Theoriedebatte

ANARCHIE UND DEMOKRATIE
DIE GLEICHSETZUNG DES UNVEREINBAREN

Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie


1. Einleitung
2. Siebenmal: Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar!
3. Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie
4. Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie
5. Positiver Bezug auf das Volk
6. Demokratie als Entscheidungsform in der Anarchie?
7. Kritik der Demokratiebefürwortung
8. Übergänge?
9. Links und Materialien

Nun ist es nicht so, dass alle AnarchistInnen vergessen hätten, woran sie bei der Demokratie sind. Schon in alten, aber auch in neueren Texten werden Abstimmungen und der demokratisch legitimierte Staat angegriffen.

Im Original: Kritik an demokratischer Gesellschaftsstruktur
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (S. 25 f., mehr Auszüge)
Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie, oder, um dieser verneinenden Erklärung die bejahende Form zu geben: der Anarchismus kämpft anstatt für irgendeine Form der Macht für die gesellschaftlich organisierte Selbstverfügung und Selbstentschließung der Menschen. Unter Macht ist jede Inanspruchnahme oder Einräumung von Hoheitsbefugnissen zu verstehen, durch die die Menschen in regierende und regierte Gruppen getrennt werden. Hierbei spielt die Regierungsform nicht die geringste Rolle. Monarchie, Demokratie, Diktatur stellen als Staatsarten nur verschiedene Möglichkeiten im Verfahren der zentralistischen Menschenbeherrschung dar. Wenn die Demokratie sich darauf beruft, daß sie dem Volksganzen die Beteiligung an der öffentlichen Verwaltung mit gleichem Stimmrecht für alle gewährt, so ist daran zu erinnern, daß gleiches Stimmrecht nichts mit gleichem Recht zu tun hat und daß die Aussonderung von Abgeordneten eben die Beteiligung der Aussondernden an der Verwaltung verhindert und ihre Vertretung durch einander ablösende Machthaber bedeutet. ...
Die Macht des Staates ist aber gefährlicher als jede andere Macht, weil sie mit dem Anspruch auftritt, Ausdruck des allgemeinen Willens zu sein und die von ihr der Arbeit abgenommenen Reichtümer dem allgemeinen Nutzen zuzuführen. In Wahrheit dienen diese Reichtümer ausschließlich der Erhaltung des Staates selbst, das heißt der Macht der Obrigkeit, die die Ohnmacht der Regierten braucht.


Aus Fromm, Erich (1985): "Über den Ungehorsam", dtv München
Die Funktionen des zentralisierten Staates müssen auf ein Minimum reduziert werden; der zentrale Mechanismus des Gesellschaftslebens muß die freiwillige Tätigkeit aktiv zusammenarbeitender Bürger sein. ... (S. 90)
Aber widersprüchlich ... Bedürfnisse der Gesellschaft, nicht der Menschen:
Die Autonomie eines Unternehmens wird durch die zentrale Planung soweit eingeschränkt, als sich die Produktion an den Bedürfnissen der Gesellschaft zu orientieren hat.
(S. 92)

Aus Bakunin, Michail: "Marxismus - Freiheit - Staat"
Jeder Staat muß, auf die Gefahr des eigenen Untergangs, des Geschlucktwerdens von Nachbarstaaten hin, nach absoluter Macht streben, und wenn er mächtig geworden ist, muß er sich auf die Karriere der Eroberers einlassen, damit er nicht selbst erobert wird; denn zwei ähnlich starke, aber einander fremde Mächte könnten nicht koexistieren, ohne den Versuch zu unternehmen, einander zu zerstören. Wer immer Eroberung sagt, sagt eroberte Völker, Sklaverei und Unterdrückung, wie immer im speziellen Fall ihre Form und ihr Name aussehen mögen.
Es liegt in der Natur des Staates, die Solidarität der menschlichen Rasse zu brechen und sozusagen die Menschlichkeit zu leugnen. Der Staat kann sich nicht in seiner Integrität und vollen Stärke bewahren, wenn er sich nicht wenigstens für seine eigenen Untertanen als oberstes und absolutes Seinsziel hinstellt, da er sich schon nicht bei den Bürgern anderer, von ihm nicht eroberter Staaten, als solches geltend machen kann. Aus der damit zusammenhängenden Geburt der Staatsmoral und der Staatsräson resultiert unvermeidlich ein Bruch mit der menschlichen, als universal angesehenen Moral und mit der universalen Vernunft. Das Prinzip der politischen oder Staatsmoral ist sehr einfach. Da der Staat sein eigenes oberstes Ziel darstellt, ist alles, was der Entwicklung seiner Macht günstig ist, gut; alles, was dieser Entwicklung entgegensteht, selbst wenn es die humanste Angelegenheit der Welt wäre, ist schlecht. Diese Art Moral nennt man Patriotismus. Die Internationale ist die Negation des Patriotismus und folglich des Staates. Wenn Marx und seine Freunde von der Deutschen Sozialdemokratischen Partei Erfolg haben sollten bei der Einführung des Staatsprinzips in unser Programm, so würden sie dadurch die Internationale vernichten. ...
Außerdem ist der Staat ähnlich wie die Kirche schon von Natur aus ein großer Opferer lebendiger Wesen. Er ist ein Willkürwesen, in dessen Herzen alle positiven, lebendigen, individuellen und lokalen Interessen der Bevölkerung sich begegnen, zusammenstoßen, einander wechselseitig zerstören und absorbiert werden in jener Abstraktion, die man das Allgemeininteresse, das Allgemeinwohl, die allgemeine Sicherheit zu nennen pflegt, und wo alle realen Einzelwillen einander aufheben in jener anderen Abstraktion, die den Namen Wille des Volkes trägt. Daraus folgt, daß dieser sog. Wille des Volkes niemals etwas anderes ist als die Opferung und die Negation aller realen Einzelwillen der Bevölkerung; gerade so wie das sogenannte Allgemeinwohl nichts anderes ist als die Opferung ihrer Interessen. Aber damit diese alles verschlingende Abstraktion sich Millionen von Menschen aufzwingen konnte, mußte sie von irgendeinem wirklichen Wesen, irgendeiner lebendigen Kraft getragen und repräsentiert werden. Nun, dieses Wesen, diese Kraft hat immer existiert. In der Kirche ist es die Geistlichkeit und im Staat – die herrschende Klasse.

Aus Bakunin, Michail: "Sozialismus und Freiheit"
Es ist offensichtlich, daß die Menschheit erst, wenn der Staat aufgehört hat zu bestehen, ihre Freiheit erlangen wird, und die wahren Interessen der Gesellschaft und aller Gruppen, aller lokalen Organisationen und aller Individuen, die diese Organisationen konstituieren, werden erst dann ihre wahre Befriedigung finden.

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 96)
Das "gesellschafts"-politische Ideal hieße nicht mehr "Demokratie" (Herrschaft des Volkes), sondern individuelle Selbstbestimmung und kooperative Selbstverwaltung. In diesem Sinne erhielte der auch häufig ideologisch mißbrauchte Ausspruch von der Demokratie als beste aller schlechten Staatsformen einen emanzipatorischen Inhalt.

Ebenso finden sich Forderungen und Vorschläge, dass eine Weiterentwicklung des Demokratischen nötig und möglich ist - sogar in Büchern, die im deutschsprachigen Raum für AnarchistInnen zu den vielgelesenen Werken gehören.

Im Original: Weiterentwicklung zur Akratie
Stowasser, Horst (2007): "Anarchie!", Nautilus in Hamburg (S. 492 f.)
Früher herrschte ein Einzelner im Namen einer Idee, die sich auf einen Einzelnen berief. Der "einzige Herrscher", der Monarch, betrieb als Vasall, Herzog oder König sein Verwaltungsgeschäft im Namen des "einzigen Gottes". Die uneingeschränkte Herrschaft eines Einzelnen nennen wir "Autokratie". Sie brachte Fremdverwaltung hervor.
Heute herrschen viele im Namen einer Idee, die sich auf das ganze Volk beruft. Die "vielen Herrscher", Polyarchen, betreiben als Abgeordnete, Minister, Regierungschefs ihr Verwaltungsgeschäft im Namen der Gesamtheit der "mündigen Wahlbürger". Die eingeschränkte Herrschaft vieler im Namen aller nennen wir "Demokratie". Sie bringt eine Stellvertreterverwaltung hervor.
Gemäß der anarchistischen Idee, die heute noch im Rang einer Utopie steht, herrscht morgen jeder über sich selbst oder, was dasselbe ist, niemand mehr über andere. Die Gesamtheit nicht-herrschender Menschen, Anarchen, betreiben als autonome Individuen ihre Verwaltungsgeschäfte in dezentralen Strukturen im Namen ihrer selbst. Herrschaft wird durch Selbstorganisation ersetzt, einen Zustand, den wir "Akratie" nennen. Sie würde Selbstverwaltung hervorbringen.
Somit wäre ein gesellschaftlicher Zustand der Akratie mit der Organisationsstruktur Selbstverwaltung der für die Partizipation aller Menschen am weitesten fortgeschrittene Entwicklungszustand.


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