Theoriedebatte

LIBERTÄR ODER LIBERAL? WENN DIE MARKTWIRTSCHAFT ZUM ANARCHISTISCHEN IDEAL WIRD ...

Markt oder Staat - die falsche Frage


1. Einleitung
2. Markt oder Staat - die falsche Frage
3. Einzelfragen
4. Die Schnittstellen zu Marktwirtschaft und Bürgerlichkeit
5. Parecon - krude Wirtschaftstheorie aus anarchistischen Kreisen
6. Alternativökonomie
7. Kritik
8. Links und Materialien

In den seit 1999 neu entfachten Debatten um die Verteilung wirtschaftlicher Macht und gesellschaftlichen Reichtums dominiert der Streit um die Machtbalance zwischen den Konzernen im sogenannten freien Marktgeschehen und des Staates als Regulator und Steuerer. Aus emanzipatorischer Sicht müsste diese Frage hingegen vernachlässigbar sein, denn weder Konzernleitungen noch Regierungen bieten Schutz, gleichberechtigten Ressourcenzugang und eine Mitsprache für die Menschen selbst. Der immer wieder beschworenen VerbraucherInnenmacht fehlt ebenso wie irgendwelche Wahlen der Einfluss, der ihnen propagandistisch zugesprochen wird. Eine anarchistische Theorie müsste also beiden, Staat und Konzernen, den Fehdehandschuh hinwerfen und für eine Machtverlagerung hin zu den Menschen und ihren freien Zusammenschlüssen streiten.
Das geschieht auch, aber sehr, sehr selten. Eine Ausnahme war die Aneignung einer Fahrradfabrik und Produktion des "strike bike". Viel häufiger rufen auch AnarchistInnen, sichtbar mangels eigener Vorschläge und mangels brauchbarer Herrschaftsanalyse, nach mehr Demokratie (oft praktisch gleichbedeutend mit mehr Staat) oder ähneln - trotz gefühlt und verbal in Widerspruch stehend - den LiberalisiererInnen der Wirtschaft.

Etliche AnarchistInnen ticken anders. Sie vertrauen ausgerechnet den zentralen Bausteinen des Kapitalismus. Ähnlich wie bei der demokratischen Kontrolle zeigt sich ein naives Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge. Die Wirkungen von Geld, marktförmigem Handeln oder Eigentum werden nicht auf ihre herrschaftsförmigen Wirkungen untersucht, sondern als Mittel betrachtet, die ohne weiteres auch dem Guten dienen können. Banken, Kreditwesen, Wertlogik - für anarchistische Utopien kein Problem?

Im Original: Anarchie und Marktwirtschaft
Wirtschaftstätigkeit und Geld überall
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
Beachtlich ist, dass diese Vereinigungen sich ausschließlich durch Engagement, von Mitgliedsbeiträgen und Spenden oder durch den Verkauf von Leistungen tragen. ... (S. 9)
Doch in Manjana gibt es zahlreiche Vereine, die alten Menschen und Behinderten eine Rente und Familien ein Kindergeld, weit höher als bei uns, auszahlen. ... Sozialer Ausgleich und ein freies Bildungswesen gehören zu dem Versprechen, das sich die Sozialen AnarchistInnen gegeben haben. Dieses Engagement wurzelt in der Überzeugung, dass Freiheit ohne Solidarität stirbt. Ohne sozialen Ausgleich wächst die Ungleichheit und aus Ungleichheit entstehen Macht und Herrschaft. ...
(S. 10)

Pro Marktwirtschaft, selbst im Detail (z.B. Zinsen)
Aus Stehn, Jan (1997): "Manjana. Ideen für eine anarchistische Gesellschaft"
... auch dort mit Geld gewirtschaftet wird und die Marktwirtschaft in hohem Ansehen steht. ... Nach Überzeugung der Sozialen AnarchistInnen ist die Marktwirtschaft d a s anarchistische Wirtschaftssystem ... Die Marktwirtschaft reguliert sich selbst über freie Vereinbarungen und freien Austausch. ... (S. 12)
Die Sozialen AnarchistInnen lobten mir nicht nur das Geld, sie lehnen auch Konkurrenz, Gewinne und Gewinnstreben nicht ab. ... "Wenn Betriebe überdurchschnittliche Gewinne machen, dann fördern wir die Konkurrenz." ...
Anarchismus verlangt auch in wirtschaftlichen Dingen, verantwortlich für das eigene Tun zu sein. ...
(S. 13)


Demokratische Kontrolle der Wirtschaft
So wie unter AnarchistInnen die Demokratie und insbesondere ihre basisdemokratische Ausprägung viel Unterstützung haben, so ist auch die Hoffnung weit verbreitet, dass in der Wirtschaft alles gut wird, wenn sie demokratisch kontrolliert wird - also die Gesamtheit der beteiligten Menschen die Entscheidungen trifft. Diese aus radikaldemokratischen Kreisen entlehnte Theorie übersieht jedoch, dass immer dann, wenn die Gesamtheit herrscht, die Vielfalt und das Individuum im Gesamten untergehen. Gut erkennbar ist schon an den Vorschlägen selbst: Kontrolle, ob demokratisch oder anders, braucht Kontrollinstanzen.

Im Original: Anarch@s pro demokratischen Kapitalismus
Wirtschaftstätigkeit und Geld überall
Aus dem "Entwurf" für ein Positionspapier zur Energieversorgung mit Strom und Wärme
erstellt durch die AG „Autonomie braucht Energie“ der FAU-Hannover
Präambel
Die FAU hat nicht nur eine Utopie, wie eine zukünftige Gesellschaft jenseits des Kapitalismus auf Basis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität geschaffen werden kann. Auch für die Gegenwart haben wir Visionen mit denen drängende Probleme gelöst werden können. Entsprechend unseren Ideen und Analysen beinhalten unsere Lösungen sowohl Schritte, die wir als Einzelne gehen müssen, als auch politische Forderungen, die nur durch gemeinsames Handeln mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Personen durchgesetzt werden können. ...

Dezentrale Erzeugung
Gerade im für die demokratische Kontrolle und die Unabhängigkeit von zentraler Erzeugung wichtige dezentrale Stromversorgung gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die bisher noch nicht ausgeschöpft sind. ...
Damit die Erzeugung und Nutzung von Energie wieder demokratischer Kontrolle unterliegt und den Bedürfnissen der VerbraucherInnen und nicht der Profitinteressen unterliegt sind drastische Schritte notwendig. Die Stromerzeugung muss rekommunalisiert werden und die großen Stromkonzerne müssen enteignet werden. Um eine bessere Kontrolle zu erreichen muss als bereits bestehende Form der Organisation, die Genossenschaft gewählt werden. Hier können KonsumentInnen (z.B. End-NutzerInnen der Energie) und ProduzentInnen (z.B. Jene, die Energieversorgung in Form der Anlagen installieren und warten) auf gleichberechtigter Ebene (eine Person - eine Stimme, unabhängig von eventuell geleisteten Einlagen und Arbeit) miteinander in Kontakt stehen. Somit kann auch die Abhängigkeit von kommunalen Politik-Interessen in Form von Parteien oder regionalen Investoren entgegen gewirkt werden. ...


Aus Albert, Michael (2006), "Parecon", Trotzdem Verlag Grafenau
Global soll Gerechtigkeit herrschen statt Armut, Solidarität statt Habgier, Vielfalt statt Konformismus, Demokratie statt Unterordnung, Nachhaltigkeit statt Raubtierverhalten. (S. 8)
So könnte man sie durch eine internationale Kapitalbehörde, eine globale Investitionsunterstützungsbehörde und eine globale Handelsbehörde ersetzen, deren Auftrag es wäre, im Bereich der internationalen Kapital-, Handels- und Kulturbeziehungen für Gerechtigkeit, Solidarität, Vielfalt, Selbstbestimmung und Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts zu sorgen. Sie sollten auch anstreben, die Investitions- und Handelsvorteile vorrangig den schwächeren und ärmeren Partnern zukommen zu lassen statt den stärkeren und reicheren. Sie sollten die Rücksicht auf nationale Ziele, kulturelle Identität und gerechte Entwicklung über die kommerziellen Interessen stellen. Sie sollten sich für die Bewahrung der nationalen Schutzgesetze und -regelungen auf den Gebieten Arbeitswelt, Verbraucher, Umwelt, Gesundheitswesen, Sicherheit, Menschenrechte, Tierrechte und anderer gemeinnütziger Anliegen einsetzen und die Länder belohnen, die in dieser Hinsicht die größten Erfolge aufzuweisen haben. Sie sollten schließlich zur Förderung des demokratischen Gedankens beitragen, indem sie demokratisch kontrollierten Regierungen mehr Entscheidungsspielräume verschaffen und - zu Gunsten des Überlebens, Blühens und Wachsens der kleineren Einheiten - die Forderungen der transnationalen Konzerne und der Wirtschaftsmächte im Zaum halten. ... (S. 11 f.)
Unsere Vision einer den Menschen und der Demokratie verpflichteten internationalen Wirtschaftsordnung konkretisierte sich zunächst in den drei vorgeschlagenen neuen Weltbehörden. (S. 14)



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