landesregierung gebeugt und hat sich von ihrer ursprünglichen Position distanziert. Und der anderen Hälfte wurden ihre Stellen gestrichen.
Der Vorgang hat die Szene natürlich komplett gespalten. Danach war es vorbei mit dem Netzwerk der Projektwerkstätten - jedenfalls hier in Hessen.

Gab es dann in anderen Regionen noch viele Projektwerkstätten? Oder sind da ähnliche Sachen passiert?
Leider ist das eigentlich überall in ähnlicher Art passiert. Der abgefahrenste Fall ist die Großraumkommune. Damals war dann irgendwann das Thema wie wir radikal bleiben, wenn wir nun langsam aus dem Jugendzeitalter heraustreten.
Da fingen Menschen an, über alternative Lebenskonzepte nachzudenken. Wie kannst du es schaffen, dass du dich selbst nicht in der Gesellschaft etablierst? Wie kannst du das verhindern?
Es gab von diesen Leuten einen Rundbrief-Verteiler mit 150 oder sogar 200 Menschen. Wir sind übrigens immer noch nicht im Email-Zeitalter. Und diese Leute waren über ganz Deutschland oder eigentlich im ganzen deutschsprachigen Raum verteilt. Und dann machte immer irgendein Zusammenhang den nächsten Rundbrief.
Ein Teil dieser Leute war überzeugt, dass wenn wir alle so verteilt bleiben, dann werden wir so langsam aufgefressen. Wir sollten uns zusammentun. Und so entstand der Plan, sich eine Stadt auszuwählen und diese anarchistisch zu unterwandern.
Ich war nicht in dieser Gruppe dabei. Ich fand das nicht so sinnvoll, dass alle in eine Stadt ziehen. Aber es waren genügend dabei und die haben sich dann eine Stadt ausgeguckt - also so quasi auf dem Reißbrett. Und dann sind die da hin und haben dort die ersten Sachen aufgebaut. Erstmal gab es dort ein Projektwerkstatt mit vielen, coolen Leuten. Ich war häufiger dort zu Besuch.
Dann wollten diese Gruppe große Gebäude haben. Und das war jetzt die Zeit nach der Wende, wo ganz viele Kasernen wegfielen. Jetzt wollten diese Gruppe die Fläche von diesen Kasernen haben. Joa, das kostet Geld und jetzt ging es los: In dem Ort war eine schwarz-gelbe Stadtregierung. Und dann gründete die Gruppe selber die Agenda 21 Gruppe. Auch wenn wir alle immer die Agenda 21 abgelehnt haben. Aber sie dachten, da kriegen sie CDU und FDP mit rein und können so an die Kasernen rankommen.
Natürlich haben die gedacht, dass sie das nur eine Phase lang machen und sich dann wieder radikalisieren. Ich war zu dem Zeitpunkt schon der Meinung, dass das nicht funktioniert. Das menschliche Gehirn funktioniert so nicht. Das Sein schafft das Bewusstsein. Der Satz ist so knallhart richtig. Du machst das ein bis zwei Jahre und dann bist du das, was du tust. Du verstellst dich nicht mehr. Du bist das geworden, was du getan hast.

Exkurs: Agenda 21
Die Agenda 21 bezeichnet ein Programm, welches 1992 bei der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der UN beschlossen wurde. Es ist rechtlich nicht bindend und sieht sich selbst als “Beginn einer neuen globalen Partnerschaft im Dienste der nachhaltigen Entwicklung”.
Die Hauptthemen der Agenda 21 sind die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Soziales, Wirtschaft und Ökologie. Diese sollen in der Agenda 21 angestrebte Entwicklung Einklang bringen. Außerdem umfasst das Programm die “Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen” wie Frauen, Kinder und Jugendlicher, Indigener und kommunale Initiativen.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich gibt es viele lokale Agenda 21 Gruppen zur Umsetzung des Programms.
Es gibt auch viel Kritik an der Agenda 21. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Globalisierung und dem Entwicklungsbegriff, das Festhalten am Wachstums-Paradigma, das Fehlen von demokratischen Prozessen und die unzureichende Definition von Nachhaltigkeit sind die größten Kritikpunkte.
Die Agenda 21 wurde 2016 durch die Agenda 2030 erweitert und aktualisiert. ++ utopia.de/ratgeber/agenda-21-die-ziele-des-programms-leicht-erklaert/ " target="_blank">Mehr Infos

Die Leute, die in die Politik gehen, verraten sich nach ihrem Gefühl auch nicht. Die merken das gar nicht. Das Sein prägt dich einfach. Und so war das auch in dem Fall der Großkommune. They never came back. Die haben dann ihre erste Kaserne gehabt und dann gings nur noch so weiter.

Würdest du sagen, dass die Leute ihre Überzeugung verkauft haben dafür, dass sie mehr Komfort oder mehr Einfluss bekommen?
Der Begriff verkauft könnte analytisch irreleitend sein. Ich glaube wirklich, dass dieser Satz - das Sein schafft das Bewusstsein - die passendere Geschichte ist. Das menschliche Gehirn ist ja so angelegt, dass es die äußeren Rahmenbedingungen materiell abbildet. Deswegen sind gesellschaftliche Veränderungen auch immer sehr schwierig. Aber wenn sie einmal gelungen sind, sind sie sehr stabil.
Menschen sind anders als eine Festplatte. Man kann das Gehirn nicht einfach mal neu formatieren. Das kennt man auch in der Feminismus-Debatte. Da gibt es den Begriff, dass das Patriarchat in den Körper eingebrannt ist. Und das passiert so mit allem und nicht nur mit dem Patriarchat. Die Verhältnisse brennen sich ein.

Exkurs: Patriarchat
Als Patriarchat wird ein Gesellschaftssystem bezeichnet, in dem Männer an der Spitze stehen. Durch sie werden soziale Normen, Werte, Macht und Verhaltensweisen geprägt und kontrolliert. ++ Mehr Infos

Ich hab das hier in der Projektwerkstatt häufig erlebt. Leute, die hier länger dabei sind, die nutzen die Werkstätte mal mal mehr mal weniger gut selbstorganisiert. Und irgendwann stellen sie doch mal einen Förderantrag. Das kann man ja auch mal machen. Das ist ja nicht per se etwas Schlechtes. Es gibt so Fördertöpfe, da gibt es keine Bedingungen.
Ich hab das letztens auch mal wieder gemacht. Das erste Mal nach 5 oder 10 Jahren. Weil ich beobachtet habe, dass durchaus radikale Gruppen von dieser einen Firma gefördert werden. Aus deren Charity Pot oder wie das heißt. Und da hab ich mir gedacht, ja scheiße, ich werd älter. Ich muss hier diese ganzen Lasten hin und her bewegen. Wir fahren ständig Aktionsmaterial zwischen hier und Gießen hin und her. Und es fällt mir immer schwerer. Also rein körperlich. Und da hab ich gedacht, ich hätte gern ein E-Motor gestütztes Lastenrad.
Und es ist heute unmöglich sich so ein Lastenrad schenken zu lassen. Die kommen ja sowieso gerade mit der Produktion nicht hinterher. Also hab ich dann auch einen Antrag gestellt.
So.. jetzt ist es ja so: rein theoretisch jetzt kriegt man dieses Geld und alles ist gut. Man muss bei dieser Firma noch nichtmal irgendwelche Nachweise bringen. Und dann hat man dieses Ding. Dieses Lastenrad. Das steht inzwischen dort auf dem Hof. Aber das Sein schafft das Bewusstsein, das funktioniert dann ja leider doch anders. Diese Firma will noch nicht mal, dass man das labelt. Man kann sogar angeben, dass die dich bitte nicht erwähnen mögen. So bekommt niemand mit, dass du Geld von denen kriegst. Also relativ ungefährlich wirkt das. Aber das stimmt nicht. Denn: jetzt machst du irgendwann das nächste Projekt. Und jetzt ist das Denken schon leicht verschoben. Jetzt kennst du das vom letzten Mal und denkst: ah ja man könnte ja auch wieder Geld beantragen. Das heißt es wird überhaupt nicht darüber nachgedacht, ob man das für alt organisieren kann und wie.
Also schaust du jetzt, ob du dafür auch wieder Projektgelder bekommen könntest. Und so ist das Denken leicht verschoben. Nicht richtig schlimm. Deine innere Aktion ist vielleicht noch gar nicht betroffen. Wieder ein Jahr später, gibt es diesen Charity Pot nicht mehr. Aber jetzt gibt es andere Töpfe. Diesmal musst du dann aber eine bestimmte inhaltliche Bedingung erfüllen. Und jetzt fängt es so das erste Mal an, dass du dein Projekt leicht inhaltlich an den Fördertopf anpasst. Und nach 3 Jahren wird der Fördertopf definieren, was für Projekte du machst. Das ist kein Verkaufen von deinen Überzeugungen. Das ist ja kein Fall, wo dir das bewusst ist und es voll klar hast. Bei diesem Mechanismus merkst du gar nicht, dass sich da was in dir verändert hat.
Das Gleiche passiert, wenn du bei einer Partei oder in irgendeiner Firma einsteigst. Jeden Tag bist du ein Stück verschoben. Du merkst die Verschiebung nicht mehr. Nur die Leute, die dich dann nach einem Jahr wieder treffen und fassungslos den Unterschied an dir wahrnehmen, die sehen diese Verschiebung, während du glaubst, immer noch der Alte zu sein.
Das ist meine grundsätzliche Kritik auch an Bewegungen. Das hat auch nicht nur mit Geld zu tun, sondern auch alleine, wenn ich mir ein Label mache. Ich gewöhn mich daran immer daran zu denken, wie wir das Label präsentieren.
Am Anfang vergesse ich es vielleicht noch, das Label auf ein Transparent zu schreiben, vor allem wenn ich vorher noch kein Label hatte. Aber beim 3. Mal vergesse ich es nicht mehr. Beim 7. Mal ist das Label größer als die inhaltliche Message und beim 10. Mal ist es auch kein Problem, mal ein Aufkleber drucken zu lassen, wo nur noch das Label drauf steht.
Und erst wenn jemand anders sagt, hör mal, du hast auch schon mal geilere Transpis mit mehr Inhalt gemacht, dann merkst du das. Aber wenn niemand in der Gruppe mehr merkt, was sie da tun und wie wichtig das Label gegenüber dem Inhalt geworden ist, dann ist der Prozess durch. In meinen Augen ist Ende Gelände dafür so ein Beispiel.

Würdest du sagen, dass Gruppen ihre Schlagkräftigkeit verlieren, wenn sie nur noch diesem Label hinterherrennen?
Also das ist eine Frage, die viel komplexer ist, als sie wirkt. Ende Gelände ist viel schlagkräftiger als wir mit unseren zersplitterten Zusammenhängen - also wenn man Ende Gelände mit unserer größten Aktion in letzter Zeit vergleicht. Und das liegt auch an extremen Seilschaften, die an solchen Orten wie Ende Gelände oder anderen großen Playern entstehen. Die haben dann ihre Leute in den Redaktionen sitzen. Und die Journalisten wissen bei vielen NGOs, dass da immer Hauptamtliche sitzen. Und die schnattern zu jedem Thema. Und auch wenn sie es nicht sind, stellen sie sich als Expertis zu jedem Thema hin. Weil: sie wollen ja in die Presse kommen. Und für die Journalist:innen ist das auch super, um 11 Uhr oder wann auch immer jemanden erreichen zu können. Bei den Aktionsgruppen ist das nicht immer so einfach. Und so bedingt sich das gegenseitig.
So von daher ist Ende Gelände in dieser Konzeption innerhalb dieser ultra beschissenen, gesellschaftlichen Zustände schlagkräftiger. Die Frage ist jetzt allerdings, erstens: wollen wir die denn? Also wollen wir innerhalb der bestehenden Verhältnisse unser Thema möglichst effizient durchsetzen? Das kann Ende Gelände gut. Dann ist es aber genau nicht “System Change not Climate Change” sondern es ist Klimaschutz im System. Denn: ich benutze genau die Mechanismen des vorherrschenden Systems, um meine Botschaft und Inhalte durchzusetzen, oder im Fall von NGOs gehts meist auch ganz einfach darum, maximale Spenden einzunehmen.
Und dann gibt noch eine zweite Komplexitätsebene: Sind Gruppen wie Ende Gelände auch effizient darin, die beschissenen Verhältnisse zu verändern? Und was wäre, wenn Ende Gelände seine Strahlkraft dafür einsetzen würde, tausende von Leuten zur Selbstorganisation zu bringen? Was würde passieren, wenn diese Reichweite dazu genutzt würde, genau das zu thematisieren. Und dann Leute zu trainieren, damit sie ihre eigenen Ideen umzusetzen?
Bei so Massenaktionen ist das ja eher wie wenn man eine Schafherde organisiert - als Mitläufer. Du trainierst Leute drauf, dir blind zu folgen. Die Leute denken sich ja da keine eigenen Aktionen aus. Also manche Ortsgruppen vielleicht schon. Aber bei den großen Aktionen sollst du blindlings folgen. Und dann stört das die Leute auch nicht, wenn da irgendwelche Leute für sie sprechen, die sie gar nicht kennen.
Wir kriegen ja viel Kritik dafür, dass wir immer so klein sind. Und eine der Antworten darauf ist, dass große Player eine der Gründe dafür sind. Weil die die Leute nicht weiterbilden, sondern nur zum Mitlaufen trainieren.
Und wenn ich hier Ende Gelände sage, dann meine ich damit immer eine kleine Gruppe, den Kern, der den Ton angibt. Es geht nicht um die ganze Gruppe, Und es geht auch nicht nur um Ende Gelände. Das ist hier nur das Beispiel.

Das heißt es wäre besser wenn alles basisdemokratisch durch ein Plenum entschieden werden würde?
Nein, ich find Plena grundsätzlich eine problematische Einrichtung. Die Demokratie und auch damit die Basisdemokratie halte ich grundsätzlich für eine Herrschaftsform.
Du hast jetzt das Plenum, und das Plenum ist erstmal die hierarchische Spitze. Das merkst du daran, dass es reicht, wenn die Begründung zu einer Nachfrage lautet “das hat das Plenum so beschlossen”. Das ist ein sehr deutliches Zeichen über eine Hierarchie. Es wird also nicht begründet, warum etwas so oder so ist. Was das Plenum beschließt, ist das Gesetz.
Alleine, dass das Plenum sich als Plenum bezeichnet, ist übergriffig. Es kann nicht einfach jede Person zum Beispiel auf einem Klimacamp ein Plenum ansetzen. Plenum ist übergriffig, weil es suggeriert, dass es alle sind. Und das stimmt natürlich nie. Es sind nie alle. Irgendwer ist aufm Klo oder hat Klodienst oder kocht oder sitzt in Knast. Aber der Begriff Plenum inszeniert sich als alle.
Das Plenum ist ein anmaßender Raum, in dem eine Teilmenge eines Ganzen eine Entscheidung trifft. Und dann hinterher behauptet wird, dass sie von allen getroffen worden ist. Ganz schlimm ist das, wenn auch noch Konsenskultur herrscht. Dann wird das Produkt dieser Abstimmung hinterher auch noch als Konsens aller bezeichnet. Obwohl ja nicht alle da waren.
Und dann können nicht alle in einem Plenum sitzen. Das ist sehr interessant bei der Logik von Plenum. Es ist äußerst wichtig zu definieren wer dazugehört. Das ist ja der Grundfehler der Demokratie. Nämlich dass der Demos, das Volk, die Gruppe, immer eine stabile Außengrenze haben muss. Es gibt in diesem Sinne immer Inländer:innen und Ausländer:innen, ob das jetzt auf nationaler Ebene ist oder bei einem Bündnis, oder einem Klimacamp. Oft geht es bei Plena auch nur darum, dass vorgedachte Ideen dort einen konsensuale Unterfütterung bekommen. Also eigentlich ist das ja irgendwie nur Legitimationsbeschaffung.

Wie entscheidet ihr Dinge, wenn du sagst, dass ihr das Plenum ablehnt?
Gar nicht. Also das ist jetzt auch gar nicht sowas ganz Neues. Also vor so 20 Jahren waren so Experimente in der politischen Bewegung auch deutlich verbreiteter als heute. Ich denk da an Gruppenmethoden wie Open Space oder ähnliches. Die wurden auf Aktionen bezogen. Das lief dann unter so Begriffen wie Flächen- oder Streckenkonzept oder eine Welt in der viele Welten Platz haben.
Es ist schon wichtig, dass wer auf diese Meta-Ebene guckt. Das an sich ist jetzt noch keine Hierarchie. Sondern du guckst halt. Klappt das bei den anderen. Und sonst fragst du da mal nach. Das ist ja eigentlich horizontale Organisierung. Und das würd ich mir mehr wünschen.
Also an unserer letzten großen Aktion Block VW kann man es vielleicht ganz gut sehen. Da haben wir versucht dieses Konzept vollständig umzusetzen. Und wir mussten es immer und immer wieder erklären, weil neue Leute dazu kamen, die es gewohnt waren, dass es eine Zentrale gibt, die einen umsorgt und alles ganz easy ist.
Wir hatten überlegt, wir wollen mal eine größere Aktion zusammen machen. Die Idee wurde dann so gestreut. Mal einen Autokonzern lahmlegen, möglichst symbolkräftig. Wir haben da so verschiedene Dinge diskutiert, ob und wie man da so ein Fließband stoppen kann, aber das haben wir alles verworfen. Bei sowas bist du dann in dieser Halle drin und keiner sieht dich, Damit definiert dann die Pressestelle von dem Autowerk, ob du einen Effekt hattest oder nicht. Außerdem lynchen dich vielleicht bei sowas auch die Arbeiterinnen und Arbeiter. Das haben wir dann auf jeden Fall wieder verworfen.
Wir wollten etwas gut Sichtbares machen, aber trotzdem wollten wir, dass das Symbol klar ist. Wir waren angenervt von dieser riesen Masse an NGOs und Grünen. Mit ihrer Forderung nach einem Verbot von Verbrennungsmotoren tun sie eigentlich nur den Autokonzernen was Gutes. Die müssen ja dann 57 Millionen neue Autos herstellen. Allein für Deutschland! Das ist sicherlich sehr attraktiv für so Konzerne.
Wir wollten eine glasklare Aktion machen. Und dann haben wir uns überlegt welchen Konzern nehmen wir. Wir wollten einen internationalen deutschen Player. Also blieben eigentlich nur zwei Konzerne übrig: Daimler oder VW. Und wir haben uns dann für VW entschieden. Einmal wegen der taktischen Lage vor Ort und weil VW in Deutschland einfach eine Sonderrolle hat. Es gibt ein eigenes Gesetz nur für VW. Und dieses Gesetz macht VW zu einer Experimentierfläche für den “guten” Kapitalismus. Das Land Niedersachsen hat außerdem nach diesem Gesetz eine Sperrminorität. Die können also alles verhindern. Der Staat ist da mächtig mit drinnen und in dem Moment, wo du VW angreifst, greifst du natürlich entsprechend alles an.
Und dann war uns wichtig, dass es spektakulär ist. Es sollte natürlich eine fette Aktion sein. Und trotzdem wollten wir keine Hierarchie ausbilden. Wir wollten nicht mal ein Plenum haben.
Es gab dann natürlich verschiedene Gruppen, die sich die potentiellen Aktionsorte vorher angeschaut haben. Die haben dann ihre Ergebnisse weitergegeben. Dadurch entstehen schon informelle Hierarchien. Das muss klar sein. Leute achten nach ihren Vorlieben auf bestimmte Sachen mehr. Das kriegst du ja nicht raus. Du kannst deine Festplatte nicht formatieren. Dein Gehirn arbeitet so, wie deine bisherigen Vorlieben liegen. Und darauf guckst du auch jetzt. Das heißt, vielleicht sind gar nicht alle Akitonsmöglichkeiten gesagt worden.
Auf jeden Fall gab es dann eine lange Liste mit Möglichkeiten. Und dann konnten die Leute sagen, wo und was sie machen wollen. Und so entwickelte sich diese Aktion aus ganz vielen Teilgruppen. Alle übernahmen einen bestimmten Part und daraus bildete sich die gesamte Aktion.
Ich war ganz verwundert, dass die heftig strafbewehrten Aktionen die ersten waren, die weg waren. Ich kenn das noch von früher, da wollten alle Leute immer dokumentieren. Dokumentieren klingt wichtig und man bekommt alles mit. Aber hier war es anders. Die fetten Aktionen mit Anketten und Klettern waren als erstes vergeben.
Da wo die Zentrale fehlt, entwickeln sich ganz viele kleine Initiativen. Und die überlegen sich selbständig irgendwas. Man muss nur schauen, wie die verschiedenen Gruppen miteinander kommunizieren. Und dann werden noch Unterstützungsstrukturen geschaffen.
Am Ende waren wir ungefähr 70 Leute, die die Block VW Aktion durchgezogen habe. Jede Aktion ist gelungen - das ist für uns sehr ungewöhnlich. Das Einzige, was abgebrochen werden musste von unserer Seite aus, war der Livestream von der Zugblockade. Das war schade. Es war so ein geiles Postkartenmotiv. Genauso, wie wir es haben wollten: Die Lok kurz hinter der Brücke gestoppt, der Mittellandkanal gesperrt. Aber es herrschte so viel Sturm an dem Tag, dass die Person von dort, wo sie filmte, ihre Sachen nicht mehr festhalten konnte.

Und wie läuft Pressearbeit in so einem Konzept?
Wir haben gesagt, dass wir keine Pressesprecher:innen haben. Sowas gibt es nicht bei uns. Sondern wir sagen der Presse Bescheid, dass da was läuft. Die verschiedenen Gruppen konnten sagen, ob sie ein Handy dabeihaben und ob sie auch Interviews geben würden. Und dann hatten wir eine Pressevermittlung. Das war auch eine Gruppe. Die hatten eine Liste mit bei sich.
Als die Aktion dann stand, hat die Pressevermitlung eine Mail rausgeschickt: Da läuft eine Aktion. Die Gruppen konnten selber vorher Presseinfos verfassen und sagen, wann die die veröffentlicht haben wollen. Oder die Gruppen haben dann bei der Pressevermittlung angerufen, wenn sie ihre Presseinfo rausgeschickt haben wollten.
Diese Pressemitteilungen waren auch sehr unterschiedlich. Eine hatte mehr so eine „Fuck Kapitalimus“-Botschaft, eine Gruppe hatte eine feministische Kritik an Autos, eine Gruppe mehr so eine Ökogeschichte. Jeder konnte das selbst so machen, wie er oder sie das wollte. Und die Pressekontaktpersonen haben jetzt der Presse die Telefonnummern gegeben und gesagt, wenn sie eine Stellungnahme haben wollen, müssen sie sich überlegen, mit wem sie reden wollen. Ich kann ihnen den Kontakt vermitteln. Da gibt es zum Beispiel die Gruppe oder die Gruppe oder die. Und dann haben sie der Presse einfach die Telefonnummer von der Gruppe gegeben.

Hast du bei so einem Entscheidungsprozess schon mal erlebt, dass da viele wichtige Jobs übriggeblieben sind?
Nein, das klappt normalerweise schon ganz gut mit der Aufteilung.
Viele Sachen können ja rausfallen, wenn sich da niemand für findet. Ja klar, die Blockade musste man hinkriegen. Aber das ist ja auch allen klar.
Wir sind natürlich auch ein Zusammenhang von Leuten, wo es immer einige gibt, die sowas ständig machen. Und so waren dann bei Block VW die wichtigen Jobs wie Ankett- und Kletteraktionen tatsächlich als erstes weg.

Glaubst du diese Art von Entscheidungsmodell würde in jedem Kontext gut funktionieren?
Ja, doch. Auf jeden Fall ja. Dann fällt halt was weg. Dann hätte man vielleicht auch irgendwann die Blockade nicht mehr gemacht, wenn viel weggefallen wäre.
So war das auch vor ein paar Jahren bei den Genversuchsfeldern. Da sind schon Sachen weggefallen, aber allen war klar: Du musst die Blockade hinkriegen. Das war allen klar. Und dann funktioniert das auch.

Hast du das Gefühl, dass das auch wirklich auf großer Ebene so funktionieren kann?
Auf jeden Fall. Der Castor hat es ja bewiesen. Es gab auch einige andere Beispiele, die nicht so bekannt geworden sind wie die Castorproteste.
Aber ich glaube, dass das eine gewisse Übung braucht. Und so eine Übung haben wir nicht mehr in dieser Gesellschaft. Deswegen beantragen wir im Plenum immer, dass wir das ohne Moderation machen. Dann achten wir alle darauf, damit wir das üben.
Aber meist wollen die Leute das dann nicht. Das ist ja dann anstrengender für die. Und die Elite-Clique will das natürlich auch nicht, weil die das Plenum ja mit ihrer Moderation beeinflussen will.

Was braucht es deiner Meinung nach, damit die Bewegung wieder mehr auf selbstorganisierte Konzepte setzt?
Wünschen würde ich mir ja, dass die Leute von selbst auf die Idee kommen. Ich hab nichts dagegen, wenn auch mal gemeinsame große Aktionen gemacht werden.
Wir haben aus Gießen 500 Leute im Hambacher Forst im Oktober 2018 gehabt. Die sind da alle hingefahren. Aber wir wissen nicht, wer das gewesen ist. Wir haben die fast alle nie wieder gesehen bei den lokalen Kämpfen. Das ist doch absurd! Aber für so einen Wald sein, ist halt auch total einfach. Vor Allem mit so einem Event-Charakter. Da waren ja an einem Tag im Hambacher Forst 50.000 Menschen! Lokale Kämpfe sind meist komplexer.
Ich würd mir wie gesagt wünschen, dass die Leute von sich aus darauf kommen, dass sie sich wieder mehr selbst organisieren müssen. Aber ich halt das nicht für realistisch. Deshalb appelliere ich, dass die zentralen Strukturen von großen Playern Kapazitäten bereitstellen. Kapazitäten, um die Leute zu trainieren. Oder dass diese Player zumindest die Leute, die diese Trainings machen, durchlassen und nicht bei ihrem Vorhaben behindern.

Also es braucht eigentlich eine Lokalisierung und eine stärkere Selbstständigkeit von Gruppen?
Genau. Es muss sich politisch wieder mehr dezentralisieren. Das muss nicht nur lokal sein. Je nach Thema macht es auch Sinn, Dinge überregional aufziehen. Das heißt es geht nicht um lokal, sondern darum ob es konkret ist. Oder wenn du den Begriff Dezentralisierung nicht geografisch sondern sozial betrachtest, dann passt er. Also es geht darum ein konkretes Projekt oder Thema anzugehen. Und nicht darauf zu warten, dass irgendein Apparat das Thema angeht.
Und wir brauchen mehr Unabhängigkeit. Diese wahnsinnigen Geldflüsse müssen überwunden werden. Du kannst ja heute Klimacamps gar nicht mehr unabhängig machen. Die sind so teuer geworden. Geld ist wie eine Droge. Da braucht es einen Entzug.
Und wir müssen uns wieder mehr ohne Hauptamtliche organisieren.
Ich würde gerne die Eliten in der Bewegung dafür gewinnen, dass sie die Leute trainieren selbständiger zu werden. Wenn das nicht gelingt, dann ist Spaltung nötig. Also ich möchte schon diesen Zentralen, diesen Eliten in der Bewegung die Möglichkeit von Steuerung entziehen. Die machen ja nicht nur doofe Aktionen, sondern hierarchische Aktionen. Ich will sie dafür gewinnen, dass sie sich wieder anders organisieren.
Eine hierarchische Bewegung ist auch viel einfacher steuerbar. Du schleust da so 2-3 Leute ein. Und schon bestimmst du, wo es lang geht.

Gibt es Gruppen mit denen du nicht zusammenarbeiten würdest?
Nein. Grundsätzlich nicht. Also, dass ich vielleicht aus Unlust sage, dass ich mit einer Gruppe nicht zusammenarbeiten mag, kann sein. Ja. Dass ich irgendwo raus gehe und sag, das ist mir zu blöde. Aber grundsätzlich nein.
Hier bei uns im Haus ist da auch so. Es ist immer offen, aber es bleibt auch offen. Das heißt wenn sich hier eine Gruppe trifft, kann die nicht für sich definieren, dass sie hier einen geschützten Rahmen haben will. Wir sagen immer, der offene Raum würde gleichgültig, wenn er nicht die Möglichkeit von Auseinandersetzung bieten würde. Das heißt, wenn es Leute gibt, die etwas an einer Gruppe doof finden, dann müssen die auch an die rankommen können. So jedenfalls grundsätzlich.
Klar, es gibt schon Ausnahmen: klandestine Gruppen, die zum Beispiel Aktionen planen. Die treffen sich dann mal für eine Zeit lang und keiner kriegt es mit. Aber sie können jetzt nicht sagen: Wir finden das Haus hier geil. Wir wollen hier unseren Raum haben und den schließen wir ab. Da sagen wir als Projektwerktstatt: Nö, das gibts nicht. Da seid ihr in der Restgesellschaft richtig, und hier falsch.
Es sollen ruhig immer alle mitmachen. Es ist egal aus welchen Gruppen Menschen kommen.

Ist auch einmal eine rechte Gruppe zu euch gekommen? Und wenn ja, wie seid ihr damit umgegangen?
Ja, wir hatten das einmal. Da waren wir auch echt davon überrascht. Das war als wir einen Umsonstzug durch Gießen gemacht haben. Wir hatten das als Demo angemeldet und waren als Verschenk-Markt unterwegs. Dabei zieht man so durch die Stadt durch und alle können alles bringen, was sie so loswerden wollen. Und Leute können schauen, ob was für sie dabei ist und es holen.
Zu der Zeit war Landtagswahlkampf in Hessen. Und dann kam so eine Partei “Deutsche Mitte” hieß die, und die haben dann über die Mikrophonanlage gesprochen. Haben erzählt, dass sie auch ein geiles Projekt haben und dafür Unterstützungsunterschriften sammeln.
Da waren wir echt nicht drauf vorbereiten. Rauswerfen wollten wir niemanden, das hatten wir schon gesagt. Aber wir hatten uns auch darauf geeinigt, dass wir keine Werbung wollen. Weder für NGOs noch für Parteien, noch für Produkte. Aber es gab natürlich noch keinen Mechanismus, um das umzusetzen.
Jedenfalls gingen die dann an unser Soundmobil. Und ich wusste ja schon, dass das dieser Typ von dieser rechten Partei ist. Und dann hab ich ihm das Mikrofon abgestellt.
Das gab es richtig Zoff, innerhalb unserer Szene. Ich hab das so gesehen: Ich hab ihm das Mikrophon nur abgestellt, weil er geschummelt hat. Er hat nämlich kein Projekt vorgestellt, sondern eine Partei. Ich hab ihn das Mikro nur ausgemacht und bin weggegangen. Also es hätte auch jemand wieder anmachen können. Da gab es dann viele Debatten darüber.
Natürlich gabs auch ein paar Leute, eher so typische Linke, die gesagt haben: wenn da nochmal so eine rechte Gruppe ist, die müssen sofort rausfliegen, sonst steigen wir aus.
Aber das Leute rausschmeißen, das ist nicht unser Umgang. Leute rausschmeißen, dass feiert die Politik der Rechten selber. Wir müssen einen anderen Umgang damit finden. Naja, und der normale Umgang bei uns ist dann, dass wir uns darauf vorbereiten. Zum Beispiel könntest du in so einem Fall ganz schnell ein Schild malen und stellst dich dahinter: Diese Person gehört zur Deutschen Mitte, das ist eine rechte Partei. Das ist unser normaler Umgang. Oder mit Kreide die Message davor malen, oder irgendsowas.
Aber joa, weil wir in diesem einen Fall nicht darauf vorbereitet waren, klappte das halt nicht.

Würdest du sagen, dass es heutzutage Elemente gibt, die die politische Organisierung schwieriger machen?
Ja. Heute ist Herrschaft viel moderner. Damals haben sich die Mächtigen immer noch aufgeregt. Dann machen Aktionen viel mehr Spaß.
Damals hast du Torten-Attentate gemacht und die wollten dich am liebsten verprügeln. Heute würde jemand sagen: Mmm, lecker ich hätte lieber Himbeer-Torte gehabt. Die sind viel eleganter heute, die loben dich tot. So wie zum Beispiel bei Fridays for Future. Das ist ganz schwierig für die durchzuhalten, wenn so eine Merkel gleich Beifall klatscht.
Das konfrontative Element, was es früher mehr gab, hilft dir deutlich zu machen, wo der kapitalistische Bruch ist. Heute hast du keine Feinde mehr. Alles sind für die Verkehrswende, alle sind für Klimaschutz. Und das macht die politische Arbeit viel schwieriger.

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