Anti-Zwangspsychiatrie

TEXTE UND GEDANKEN ZU OFFENEN RÄUMEN

Räume und Wissen öffnen, emanzipatorische Geografie machen


1. Räume und Wissen öffnen, emanzipatorische Geografie machen
2. HierarchNIE!-Projekt zum "Offenen Raum"
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Aus der Diplomarbeit von Timo Bartholl (PDF-Download), Kapitelangaben beziehen sich auf diese Arbeit

Ausschließlich offen?
Das propagierte Ende der großen Erzählungen (z.B. Marxismus, Anarchismus) oder Theorien (z.B. Dependenz- oder Modernisierungstheorie) ist nichts Neues. Kreieren wir dabei in unserer Negation dieser großen Erzählungen eine neue, noch größere Erzählung des Pluralismus? Vielfalt, die über allem anderen steht? Ob sie zu einem Relativismus führt, der selber dominant ist oder zu einer problematischen Beliebigkeit, es gibt viele Möglichkeiten die Erzählung des Pluralismus zu deuten. Und kann es jenseits dieser Perspektiven eine Andere geben? Eine Perspektive, die sowohl absolute als auch partikulare Erzählungen beinhaltet. Ich glaube, schon die Suche nach dieser einen Perspektive führt uns ins Absolute, ins Vereinheitlichende. Die „Bewegung der Bewegungen“ ist ein gutes Beispiel dafür. Wir sprechen von Vielfalt, aber dennoch wollen wir eine Einheit ausmachen (Um uns weniger schwach zu fühlen?) wie OSTERWEIL (2005: 248) dies der „Bewegung der Bewegungen“ und dem WSF unterstellt und sie als „radikal pluralistische Einheiten“ kategorisiert. Eine Auflösung dieses Widerspruchs, sich von Absolutheiten abwenden zu wollen und dabei neue zu schaffen, Vielfalt zu propagieren und Einheiten zu entwerfen, scheint schwierig. Offenheit in sich erscheint widersprüchlich: Alle Menschen, die Offenheit nicht für sinnvoll halten oder gerichtete bzw. geschlossene Prozesse bevorzugen, werden ausgeschlossen. Sie könnten teilnehmen, aber eben auch nur dann, wenn sie sich den Prinzipien der Offenheit unterwerfen wollen. Hierzu dient beim Weltsozialforenprozess die Charta der Prinzipien, in der deutlich steht, dass alle willkommen sind, sich zu beteiligen, die die Prinzipien der Charta akzeptieren. Ausschließliche Offenheit schließt aus. Vollkommene Offenheit scheint unmöglich. Und dennoch halte ich Offenheit jenseits ihrer Glorifizierung als neue Absolutheit für ein Leitmotiv, dass emanzipatorisches Potenzial birgt. Die Erfahrungen mit dem Konzept offener Räume bergen viele Impulse für den Umgang mit Offenheit in anderen Bereichen des Lebens.
Außerdem sind sie ein interessantes Phänomen, zu dessen Entwicklung und Verständnis eine geografische Perspektive sinnvolle Beiträge leisten kann. Ich möchte in diesem Kapitel auf Erfahrungen mit der Rolle des offenen Raumes als Konzept aufbauen um dann Offenheit auf Wissenschaft zu übertragen und sie letztlich wieder auf die Teildisziplin Geografie herunter zu brechen, indem ich die geöffneten Räume nutze und einen persönlichen Entwurf emanzipatorischen Geografie-Machens formuliere.

Offene Räume, offenes Wissen
In seiner Besprechung von HARVEYs Justice, Nature & the Geography of Difference deutet BELINA (2003: 64) einige der Kritiken an dieser Arbeit von einem postmodernen Standpunkt aus an. Er zitiert JONES der behauptet HARVEY „scheitere daran, befriedigend auf die ‚post’-Kritiken an seiner Position einzugehen“. Darauf kritisiert BELINA die Position von JONES, da „Jones selbst Konzepte benutzt, denen er eine sehr restriktive (also gar nicht offene) Bedeutung zumisst – nämlich genau das Gegenteil dessen, was er als „moderne“ Philosophie und Marxismus verstanden zu haben glaubt. Dieses Beispiel bringt BELINA dazu, einen grundlegenden Fehler dieser ganzen [postmodernen] Denkrichtung zu identifizieren: „Die Ablehnung von Dichotomien bedeutet das Aufmachen einer Dichotomie (zwischen Dichotomie/Nicht-Dichotomie), das Bestreiten der Möglichkeit wahrer Aussagen kommt als wahre Aussage daher, an die Stelle jeglicher Metatheorie tritt der Pluralismus theoretischer Ansätze als Metatheorie (BECKER 1996, 108), undogmatisch zu sein wird zum Dogma, etc.“ In einer Fußnote, um das Abweisen postmoderner Positionen zu unterstreichen, zitiert BELINA dann noch EAGLETON : „Bei aller Rede von Differenz, Pluralität und Heterogenität operiert die postmoderne Theorie mit ganz rigiden binären Oppositionen, wobei ‚Differenz’, ‚Pluralität’ und verwandte Begriffe brav auf der einen Seite des theoretischen Zauns als eindeutig positiv aufgereiht werden und die potentiellen Antithesen (Einheit, Identität, Totalität, Universalität) als Negativa auf der anderen Seite rangieren.“ (ebd.: 64).
Diese Überlegungen möchte ich nutzen, Wissenschaft (aus dem Blickwinkel des Konflikts der vermeintlich oppositonären Positionen modern/postmodern) in Verbindung mit Erfahrungen und Gedanken über offene(n) Räume(n) zu diskutieren. Das Problem, wie BELINA schlüssig kritisiert, ist, dass Universalitäten seitens postmoderner Denker/innen mit universellen Aussagen negiert werden. Dies ist gerade deshalb der Fall, weil alle sich am selben Spiel beteiligen, das da heißt, um das große Ganze zu streiten. Es geht fast immer um die Wissenschaft an sich, die Geografie solle so oder so sein usw.
So wie ich praktisch die teilweise Auflösung dieser Gegensätze erfahren habe und erfahre geht es beim AIJ/WSF-Prozess aber gerade darum, totalisierende Standpunkte nicht zu negieren und dadurch selber Totalität zu reproduzieren. Vielmehr ist es das Ziel, die Möglichkeit totalitärer, universeller Standpunkte überhaupt zu verhindern. Die Widersprüche, die BELINA anspricht sind nachvollziehbar. Und sie entstehen deshalb, weil hier vom postmodernen Standpunkt aus versucht wird, ein neues Spiel zu erfinden und durchzusetzen. Aber das ist zum Scheitern verurteilt, weil die Spielregeln des alten Spiels angewendet werden. Negation von etwas hat den Charakter von Reaktion (durch Abgrenzung, Definition des Eigenen über Negation des Anderen reagiere ich) und sie kann daher nur schwer außerhalb dessen stehen, worauf sie angewendet wird, wovon sie sich eigentlich distanzieren möchte. Es wird mit Ent weder-Oder-Kategorien gearbeitet, die ein Verlassen des Spielfeldes oder die Existenz beliebig vieler Spielfelder unmöglich machen. Und die spannende Frage ist, wie wir diesem Wechselspiel entkommen können. Mir bleibt folgende Möglichkeit: Ich denke und sage, dass ich für mich davon ausgehe, dass mir universell gültige Aussagen, Regeln, Gesetze und die Möglichkeit ihrer objektiven, universellen Darstellung/Reflektion/Diskussion nicht bekannt sind. Das heißt also die Kritik, die ich in dieser Arbeit an anderen Arten, Wissenschaft zu betreiben, äußere, entsteht nicht durch einen „Kampf um das Ganze“, es geht nicht um ein „Entwederoder“, sondern um „auch“ oder „zusätzlich“ bzw. stärker in eine andere Richtung weisend „stattdessen“. Ich setze mich für etwas anderes ein: Für eine Auffassung von Wissenschaft/Geografie, die offen ist und die Räume für eigene Wege offen hält. Ich vertrete einen normativen Standpunkt, an dem ich mich selber messe und den ich gegenüber mir selber vertrete und der sich immer wieder verändert. Gegenüber Anderen beziehe ich aber keine normative Stellung. Es besteht die Möglichkeit freien Austauschs: Was jemand von mir übernehmen möchte, wo ich mit jemandem übereinstimme, usw. entscheidet sich über freie Assoziation zwischen denkenden Menschen. Das schließt totalitäre Standpunkte nicht aus, ich entscheide aber für mich, mich ihnen zu entziehen, ohne dass ich logisch schlüssig gegen sie argumentieren kann oder ihnen vehement, also absolut widerspreche. Denn sie sind nichts weiter als Standpunkte anderer Menschen, die diese aus ihrer Sicht, durch ihre Erfahrungen entwickelt haben. Zu diesem freien Austausch gehört aber auch, dass ich mich zur Wehr setze, wenn meine Freiheit und Offenheit eingeschränkt wird, indem mir z.B. Regeln gemacht werden, von denen suggeriert wird, dass ich sie befolgen müsse (z.B. in der Wissenschaft). Und ich setze mich gemeinsam mit anderen zur Wehr, wenn ich merke, dass die Freiheit und Offenheit anderer ebenso eingeschränkt wird.

Wenn ich mein Geografie-Machen betreibe, dann stehe ich nicht in direkter Konkurrenz zu anderen, ich streite nicht um eine absolute Richtigkeit, ich versuche nicht in erster Linie, aufgrund von Beweisen andere davon zu überzeugen, dass meine Sichtweise die bessere oder gar beste ist. In ihrem Aufsatz zu Spaces of Politics beschreibt MASSEY (2003) ihre Vorstellung von der Offenheit bezüglich Raum und Politik (siehe Kap. 13). ARNOLD (2004: 101) kritisiert in einer Rezension dazu MASSEYs Auffassung von Offenheit: „Masseys Konzeption endet schließlich im vollen Zynismus. Es gibt keine universalen politischen bzw. räumlichen Regeln. Für mich heißt das schlicht: Sie bestreitet die weltweite Geltung der Menschenrechte.“
Dieses Gegenargument verleitet intuitiv zu mehreren Reaktionen: 1) Was sind die Menschenrechte und wer legt sie fest? 2) Falls sie gelten, wie viele Menschen können nicht auf sie zählen, soll heißen leben trotz ihrer Existenz unterdrückt, würdelos, in Hunger usw. 3) Welchen Unterschied macht es also, ob es universale Rechte, Regeln, Gesetze usw. gibt, wenn deren Einhaltung Machtmechanismen und Eigeninteressen von machtvollen Menschen im Wege stehen?
Offenheit muss eben nicht zu Beliebigkeit führen oder zu politischer Irrelevanz, wenn sie darauf basiert, dass die Möglichkeit eines jeden Einzelnen besteht frei zu agieren. Solange das nicht der Fall ist und Menschen unter Macht und Unterdrückung leiden, gibt es soziale Kämpfe, gleich der Frage, ob sich die „Kämpfenden“ auf universale Rechte, Regeln, Gesetze usw. berufen (können) oder nicht. Die „Gefahren eines Hyperrelativismus und einer allzu sorglosen anything-goes -Philosophie zu vermeiden, die häufig mit einer so radikalen erkenntnistheoretischen Offenheit einhergehen, bedarf es einer ambitionierten intellektuellen und politischen Positionierung. (SOJA 2003: 279)“.
Hier versteckt sich wiederum der Gegensatz von Theorie und Praxis. Es wirkt so, als würde akzeptiert, dass (politisch) Theoretisieren und (politisch) aktiv sein zweierlei Dinge sind, die nicht miteinander vereinbar wären. Oder noch deutlicher: Damit konsequent in Frage stellendes (also postmodernes) Theoretisieren möglich ist, müssten wir von unseren theoretischen Positionen Abstand nehmen um (politisch) handlungsfähig zu bleiben. DUNCAN (1996: 451) schreibt dazu: “They [STROHMEYER & HANNAH] acknowledge quite sensibly that political activity continues regardless of the angst of intellectuals grappling with the problems of philosophy.”SAYER schlage sogar vor, so DUNCAN, zwischen „diurnal and nocturnal philosophy“ zu unterscheiden, in dem Sinne, dass das, was zu später Stunde „wissenschaftlich” erdacht, tagsüber relativiert oder gar über den Haufen geworfen werde, um am politischen Alltag aktiv teilnehmen zu können.
Die Ausführungen zu Ansätzen der Aktionsforschung im zweiten Abschnitt dieser Arbeit machten deutlich, dass zur Überwindung dieser Grenzen Wege zu finden sind. Wenn wir Teil eines sozialen Prozesses sind und ihn aus diesem Interesse heraus als Akteur untersuchen, können wir Räume für die Verschmelzung von Praxis und Theorie öffnen.

Offene Geografien, emanzipatorisches Handeln: Ein persönlicher Entwurf
Carlos WALTER, so CAMPOS (2001: 28), betrachtete Geografie nicht als einen Diskurs sondern für ihn war sie eine Perspektive sozialer Praxis. Diesen Ansatz möchte ich hier im Sinne eines Geografie-Machens als persönliche soziale Praxis aufgreifen. In der Geografie werden Forderungen und Formulierungen sowie theoretische Ausarbeitungen immer an die Geografie „als solche“ gerichtet. Ehrgeizige Bücher, wie von Milton SANTOS (2002), in dem er „für eine neue Geografie“ kämpft, verdeutlichen dies. Die Art Geografie zu machen in dieser Arbeit, ist in erster Linie persönlich.
Allgemein denke ich, dass emanzipatorisch motivierte Wissenschaft als Teil gesellschaftsverändernder Prozesse natürlich interdisziplinär zu verstehen ist bzw. dass die Abgrenzungen zwischen einzelnen Disziplinen ohnehin ihre Bedeutung verlieren je mehr wir uns sozialen Prozessen nähern und universitätsinternes Gerangel um Abgrenzungen, Zuständigkeitsbereiche und Disziplingrenzen hinter uns lassen. Solche Grenzen verschwimmen im Moment ihrer Annäherung an praktische Umsetzung bis hin zur völligen Bedeutungslosigkeit. Es geht also darum in der Geografie nach Wegen zu suchen, um sie in der sozialen Praxis fruchtbar zu machen und nicht darum nach Argumenten zu suchen, weshalb Geografie als eigenständige Disziplin so wichtig ist.
Ich möchte mich nicht an gesellschaftsverändernden Prozessen beteiligen, weil ich sie als Geograf interessant finde, sondern ich möchte Geografie machen, weil sie bei den Prozessen, an denen ich mich beteilige, nützlich ist. Aus systemkritischer Perspektive ist das selbstreflexive Ziel eines solchen emanzipatorischen Geografie-Machens, die systemimmanenten Wurzeln der Geografie zu erkennen und zu thematisieren. Durch permanentes Überprüfen existenten geografischen Wissens wird es möglich, die im emanzipatorischen Sinne brauchbaren Ansätze und Informationen herauszufiltern und zu nutzen.
Ein emanzipatorisches Geografie-Machen bedeutet für mich, dass es vor Ort stattfindet. Aus einer Geografie über Orte und einer „Wir hier - Ihr dort“ – Perspektive (wie etwa in der Entwicklungsländerforschung bzw. -zusammenarbeit) wird eine Geografie vor Ort, an jedem Ort.
Orte, die wir bewohnen, die wir beleben, mit denen wir uns identifizieren. Durch die Anwendung aktionsorientierter Methoden ist eine Möglichkeit gegeben den Gegensatz Theorie-Praxis zu überwinden. Dieser ist geprägt von Abgrenzungen, die gesellschaftliche Dominanzverhältnisse und elitäre Strukturen reproduzieren. Geografien über Menschen möchte ich durch Geografien für und mit Menschen erweitern. Emanzipatorisch motiviertes Betreiben von Wissenschaft ist nicht auf institutionelle/ universitäre Strukturen beschränkt. Im Gegenteil: Im Zuge zunehmender Ausrichtung der Universitäten und ihrer Lehr- und Forschungsinhalte auf primär ökonomische Interessen, bieten eigenständige Initiativen wichtige Möglichkeiten andersartigen Zielen nachzugehen.

Beispiele der Umsetzung gibt es viele: Arbeits-/Lesekreise, freie Universitäten, staatlich unabhängige Institute, Kooperation in (interdisziplinären, internationalen) Netzwerken, Erstellen und Pflegen von Internetseiten, Kurse, Workshops gerade auch für Nicht-Student/innen, eigene Schulbildung, Teilnahme und Unterstützung verschiedener Formen des Widerstands und des Aufbaus von Alternativen.
An der Produktion von Räumen, die Menschlichkeit und Widerstand ermöglichen, können wir uns durch emanzipatorisches Geografie-Machen aktiv beteiligen.

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