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DIE VÖLKER DES KLEINES M@NNES: ANARCHIE, KOLLEKTIV UND KOLLEKTIVE IDENTITÄT

AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen


1. Einleitung
2. Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv
3. Erscheinungsformen und Steigerungen
4. AnarchistInnen pro Kollektiv
5. AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen
6. Anarchistische Kritik des Kollektiven
7. Links zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Neben der Akzeptanz oder Befürwortung kollektiver Identitäten erschaffen anarchistische Gruppen diese auch selbst. AnarchistInnen treten überwiegend sehr stark als einheitliche Gruppen auf, erkennbar durch ähnliche Kleidung, Symbole, Sprache, Parolen, Label und sogar Fahnen. Offenbar besteht ein erhebliches Interesse an der Gleichförmigkeit, die eine Form der Distanzierung von anderen Teilen der Gesellschaft ist - vergleichbar mit der Punkkultur, die in ihrem Willen nach Abgrenzung eine besonders identitäre, gleichförmige und mit vielen Verhaltenscodes durchzogene Kultur schuf. Auf Demonstrationen formieren sich AnarchistInnen in abgegrenzten Blöcken oder beteiligen an solchen, z.B. im durch Medienberichterstattung legendär gewordenen "black bloc". Statt einem Ausdruck von Vielfalt und emanzipatorischen Ideen wird eine strenge, einheitliche und eigene Identität gebildet, um sich vom Rest der Welt oder dem Rest der Demo zu unterscheiden. Innen und Außen haben hier bizarr eindeutige Züge.

Im Original: Identität Anarchismus
Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 26)
Anarchismus ... ist ein Zusammenhang, in dem viele politisch sehr aktive Subjekte "wir" sagen und darunter weitgehend dasselbe verstehen können - eine kollektive Identität, die sich auf einem gefestigten gemeinsamen Weg des Denkens und Tuns herausgebildet hat.

Fahnen, Logos und Spaltungen: Vereinsmeierei (Quelle des folgenden Absatzes):
Entsprechend der Definition des Anarchismus als "herrschaftsfrei" wird von vielen Anarchisten grundsätzlich die Berechtigung von Symbolen, Flaggen oder auch Hymnen (z.B. von Nationalstaaten u.a.) kritisiert und der "Respekt" in Form von Achtungserweisen vor ihnen verweigert. Aus diesem Grund wird von manchen auch eine entsprechende Symbolik, die stellvertretend für den Anarchismus oder eine Teilbewegung des Anarchismus stehen soll, abgelehnt. Trotz der Kritik an Symbolen aus den eigenen Reihen wurden schon immer auch von Anarchisten und anarchistischen Gruppen Symbole verwendet. Peter Kropotkin, der Begründer der Theorie des Kommunistischen Anarchismus im 19. Jahrhundert, propagierte die rote Flagge als gemeinsames Symbol mit dem Sozialismus und Kommunismus. Darüber hinaus entwickelten sich im 19. und 20. Jahrhundert weitere eigene Symbole. Die bekanntesten sind heute das eingekreiste A, sowie eine einfache schwarze Flagge. Das Schwarz zeigt kein Herrschafts-Symbol an, und wird somit als Negation der Herrschaft angesehen. Die anarchosyndikalistische Bewegung verwendet oft die Farben schwarz und rot zusammen, in der Fahne diagonal schwarz-rot bzw. rot-schwarz in zwei gleich große entsprechend gefärbte Dreiecke geteilt. Diese Symbolik taucht auch in einem ähnlich gestalteten rot-schwarzen fünfzackigen Stern auf.

Sprache und kulturelle Ausdrucksformen
Für viele deutschsprachige AnarchistInnen sind Sprache und kulturelle Ausdrucksformen sogar hauptsächlich identitätsstiftend, also nach innen und kaum als tatsächliche gesellschaftliche Intervention gedacht. Selbst bei den wenigen öffentlichen Handlungen stellt sich angesichts der Ausführung die Frage, ob hier mehr Binnen- als Außenwirkung erzeugt werden soll. Das gilt sowohl für die scharf abgegrenzten Demonstrationsblöcke wie auch für das clandestine Anbringen von Graffities, Aufklebern oder Plakaten. Das Ritual der anarchisch geprägten Tätigkeit steigert das Zugehörigkeitsgefühl und, wenn gemeinsam ausgeführt, auch den Zusammenhalt.

Im Original: Sprache
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (, mehr Auszüge)
Es fällt auf, wie wenig diese organische, im wesentlichen schriftlose oder "Stammes"-Gesellschaft herrschaftsorientiert war - nicht nur in der Struktur ihre Institutionen, sondern schon in der Sprache. Stimmen die linguistischen Analysen von Anthropologen wie Dorothy Lee, dann kannten bestimmte indianische Stämme, z.B. die Wintus von der Pazifikküste, keine Transitivverben wie "haben", "nehmen" oder "besitzen", die eine Macht über Menschen oder Dinge ausdrücken. So "ging" beispielsweise eine Mutter mit ihrem Kind in den Schatten, ein Häuptling "stand" bei seinem Volk und ganz allgemein "lebten" die Menschen mit Gegenständen, anstatt sie zu "besitzen". ... (S. 36)
Dies zeigte sich, als euroamerikanische "Erzieher" Hopi-Kindern Wettkampfspiele beizubringen versuchten und es enorme Schwierigkeiten bereitete, die Kinder dazu zu bewegen, das Punkteverhältnis festzuhalten. Die Hopi-Sitte duldet, als für die Solidarität der Gemeinschaft schädlich, keine Rivalitäten und Selbstdarstellungen. (S. 54)

Allerdings können Sprache und kulturelle Ausdrucksformen auch praktizierte soziale Gestaltung sein und nicht nur Abgrenzungsritual, wie es im deutschsprachigen vorrangig scheint. Aus anderen Teilen der Welt lassen sich aus Gesellschaften, bei denen weniger Hierarchien angenommen werden, auch in Bezug auf Sprache und Symbolik Details beschreiben, die zeigen, dass die Praxis sozialer Zurichtung durchaus sehr anders aussehen kann.

Im Original: Kritik an A-Identitätsgehabe
Selbst in der Graswurzelrevolution, ein auf Eigenlabel und Abgrenzung orientiertes Magazin im gewaltfreien Spektrum, fand sich eine Kritik an der Orientierung auf Codes und Symbole der Abgrenzung
Aus Webin, Teodor: "Die militante Identität", in: Graswurzelrevolution 10/2007 (S. 18)
Die pubertäre Rebellion, die sich nicht nur gegen das Elternhaus, sondern auch gegen die spießige Gesellschaft richtete, ist verständlich. Anders aber als pubertierende Jugendliche ist die linke Subkultur nie erwachsen geworden.
Sie hat nicht gelernt, Verständnis oder Toleranz aufzubringen, für den Großteil der Gesellschaft, zu der sie doch gehört. Ein integratives Projekt, das Sozialismus als Alternative für alle nicht nur benannte, sondern auch lebte, hat sie nicht geschaffen. Sie beharrt darauf, ,anders' zu sein.
Selbst ihre fortschrittlichsten Projekte, Kommunen, Genossenschaften usw., waren reserviert für jene, die ihre (sub)kulturellen Codes verstanden, Die Linke war und ist - auch jene Teile, die sich als anarchistisch verstehen - exklusiv.
Spätestens deutlich wurde das mit den Autonomen der 1980er und frühen 1990er Jahre: Wer den kulturellen Code nicht voll und ganz erfüllte, war ,Spitzel' oder wenigstens ,Spießer'. Mir selber ist der Fall eines engagierten Alt-Autonomen bekannt, der, nach Berufsausbildung und entsprechend ,spießig' gekleidet, Anfang der 1990er Jahre aus einem Infoladen rausflog, weil dort keine ,Spitzel' erwünscht seien.
Man wollte unter sich bleiben, pflegte seine Subkultur und kultivierte den schwarzen Kapuzenpulli und ähnliche Codes. Dass die sogenannte soziale Frage in diesem Kulturkuddelmuddel restlos unterging, ist kein Wunder. Denn jene, die sich diese notwendig stellen wollten, waren jene, die den Codes kaum entsprachen, die Kultur nicht verstanden und sie sich manchmal einfach nicht.


Überall: Konsens- und Basisdemokratie als anarchistische Entscheidungsmodelle
Es ist also schnell erkennbar: AnarchistInnen neigen immer wieder zur Bildung identitärer Blöcke, Symboliken und Strukturen. Sie übertreffen mitunter marxistische und demokratische Gruppen in diesem Gehabe, obwohl diese das Kollektive (Arbeiterklasse/Proletariat bzw. Volk) sogar in ihrer Ideologie verankert haben. Die Faszination des "black block" auf Demonstrationen, die ständige Neigung zur Bildung einheitlicher Marschformationen, die Überbetonung des Militärischen in der Geschichte der Anarchie (Machno, Kolonne Durruti) und das stolze Herumtragen einheitlicher Fahnen zeigen eine Lust auf Gemeinschaft, in der die Einzelnen untergehen wie in der Konzeption von Klasse oder Volk. So zeigen sich AnarchistInnen als systemkompatibel zur Demokratie und anderen kollektivistischen Gesellschaftsmodelle. Nicht besser ergeht es den Menschen in der Binnenstruktur: Plena und Konsens dominieren über Vielfalt und horizontale Kooperation.

Es spricht einiges dafür, dass der Hang zu identitären Kollektiven und die dafür erforderlichen Mechanismen aus einer Schwäche folgt, die gerade Menschen mit emanzipatorischen Ideen, also auch anarchistische Menschen trifft. Ihnen ist nämlich überwiegend klar, dass die großen künstlichen Kollektive nichts anderes sind als Erfindungen und Ersatzorientierungen. Sie rauben dem Menschen seine Würde und seine Eigenartigkeit. Er ist zur Freiheit befähigt und hineingeboren in eine Welt, in der er den sozialen Zwangsbezügen entwachsen kann (siehe zur Natur des Menschen in "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen). Doch die "Furcht vor der Freiheit" (Erich Fromm) mündet immer wieder in die Sehnsucht nach Geborgenheit, die auch in klaren Rahmenbedingungen und Gruppengefügen bestehen kann.
Konsense sind solche Regeln. Sie bieten Halt und Orientierung. Was Konsens ist, ist unhinterfragbar, weil jeder Zweifel den Konsens beendet. Anders als bei anderen Regeln ist jeder Konsens ein Paradox, weil er bereits die Sichtweise integriert, dass mensch selbst den Konsens akzeptiert. Denn wäre es nicht so, wäre es ja kein Konsens. Konsens sagt aus, dass die mit dem Konsens konfrontierte Person selbst in diesen bereits integriert ist. Gerade deshalb bieten Konsense ein besonderes Gefühl von Geborgenheit.
Das Plenum dient als Projektionsfläche für ungeklärte Fragen. Statt sich selbst als hinausgeworfenes Wesen und Subjekt des Geschehens zu begreifen, können Unklarheiten verschoben und verdrängt werden. Mit "wird im nächsten Plenum besprochen" ist der Mensch raus aus der Rolle, es selbst zu klären. Zwar tut sich dann erstmal nichts, aber die Aussicht auf das gefühlt höhere Niveau des Plenums schafft das Gefühl, dass das eigene Nichthandeln in Ordnung ist. Auch das suggeriert Geborgenheit - in der Gemeinschaft der Alltagsgleichgültigen.
Zur Zeit neigen AnarchistInnen zu Formen der Entscheidungsfindung im Kollektiv. Die meisten neigen zu Plena und Konsens. KritikerInnen des Konsens sind selten und dann wiederum meist AnhängerInnen von Mehrheitsabstimmung in direkt-demokratischen Entscheidungsabläufen oder in Form gestufter Räte. Kaum jemand stellt die Frage: Warum überhaupt Entscheidungen aller für alle? Ist Anarchie nicht die Welt, in der viele Welten Platz haben? Das würde auch in den gesellschaftlichen Subräumen gelten: immer offen, vielfältig, bunt und als Kooperation bis Nebeneinander unterschiedlicher Ausrichtungen ohne Zwang zur Bildung von Einheit.

Im Original: Konsens schafft Kollektiv
Konsens = freie Vereinbarung? Kollektive Entscheidung muss sein ...
Aus einem Text über die Zapatistas in der Jugendzeitung "Utopia", Ausgabe Nr. 1 / Herbst 2007 (S. 4, Download über www.jugendzeitung.net)*
Entscheidungen werden im Konsens mittels der „freien Vereinbarung“ getroffen. ...
Kollektive Entscheidungen sind zwar notwendig, Menschen werden aber nie in der Lage sein, alle Entscheidungen zwecksrational zu treffen, weshalb es immer Meinungsverschiedenheiten geben wird.

*Hinweis: Die "Jugendzeitung" erschien damals in gleicher Machart, mit gleichen Positionen und gleichem V.i.S.d.P. wie die Graswurzelrevolution - und als deren Beilage.

Entscheidend sind die Entscheidungsregeln ... aber über die darf nur im Konsens entschieden werden!
Aus Stehn, Jan: "Anarchismus und Recht" in der sich als anarchistisch bezeichnenden GWR, Nr. 216, Februar 1997
Gegen eine naive Vorstellung vom Anarchismus, die meint, daß jede/r über alles mitentscheiden müsse, finde ich ausreichend, wenn die Entscheidungsregeln von allen Beteiligten getragen werden. Beispielsweise sind Mehrheitsentscheidungen keineswegs "unanarchistisch", solange ein Konsens darüber besteht, daß diese Entscheidungsregel für bestimmte Fragen angewendet werden soll. 


Im Original: Straßen aus Zucker - kein Text tanz aus der Reihe
Verlauf eines Emailwechsels mit der Redaktion - zunächst der Anfang, eine Anfrage per Mail am 3.11.2012
Hallo,
wie Euch vielleicht bekannt, laufen zur Zeit etliche Veranstaltungen und Seminare zum Thema "Freie Menschen in freien Vereinbarungen: Theorie der Herrschaftsfreiheit". Das Grundgerüst bildet eine sich fortentwickelnde Sammlung von Thesen zu vier Bereichen:
- Kritik der Demokratie
- Formen, in denen Herrschaft wirkt
- "Grundsätze", auf denen eine herrschaftsfreie Gesellschaft beruhen muss (das ist der Kern und umfangreichste Bereich)
- Thesen über den Weg zur Herrschaftsfreiheit
Das Ganze ist Theorieentwicklung, d.h. es geht nicht um Auswertung vorhandener Texte, neue Synopsen bestehender Theorien, sondern die Entwicklung neuer Gedanken (selbstverständlich in Kontext und in Auswertung des schon Bestehenden).
So - nun zur Frage: Hättet Ihr Lust, die in einer nächsten Ausgabe (oder auch zweigeteilt als Reihe) zu veröffentlichen?


Am Folgetag die Antwort:
das hört sich sehr nett an. Leider dürfte die SaZ als Publikationsort nicht klappen. Das kommt so: Wir diskutieren ja jeden Text im Kollektiv sehr lange, dh jede Person, die einen Text schreibt, muss auch zusagen die Ausgabe über im Kollektiv zu sein. Damit am Ende wirklich alle hinter dem Text stehen können.
Aber wenn die Texte fertig sind, könntest Du die ja einfach auf Eure Seite stellen und uns einen Link schicken. Und wir könnten die dann in Facebook bewerben, nachdem wir sie im Kollektiv diskutiert haben.
Oder aber an die Jungle oder so schicken?


Und erneute Nachfrage:
danke für die Antwort. Puhhhh ... ich muss aber gestehen, dass mich der Text ziemlich vom Hocker haut. Aber gut - ist Eure Entscheidung. Es übersteigt allerdings mein ohnehin vorhandenes Misstrauen gegen politische Gruppen. Welch eine Mischung aus basisdemokratischem Konsenskult, der Einheit statt Unterschiedlichkeit, Vielfalt und Debatte schafft, Facebook und Jungle - und selbst ein Link noch im Konsens? Welch ein selbstreferentieller Brei ...
Naja. Aber wie gesagt - ist Eure Entscheidung. Mein politisches Engagement sieht da ganz anders aus. Und Chancen, dass die Thesen zur Theorie der Herrschaftsfreiheit bei Euch "durchgehen", gibt es dann wohl nicht.
Euch alles Gute und Gruß aus der bunten Projektwerkstatt ohne Einheitsmeinung

Die Antwort:
echt, du findest debatte und argumente generell herrschaft. puh, da wollen wir dann wirklich was verschiedenes.

Und nochmal zurück:
Huch, was für ein Stil. Lesen hilft: Ich habe den Zwang, sich immer einigen zu müssen (also die Ausblendung von Untersciedlichkeit und allein die Darstellung des Konsensualen) als Herrschaft bezeichnet. Nicht Debatte und Argumente. Aber macht nichts - ich hatte nicht wirklich erwartet, dass meine Mail analysiert wird. Draufhalten ist einfacher. Schade drum ...

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