Theoriedebatte

ORGANISIERUNG OHNE DEMOKRATIE, KOLLEKTIV-IDENTITÄTEN, HIERARCHIEN UND FLAGGEN

Grundsätze herrschaftsfreier Organisierung


1. Grundsätze herrschaftsfreier Organisierung
2. Emanzipatorische Organisierung praktisch
3. (Keine) Entscheidungsfindung in der Praxis
4. Anarchie - bitte ohne Label und kollektive Identitäten
5. Zusammenschau: Organisierung von unten

Der folgende Text ist ein Abschnitt im Kapitel zu Perspektiven des Anarchismus (Gliederung des Gesamtwerkes)

Die Frage nach dem Abbau von Hierarchien, der Förderung von Kreativität, Selbstentfaltung und gleichberichtigtem Zugang zu allen gemeinsamen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten gilt für alle: Betriebe, Gruppen, Teilnehmende bei Aktionen, Projekte und Experimente. Die Binnenstruktur ist selbst gesellschaftlicher Subraum und damit potentieller Ort der Verwirklichung anarchistischer Idee. Genau deshalb, weil Emanzipation kein Versprechen nur für begrenzte Teile des Lebens darstellt, ist es wichtig, auch in jeder Binnenstruktur um die Idee freier Menschen in freien Vereinbarungen zu ringen.
Nicht das Dogma, dass die Mittel dem Zweck entsprechen müssen, bildet den ideellen Kern emanzipatorischer Organisierung, sondern die Überzeugung, dass die gesamte Gesellschaft einschließlich ihrer Subräume Tätigkeitsfeld von Befreiung und Selbstentfaltung sein sollen. Warum sollen ausgerechnet die eigenen Strukturen, in denen die Veränderungsmöglichkeit und damit die Chance zur Veränderung so nahe liegt, von diesem Ziel ausgenommen werden?

Auf der Suche nach Halt
Colin Ward, Anarchismus als Organisationstheorie (Quelle)
Der Mensch ist von Kindheiten auf die Vorstellung hin erzogen worden, daß er eine Autorität außerhalb seiner selbst zu akzeptieren hat - Mutter sagt, Vater sagt, der Lehrer sagt, die Kirche sagt, der Chef sagt, der Ministerpräsident sagt, die Experten sagen, der Erzbischof sagt, Gott sagt -; er hat so ausgiebig die Stimme der Autorität vernommen, daß er sich keine Alternative mehr vorstellen kann. Die Gesellschaft muß organisiert sein, sagt er, wie soll das ohne Autorität geschehen? Denn ohne Autorität hätten wir doch Anarchie!

Kein Gott, kein Staat, keine höhere Moral, keine Gesetze und keine Regeln - in einer solchen Welt wäre der Mensch auf sich und die von ihm selbst organisierten oder mitgetragenen Vereinbarungen angewiesen. Es gäbe keinen künstlichen, äußeren Halt mehr. Der Mensch wäre hinausgeworfen in die Welt, stände auf sich und auf die von ihm aktiv (mit) organisierten und aufgebauten Kooperationen, Orte der Kommunikation und der sozialen Interaktion. Die heutige Welt ist davon weit entfernt. Die Kanäle des Lebens sind vorgegeben, Kooperation entsteht nicht auf freier Vereinbarung, sondern innerhalb festgesetzter Regeln und Rahmenbedingungen für Begegnung in sozialen Klassen und Seilschaften.

Anarchie beginnt mit der Akzeptanz des Losgelöstsein. Menschen sind hinausgeworfen in die Welt. Sie ordnen sich nicht von Natur aus in spezifische Gruppenstrukturen wie beispielsweise Herden oder Schwärme ein. Vielmehr lösen sie sich Zug und Zug aus den am Lebensanfang intensiven Bindungen und organisieren sich dann ihr soziales Umfeld selbst - wenn mensch sie lässt. Kooperation und Selbstentfaltung sind dabei ein- und derselbe Prozess, weil jede freie Zusammenarbeit und Vereinbarung auf dem Willen basiert, sich selbst im Leben zu entwickeln und die Handlungsmöglichkeiten auszudehnen.

Anarchistische Organisierung darf keine Ersatz-Geborgenheit bieten, also die Menschen nicht in fremde Orientierungen, Identifikationscodes oder feste Moralvorstellungen führen. Sonst wird sie zum Teil der Maschinerie von Einsortierung in vorgegebene Schablonen, die unsere Gesellschaft zur Zeit weitgehend prägt. Täte sie das, würde sie nicht befreien, sondern Bevormundung und Unselbständigkeit erträglicher gestalten - also genau das Programm bieten, was in den modernen Gesellschaften abläuft: Freiheit als Schein unter einem Berg von Abhängigkeiten und Entzug der Fähigkeit zur Selbstentfaltung.

Immer zeitlich beschränkt
Nichts ist Selbstzweck. Nur die Menschen selbst und ihre freien Zusammenschlüsse sind die AkteurInnen in einer anarchistischen Welt. Daher kann es auch nichts geben außer den Menschen. Nichts existiert ohne die stets neue Legitimation durch den Willen der Beteiligten. Organisatorischer Überbau erledigt sich, wenn der Wille der Menschen, die ihn geschaffen haben, erlahmt oder der Zweck erfüllt ist. Kein Zusammenschluss existiert als Selbstzweck. Wann er beginnt und wann er endet, bestimmen die Beteiligten. Ein jeder Zusammenschluss ist beendet, wenn niemand mehr da ist, der ihn aufrechterhält.
Da kein Zusammenschluss als eigene Persönlichkeit auftritt (so wie heute Vereine, Firmen, Parteien, Staaten usw.), lebt alles aus der Beteiligung der Menschen - und ist zuende, wenn es diese nicht mehr gibt.

Im Original: Organisation und Selbstzweck
Aus Colin Ward, Anarchismus als Organisationstheorie (Quelle: Graswurzelrevolution # 216, Februar 1997)
Organisationen neigen dazu, auch dann weiterzubestehen, wenn sie gar keine Funktion mehr haben oder ihre früheren Funktionen überlebt haben. Zeitlich begrenzt sollen sie eben deshalb sein, weil die permanente Existenz einer der Faktoren ist, die die Arterien einer Organisation verkalken läßt, indem sie das Interesse am eigenen Überleben und damit die Tendenz fest begründet, eher den Interessen der Funktionäre als der Ausübung der scheinbaren Funktionen zu dienen.

Aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 91)
Anarchismus ist die Haltung der permanenten Erzeugung, Um- und Neuschaffung der (sozialen) Welt. Die Ethik als das wesentliche Gebiet des Anarchismus macht die Welt zum Charakter- und Willensproblem".

Aus Ilija Trojanow, "Freiheit, Skepsis, Totenkopf" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 7)
An diesen Definitionen ist erkennbar, dass Anarchie nicht der Endzustand einer historisch folgerichtigen Entwicklung ist, keine anzustrebende statische Form von Gesellschaft, sondem sich allein als permanentes Werden verwirklichen kann. Die häufig geäußerte Kritik an seiner ideologischen Unschärfe und amorphen theoretischen Gestalt übersieht, dass sich der Anarchismus niemals zu einem festen System fügen kann, weil es innerhalb eines starren Systems keine wirkliche Befreiung des Denkens geben kann.

Offene Systeme
Anarchie ist Unbestimmtheit: Ich gehe in einen sozialen Raum und habe keine Sicherheit. Ich weiß das. Es ist anders als in den heute dominierenden (basis-)demokratischen Systemen, wo Polizei oder Konsense eine Geborgenheit vorgaukeln und eine Orientierung verordnen. Ich weiß nicht, was geschieht, aber ich bin vorbereitet - und viele andere auch. Statt sich auf kollektive Entscheidungen oder Gesamtheiten zu verlassen, sind die Menschen selbst die AkteurInnen, die aus der Situation heraus entscheiden und agieren. Ich bin aufmerksam, die anderen auch. Weil die Gewißheit fehlt und das auch klar ist.
Es gibt keine Sicherheit vor SexistInnen oder RassistInnen, vor Gewalt oder Unterwerfung anderer Art. Die gibt es nie. In einem anarchischen Raum weiß ich das. Antiterrorgesetze oder Plenumsbeschlüsse können auch nicht vor Übergriffen schützen - nur oft glauben das viele. Das schafft die Möglichkeit, sich hinter ihnen zu verstecken und dann als AkteurIn zu verschwinden. Das macht sie gefährlich, denn übergriffsfreie Räume entstehen weder durch Kontrolle noch durch anschließende Sanktion, sondern durch die Aufmerksamkeit und Interventionsbereitschaft der Vielen.

Im Original: Gruppe und Gruppenzwang
Aus Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau
Von der "Emanzipation", geschweige denn Befreiung einer Gruppe zu sprechen, ist damit solange unsinnig, solange nicht die individuelle Erfahrung von Emanzipation auch innerhalb einer Gruppendynamik spürbar wird. Oder schärfer formuliert: Befreiung muß auch heißen, sich von der Gruppe befreien zu können. ... (S. 50)
Was sich so banal anhört ist evident: Nachvollziehbarerweise ist es ein gewaltiger Unterschied, ob jemand nur mit einem aufklärerischen Appell konfrontiert und dann allein gelassen wird, oder ob das Angebot der persönlichen Kontaktaufnahme eine Rückkopplungsmöglichkeit - und damit eine wesentlich günstigere Ausgangsbedingung für die Einleitung eines Emanzipations-Prozesses schafft. Dafür ist Öffentlich- und Ernsthaftigkeit denen gegenüber notwendig, die sich durch uns angesprochen fühlen oder uns ansprechen, weil sie Partner und Kooperation in einer Auseinandersetzung suchen. Eine Offenheit, die sich schlecht mit einer oft zu Tage tretenden Arroganz auf unserer Seite verträgt; einer Haltung, die auch Folge eigener Unsicherheit und eines uns aufwertenden Abgrenzungsbedürfnisses ist. Solche Abgrenzungstendenzen sind zwar verständlich und teilweise auch notwendig, um den Zusammenhalt einer Struktur sicherzustellen, aber wir müssen auch in der Lage sein, diese in Frage zu stellen, zu öffnen und Aufnahmebereitschaft zu zeigen, sonst sind unsere Strukturen starr, abweisend und in Bezug auf Emanzipations-Prozesse kontraproduktiv. (S. 59 f.)


Die Organisierung offener Räume und Systeme ist anspruchsvoll - eben weil Schein-Klarheiten fehlen. Es gibt also keine vermeintlich eindeutigen Lösungen, sondern alles ist ein ständiger Prozess. Das ist ehrlicher, weil Sicherheit und Klarheit nicht suggeriert wird, es ist aber auch emanzipatorischer, weil nun die Menschen den gesamten Ablauf, alle Beziehungen und Verhältnisse der Binnenstruktur prägen. Hausrecht, Hausordnungen und vieles mehr gehören auf den Müllhaufen, den Emanzipation und Anarchie hinter sich lassen müssen, wenn sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen wollen.

  • Mehr zu "Offenem Raum" in der Textsammlung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"

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