Theoriedebatte

WIE KANN ES WEITERGEHEN? KONKRETE VORSCHLÄGE FÜR DIE PRAKTISCHE ANARCHIE

Anarchie für alle: Herrschaftsfreies Leben und Überleben im Alltag


1. Einleitung
2. Anarchie für alle: Herrschaftsfreies Leben und Überleben im Alltag
3. Anarchie für Gruppen: Organisierung ohne Hierarchien
4. Anarchie für Betriebe: Produktion und Verteilung
5. Anarchie in Aktion: Intervention ins Hier & Jetzt
6. Anarchie für Träume und TräumerInnen: Theorieentwicklung und Utopiedebatte
7. Was Hoffnung macht: Blicke über die Grenzen

Der Alltag ist das unmittelbarste Lebensumfeld aller Menschen. Gemeint ist damit das, was immer wieder und oft standardisiert die eigene Lebenspraxis darstellt. Für die einen findet das vornehmlich in den eigenen vier Wänden statt, andere sind in Schule, Ausbildung, Beruf oder auf der Straße unterwegs. Hinzu kommen Besuche, Treffen mit Verwandten und Bekannten, Gänge zu Ämtern, die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, das Surfen oder Chatten im Internet, Aktivitäten in Vereinen, beim Sport oder anderen anderen Orten, die routinemäßig aufgesucht werden bzw. immer wieder kehren. Überall dort reproduziert sich die Herrschaftsförmigkeit der Gesellschaft. Gesetze und Normen strahlen in die Orte, Menschen tragen ihre sozialen Zurichtungen mit sich herum, Privilegien und Hierarchien wirken sich aus.
Warum sollte mensch für eine herrschaftsfreie Gesellschaft nur dann kämpfen, wenn explizit dazu aufgerufen wird? Also in einer seltsamen Einteilung von politischem und sonstigen Leben? Zumal das sehr uneffizient wäre, denn die - durchaus nützlichen und wichtigen - organisierten Politaktionen bedeuten einen wesentlich höheren Aufwand als das Handeln im Alltag. Alltag ist ohnehin da. An- und Abfahrtswege entfallen. Wer den Alltag zur Aktionsfläche macht, erweitert die eigenen Handlungsmöglichkeiten erheblich. Zudem ist der Alltag oft deutlich kommunikativer als z.B. große Demos oder Veranstaltungen, wo Kommunikation eher als frontaler Redeschwall herüberkommt und oft nur die ohnehin Überzeugten erreicht.

Das Handeln im Alltag schafft jedoch besondere Herausforderungen. Denn hier herrscht "Norm"alität. Es fehlt die künstlich geschaffene Situation politischer Aktion, in dem der Sonderstatus besondere Freiheitsrechte schaffen kann - sei es über das Versammlungsrecht oder über die Freiheit der Kunst. Stärker erweitert ist die Handlungsfreiheit in konkreten Situationen, wenn eine Aktion heimlich und im illegalen, aber nicht überwachten Raum abläuft. Doch auf Dauer wirkt das allein nicht.

Im Original: Handeln und reflektieren
Versuch und bewusstes Scheitern
Aus Meretz, Stefan: "Den Kampfhund bändigen", in: Freitag, 18.6.2004 (S. 5)
Eine andere Praxis setzt voraus, die eigene Eingebundenheit zu erkennen. Das Falsche ist nicht das Andere, ich bin es auch, es geht durch mich hindurch. Jede Handlung reproduziert das Ganze. Und hier beginnt die Alternative: Das Spielfeld verlassen, die Spielregeln außer Kraft setzen, nicht mehr mitspielen - wo immer es geht. Es geht nicht immer, aber sehr oft.
Geht es nicht, dann ist das Falsche bei vollem Bewusstsein zu tun und nicht als das Richtige zu verbrämen. Denn es sind immer zwei Schritte: wahrnehmen und handeln. Geht das Zweite nicht, geht immer das Erste. Keine Selbstzensur, das Wahrnehmen, Empfinden und Erkennen nicht umdefinieren, sondern mit Bewusstsein klarmachen: "Ich müsste widersprechen, aber ich halte Klappe, weil ich sonst rausfliege. Aber Es ist falsch."

Handeln und Reflektieren (fragend voran ...)
Aus Meretz, Stefan: "Den Kampfhund bändigen", in: Freitag, 18.6.2004 (S. 5)
Ich plädiere für eine wahrnehmende Distanz zum eigenen Tun, für einen Überblick über Handlungsmöglichkeiten. Für das alltägliche Handeln ist es ein Unterschied, ob ich mich von der Entfremdungslogik aufsaugen lasse, sie verinnerliche und wieder hinaustrage und Andere damit unter den gleichen Druck setze, unter dem ich stehe. Oder, ob ich distanziert und ohne moralischen Zeigefinger auf mein eigenes Tun schaue, um es genau nach solchen quasi-automatischen Wiedergaben fremder Sachzwänge abzusuchen - auf das ich es beim nächsten Mal vielleicht lassen kann oder wenigstens nicht mehr als "richtig" oder "gerecht" rechtfertigen muss, vor mir und anderen.

Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 66)
Es geht damit auch um die Verweigerung vorauseilenden Gehorsams, um die Sabotage freiwilliger Unterwerfung im Alltag. Unter dem Aspekt, daß es die AlItagskonditionierung ist, die Menschen unterwürfig macht, die Anpassungsverhalten täglich einübt und zementiert.

Weil der Alltag das ständige Lebensumfeld der Menschen bildet, sind die Handlungsmöglichkeiten unendlich vielfältig. Andererseits sind sie immer mit direkten Auswirkungen auf das eigene Leben verbunden, denn dieses findet untrennbar im gleichen Alltagsgeschehen statt, welches auch den Handlungsrahmen schafft. Das ist Chance und gleichzeitig zusätzliche Hürde. Wer politischen Protest als Ausnahmefall ins eigene Leben fügt, kann das so organisieren, dass sich sonst nichts ändert - ja, es ist möglich, politisches Engagement im sonstigen Leben völlig zu verstecken oder sogar unbekannt zu lassen. Ob Beziehung, Familie, Ausbildung, Arbeitsplatz, Nachbarschaft und mehr: Es kann alles völlig getrennt sein von einem in der Freizeit als Hobby, Abendtreffen und sporadischen Wochenendausflug gestalteten politischen Engagement.
Widerstand im Alltag heißt, sich dort einzumischen, bei Bedarf entgegenzustemmen oder Alternativen zu entwickeln, wo das eigene Leben ständig spielt. Damit hat jede Handlung auch Auswirkungen darauf, wird zum Gesprächsthema im Alltag, zum Segment des Umgangs mit anderen Menschen. Es verlangt mehr Mut, im Alltag aktiv zu sein als in den getrennten Sphären organisierter Politevents, die als Einmal-Inszenierung vorübergehen wie ein Urlaub oder Theaterbesuch - allerdings auch in ihrer Wirkung begrenzt bleiben auf den symbolischen Ausdruck. Die Einmischung in den eigenen Alltag oder aus ihm heraus wirkt immer direkt und kann verschiedene Facetten annehmen.

Aktion und direkte Intervention: Das ständige Einmischen
Eine Möglichkeit der Einmischung ist der politische Protest, also alle Formen von Aktionen, die im Kleinen wirken können. Fast alles, was an Aktionsmethoden bei organisierten Protesten außerhalb des Alltag angewendet werden kann, hat auch hier eine Chance - wenn auch in kleinerem Format: Verstecktes Theater, Plakate, Sabotage, Kommunikationsguerilla, Flugblätter, offene Briefe usw.
Alltag ist aber auch der Ort, in dem Diskriminierung, Ausbeutung, Mobbing, Ungleichberechtigungen, Privilegien und alle anderen Formen von Unterdrückungsverhältnissen einen unmittelbaren Ausdruck erhalten. Praktisch ist das ständig der Fall, denn Herrschaft durchzieht die Gesellschaft bis in den letzten Winkel. Patriarchale Logiken, Zweigeschlechtlichkeit, Rassismus, Erziehung, Kinderdiskriminierung, rechte Ideologien und Privilegien prägen den Alltag. Wer aufmerksam durch den Tag wandelt, wird viele Situationen entdecken, die Einmischung nötig machen, um Unterdrückungsverhältnisse aufzudecken, anzuprangern und - wenn eine passende Handlungsidee kommt - anzugreifen. Wer die Umgebung intensiv „abscannt“, d.h. beobachtet, hinterfragt und auf offensichtliche oder versteckte Herrschaftsförmigkeiten hin analysiert, bemerkt Tausende Stellen, an denen kleine Zeichen gegen das genormte Dasein hinterlassen werden können. Diese grundsätzliche Aufmerksamkeit ist einer der wichtigsten „Ausrüstungsgegenstände“ für den Widerstand im Alltag. Dazu kommt, sich gezielt Aktionstechniken anzueignen, um diese situationsbezogen einsetzen zu können – zum Beispiel um mittels verstecktem Theater in Kommunikation eingreifen zu können. Daneben lohnt es sich, immer auch so ausgerüstet zu sein, dass viele Handlungsmöglichkeiten offen stehen. Eine Art "Direct Action-Tasche" oder im Rucksack ein Fach für Aktionsmaterialien helfen. Ein paar Dinge, die dazu gehören könnten:
  • Bicker Filzstift oder Wachsmaler: Unverzichtbar für spontane Veränderungen auf Plakaten, Toiletten, Behörden usw. Stifte aus Plastik werden von Metalldetektoren (oft an Eingängen von Polizeistationen, Gerichten ...) nicht bemerkt.
  • Konfetti: Autoritätspersonen oder MackerInnen können durch Konfetti ein wenig „dekonstruiert“ werden.
  • Parfüm: Es kratzt an Autorität, wenn Uniformierte nach Rosenblüten „duften“.
  • Leere Plakate oder Stoffe: Sind in Kombination mit dicken Stiften gut, um spontan auf Situationen reagieren zu können, z.B. um bei einer rassistischen Kontrolle im Bahnhof den BeamtInnen zu folgen mit gehobenen Plakat „Hier findet eine rassistische Kontrolle statt“.
  • Mars-TV Transparent: Ein als Fernsehbildschirm ausgeschnittenes Transparent verschafft die Möglichkeit, in jeder Situation zur Mars-TV Reportage-Einheit zu mutieren und Ereignisse aus der Sicht von Wesen aufzugreifen, welche keine Herrschaft kennen. Denkbare Situationen: Bei Fahrkartenkontrollen Fahrgäste und Kontrollettis interviewen, was der Sinn vom Bezahlen ist, ob die Züge dadurch schneller fahren, was der gigantische Kontrollaufwand bringt usw.
  • Aufkleber: Immer ein paar Aufkleber dabei haben, um sexistische Magazine zu kommentieren, Produkte zu entwerten („Dieses Produkt ist entwertet – alles für alle statt Eigentum“), Lichtschalter ("... ausschalten") oder Klotasten ("... runterspülen") als Fläche für Slogans nutzen zu können. Leere Briefetiketten in Verbindung mit einem Stift sind für unvorhergesehene Ereignisse gut.
  • Kleber: Sekundenkleber kann Schlösser unbrauchbar machen, Türen ganz verschießen (in Türrahmen schmieren) oder Anderes stoppen (Tasten, Knöpfe ... nix geht mehr). Klebeband dient zum Plakatieren, aber auch z.B. um Bewegungsmelder, Lichtschranken usw. unauffällig zu blockieren. Vor Videokameras können lustige Bildchen, Straßendreck u.ä. gehängt werden.
    Auf Fingerabdrücke auf dem Klebeband achten!
  • Achter-Vierkantschlüssel: Das Allround-Werkzeug, um in Zügen und Bahnhöfen an Sprechanlagen zu gelangen, Türen zu öffnen oder zu schließen, Klappen im Zug zu öffnen (z.B. um was zu verstecken) usw. Innendreikant hilft für viele Lebensmittelcontainer (siehe Selbstorga-Seiten) Praktisch als Mehrfach-Innen-Schlüssel (Vierkant, Dreikant ...) - siehe Abbildung.
  • Einleger: Zettel für Zeitungen oder Bücher, die sich kritisch mit den Inhalten auseinander setzen oder über Möglichkeiten informieren, ohne Geld und Eigentum zu leben.
  • Flugblätter: Da Begegnung mit rassistischen Kontrollen oder Erziehungsattacken gegenüber Kindern alltäglich ist, macht es Sinn, immer ein paar Flugblätter mit thematischen Bezug mitzuschleppen.
  • Kreide: Optimal um Wege und Straßen mit Sprüchen zu verschönern oder auf Herrschaftsdurchgriffe in der Öffentlichkeit zu reagieren. So können Polizeifahrzeuge kommentiert oder einzelne PolizistInnen mit Spruchblasen auf dem Boden bestückt werden.
  • Ereigniskarte „Sie kommen aus dem Gefängnis frei“: Hilft zwar nicht, ist aber lustig.
  • TV B Gone: Klein, unauffällig und nur für spezielle Orte einsetzbar ist der Infrarotstrahler am Schlüsselring. In ihm sind viele Frequenzen der Ein-/Ausschaltimpulse für Fernseh- und andere Geräte gespeichert. Richtet mensch nun das Gerät auf solche und drückt den einzigen Knopf, den das Gerät hat, so dauert es meist ein paar Sekunden - und dann ist der Fernseher oder Projektor aus. Oder an. Das bietet interessante Chancen, z.B. auf Wahlpartys, im Unterricht oder wo auch immer das Aus des Gaffens erwünscht sein kann. Wer sich auf der anderen Seite keinen Breitbild-Plasma-Bildschirm leisten kann oder will, aber doch mal Interesse an einem Film hat, kann sein Sofa vor ein TV-Geschäft schieben und durch die Scheibe den schönsten der dortigen Fernseher anvisieren. Infos unter www.tvbgone.com. Verkauf in Deutschland über FoeBuD.
  • Kleidung: Ein T-Shirt mit einem gut verständlichen und ebenso lesbarem Spruch kann bereits ausreichen, um in der U-Bahn oder anderswo in der Öffentlichkeit angesprochen zu werden und in politische Debatten einzusteigen
  • Trillerpfeife, Alarmstift u.ä.: Zum Lärmmachen überall. Die Alarmstifte sind kleine, batteriebetriebene, extrem schrill-laute Sirenen. Sie sollen z.B. Angreifer in der Nacht abschrecken. Aus ihnen wird ein Stift gezogen oder eine Taste gedrückt und das Ding irgendwo hingeworfen. Es kann nicht ausgeschaltet werden. Wenn es also bei einer Veranstaltung irgendwo oben auf einem Gerüst, in einem Gully o.ä. landet, wo niemand so schnell rankommt, ist es vorbei mit dem Labern, Feiern, Heldengedanken oder was auch immer grad läuft.
  • Namensschild: An Hemdtasche oder anderswo befestigt, gibt so ein transparenter Visitenkartenhalter schnell ein förmliches Aussehen. Am besten gleich mit vielen Karten füllen und immer die passende nach vorne holen - je nach Lage: Sicherheitsdienst, Presse, Umsonstfahren (wenn mensch es offensichtlich macht, ist es keine Straftat!), Kontrolletti ... oder was mensch mal kurz sein will.
    (Quelle: Direct-Action-Kalender 2006, aktualisiert)

Im Alltag können einem Menschen begegnen, die einem bekannt sind und auch weiterhin zum eigenen sozialen Umfeld gehören - in der NachbarInnenschaft, am Arbeitsplatz, in Vereinen und Gruppen. Das erfordert ein besonderes Vorgehen, um nicht dauerhaft Kommunikationsmöglichkeiten zu beschneiden. Eher das Gegenteil wäre anzustreben: Neue Gesprächsthemen eröffnen, direkten Kontakt suchen.
Alltag sind aber auch die anonymen Verhältnisse im Supermarkt, in der U-Bahn oder im Bus, an der FußgängerInnenampel usw. Es sind oft hochkommunikative Räume, in denen Aktionsformen passend sind, die direkte Ansprache und Diskussion erzeugen. Solche Methoden sind besonders wertvoll, da Kommunikation der entscheidende Zugang zu Diskursen und allem ist, was an Normierungen, Wertungen und Vorurteilen in den Köpfen schwirrt. Mit den großen Politaktionen am Wochenende lässt sich das regelmäßig nicht erreichen. Diese wirken eher über Medien und auf die repräsentative Politik - aber weniger auf die vielen Menschen überall. Deshalb ist es eine Schwäche politischer Bewegung, auf solche zentralen Events plus begleitender Appelle an die Herrschenden zu setzen. Emanzipatorische Veränderung muss einerseits die Macht aus Parlamenten und Konzernen zu den Menschen ziehen, andererseits aber auch den Alltag und die direkte Kommunikation als Handlungsebene erobern. Sonst bleibt alles Begleitfolklore zum weiteren Durchmarsch institutioneller und diskursiver Herrschaftsverhältnisse und -beziehungen.


Raus aus den Zwängen: Selbstbefreiung im Alltag
Die relative Beliebtheit von außerhalb der eigenen Alltagsbeziehungen liegenden Politevents gegenüber der Einmischung im Alltag wird zusätzlich gesteigert dadurch, dass durch Aktionen an fernen Orten und innerhalb großer Gruppen die eigenen Überlebensbezüge und -quellen nicht gefährdet werden. Wer Händchenhalten auf dem Elbdeich spielt, riskiert keinen Verlust des Arbeitsplatzes. Wer vorgefertige Emails an den digitalen Papierkorb der Bundeskanzlerin schicken lässt, muss sich dafür wohl kaum in der NachbarInnenschaft rechtfertigen.
Anders sieht das bei Aktionen im eigenen Alltag und direkter Intervention aus. Wer gegen einen sexuellen Übergriff auf einer Party vorgeht, läuft Gefahr, zumindest kritische Blicke vieler in ihrer Feierlaune gestörten Partygäste zu ernten. Das kann, wer eine Unterschrift gegen Genitalverstümmelung in einem fernen Land leistet, nicht passieren (höchstens die standardmäßige eigene Belästigung durch die Spendeneinwerbeabteilungen der unterschriftensammelnden Organisationen).
Einmischung im Alltag geschieht immer als konkrete Person und oft in nicht-anonymen und dauerhaften Bezügen. Schon allein das Ziel, politische Handlungsfähigkeit zu erreichen, ist ein Grund, über die eigene Einbindung in Zwänge nachzudenken. Zentraler aber ist der Wert unabhängiger Entscheidungsfähigkeit (Autonomie) noch für das Leben selbst. Denn wenn Selbstentfaltung ein wichtiges Ziel des Lebens ist, bedeutet die Befreiung von allen normierenden und bestimmtes Verhalten erzwingenden Einflüssen eine wichtige, befreiende Voraussetzung, diese auch Wirklichkeit werden zu lassen. Der eigene Alltag ist also doppelt wichtig.
  • Abbau von Hierarchien: Jede Einbindung in Hierarchien schafft Handlungszwänge, da das eigene Verhalten durch andere bestimmt werden kann. Ob Familie, Wohngemeinschaft, Firma, Verein oder was auch immer: Formale Gleichberechtigung ist nicht alles, aber eine wichtige Voraussetzung für die Selbstentfaltung aller Beteiligten. Es wäre Sache anarchistischer Aktivität, überall Vorschläge für Dominanzabbau und gleichberechtigtes Miteinander einzubringen, Methoden zu entwickeln und vorzuschlagen. Eine Sammlung schon bestehender und anwendbarer Ideen findet sich unter www.hierarchnie.siehe.website oder im HierarchNIE!-Reader.
  • Ökonomische Unabhängigkeit und Selbstorganisierung: Im Kapitalismus schafft der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft ständig Abhängigkeitsverhältnisse. Es besteht, zumindest für NichteigentümerInnen an Produktionsmitteln, aber auch für die meisten derer, die solche besitzen, der Zwang, zwecks eigenen Überlebens für etwas zu schuften, was außerhalb des eigenen Willens liegt. Es wird entweder durch den sogenannten "Arbeitgeber" oder, bei Selbständigen und FreiberuflerInnen, durch die Verkaufbarkeit der eigenen Tätigkeiten oder Fähigkeiten diktiert. Da der Mensch nicht auf eine gewisse materielle Reproduktion verzichten kann und zusätzlich zur Selbstentfaltung seiner Möglichkeiten und Wünsche materielle Ressourcen benötigt, kommt er nicht umhin, für deren Beschaffung tätig zu werden. Von Bedeutung ist, ob die Art auf freiem Willen und freien Vereinbarungen aller Beteiligten beruht oder die Kooperation erzwungen ist.
    Eine wesentliche Voraussetzung ist die Fähigkeit zur Selbstorganisierung. Wenn Menschen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft keine Alternative haben, also nur mit dem dabei verdienten Geld ihr Überleben sichern können, werden sie dazu neigen, Arbeitsplätze zu suchen und sich ausbeuten zu lassen. Es ist daher wichtig, diese Abhängigkeiten abzubauen - sei es durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, durch Selbsthilfegruppen, Umverteilung und/oder effiziente Nutzung gesellschaftlicher Versorgungsnischen. Sie alle sind nicht mehr als Zwischenschritte zu einer Gesellschaft, in der alles allen zugänglich ist. Aber als Etappen können sich durch partielle Befreiungen den Kampf für mehr beflügeln. AnarchistInnen können und sollten neben entsprechenden politischen Forderungen Selbstorganisierungs-Netzwerke für das Überleben im Alltag initiieren. Diese können auch über den beschriebenen Rahmen hinausgehen und zu selbstverwalteten, bedürfnis- statt marktorientieren Betrieben oder Wohnhäusern führen.
  • Kommunikation und freie Kooperation: Eine herrschaftsfreie Welt muss eine kommunikative Welt sein. Denn die direkte soziale Interaktion mit vielen, oft komplexen Absprachevorgängen ersetzt die hierarchische Kommandostruktur, die heute eine Gesellschaft organisiert, zusammenhält und auch aufrecht erhält. Solche Kommunikation kann ebenso wie die Anbahnung von Kooperation auch heute schon gefördert werden durch direkte Begegnung, Wandzeitungen, lokale Radios, eigene Mitteilungsblätter usw. - sowohl in Betrieben wie auch in Gruppen, Häuserblocks, Wohnvierteln und Dörfern, an kulturellen Treffpunkten oder in Sportstätten. Kein Ort muss ausgespart bleiben. Wer Anarchie will, kann loslegen und solche Kommunikationsstränge verwirklichen.
  • Gleicher Zugang zu allen Ressourcen: Reichtumsunterschiede schaffen Privilegien. Daher ist der gleichberechtigte Zugang zu den vorhandenen Ressourcen eine wichtige Forderung und eine Handlungsmöglichkeit für die Praxis. In der Utopie wird das mit dem Ende des Eigentums verbunden sind. Im Hier & Jetzt können kleine Projekte und Experimente das große Ziel im Kleinen teil-verwirklichen und bewerben. Bereits bestehende Beispiele sind Umsonstläden, NutzerInnengemeinschaften (Geräte, Bücher usw. werden gemeinsam genutzt), offene Räume, Aktionsplattformen (z.B. Projektwerkstätten), Selbsthilfewerkstätten und ähnliche Einrichtungen, Häuser und Flächen, die ohne Hausrecht für alle offen sind, ebenso auch Produktionsstätten, die nicht nur Sache kleiner EigentümerInnenkreise sind, sondern von vielen, auch Interessierten und Betroffenen der Umgebung, genutzt werden.
    AnarchistInnen könnten hier viel mehr Initiativen starten und das konkrete Projekt mit der Benennung von weiterreichenden Utopien verbinden, z.B. über Ausstellungen, Gespräche, Informationsschriften, Veranstaltungen und Aktionen.

Anarchie zeigen: Überzeugen durch Tun?
Jede Handlung, jede Aktion und jedes Projekt kann zu mehr werden, wenn es dafür genutzt wird, weitergehende Utopien zu vermitteln. Zudem kann es die Wirkung des Konkreten verbessern, wenn die dahinterstehende und über das kleine Experiment hinausgehende Idee sichtbar wird. Zwar mag das zunächst auch einige Menschen abschrecken (wer ist angesichts der heutigen Hetze schon gern anarchisch?), aber da müssen emanzipatorische Ideen und IdeengeberInnen durch. Herrschaftsfreiheit, unter welchem der vielen Begriffe auch immer benannt oder umschrieben, muss aus den dunklen Ecken gesellschaftlicher Subkulturen, temporärer Protestphasen des Lebens oder bürgerlicher Hetze zu einer gegenkulturellen Offensive, zu einem erstrebenswerten Ideal und zur hinter den Aktionen der Befreiung und Selbstorganisierung sichtbaren Hoffnung erweckt werden.
Sie ist keine Idee für wohlige Sonntagsreden klein- und bildungsbürgerlicher Kreise, die mit verklärtem Blick die bessere Welt einfordern, um in ihrem sonstigen Leben zu denen zu zählen, die aus teil-privilegierter Stellung heraus genau das Gegenteil mit abzusichern helfen.

"Anarchie ist machbar, Herr Nachbar" (zwecks besseren Reimens in männlichem Sprachstil) lautet ein beliebter Spruch, den AnarchistInnen aber lieber vor sich hinbrabbeln, wenn sie unter sich sind, oder klammheimlich den NachbarInnen auf die Hauswand sprühen, um auch die letzte Chance zur Debatte um Herrschaftsfreiheit zu zertrümmern.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 64 f.)
Die wirksamste Art anarchistischer Propaganda wird immer die Schaffung und die Demonstration anarchistischer gesellschaftlicher Beziehungen sein - eben die Praxis der vorwegnehmenden Politik. Es fällt Leuten viel leichter, die Vorstellung eines Lebens ohne Chefs oder Führer anzunehmen, wenn sie es erleben und nicht nur Argumente dafür lesen oder hören, auch wenn sie eine solche Erfahrung nur in einem begrenzten Maßstab machen können.

Wenn schon Emanzipation und ihre radikalste Form, die Anarchie, als Gegenkultur verstanden werden, liegt es nahe, auch den ganzen Bereich, der originär als Kultur verstanden wird, ins Blickfeld zu nehmen. Schrift, Bild, Ton, Inszenierung und vieles mehr vermitteln gesellschaftliche Auffassungen. Sie sind regelmäßig utopischer und mutiger als realpolitische Forderungen oder die Verzagtheit praktischer Alltagsgestaltung. Andererseits ist auch Kultur in vielen Zwängen gefangen, und ihre Befreiung aus diesen hin zu einer selbstbestimmten und selbstorganisierten Form wäre von Bedeutung.
Der Anteil von Musikgruppen, MalerInnen, SchriftstellerInnen und mehr ist hoch, die sich - oft träumerisch - sehr positiv auf Ideen der Herrschaftsfreiheit und Gleichberechtigung beziehen, während die Realität in einem Korsett von Zwängen und Hierarchien versinkt - einschließlich der Form künstlerischer Präsentation, die oft den in ihr vermittelten Inhalten widerspricht.
Es gibt praktisch keine um anarchistische oder wenigstens emanzipatorische Inhalte kämpfende und solche Ideale praktizierende KünstlerInnenszene, auch wenn die Inhalte ihrer Kunst das oft herbeisehnen oder fordern.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 67)
Eine solche Herangehensweise begreift Anarchie als Kultur, als gelebte Realität, die überall in unterschiedlichen Gewändern auftaucht, sich unterschiedlichen kulturellen Klimata anpasst und um ihrer selbst willen verbreitet und entwickelt werden soll, unabhängig davon, ob wir der Auffassung sind, dass es die vorherrschende gesellschaftliche Form werden wird.

Keine Eintagsfliege: Selbstorganisiertes Leben
Anarchie im Alltag ist also dreierlei:
  • Direkte Aktion als Einmischung, Veränderung oder Sabotage bestehender Verhältnisse oder unterdrückender Handlungen.
  • Aufbau bzw. Steigerung unabhängiger Lebensverhältnisse, d.h. der Befreiung aus materiellen und sonstigen Zwängen, Aufbau gleichberechtigter Formen des Zusammenlebens, unabhängiger und freier Kommunikation und Kooperation.
  • Werben für die konkreten Projekte und Versuche, aber auch immer, am besten damit verbunden, für die visionäre Idee einer herrschaftsfreien Welt.

Kleine und große Schritte, gerne auch mal - wenn es die Situation zulässt - ein großer Wurf, wenn z.B. eine Fabrik übernommen, ein Dorf oder Wohnviertel selbstverwaltet oder per praktischer Aktion die Unterdrückungsmaschinerie gestoppt werden kann, sind immer gut. Damit sich die Veränderungen auch zu einer Gegenkultur entwickeln können, bedarf es aber mehr als Strohfeuer. Solange Protest und Selbstorganisierung nur die Nebenrolle in einem ansonsten von Abhängigkeiten und Zwängen durchzogenen Alltag sind, werden sie irgendwann gestrichen werden aus dem Tagesplan der von den fremdbestimmten Anforderungen überforderten Menschen. Es muss daher gelingen, den selbstorganisierten Alltag, sei es die materielle Reproduktion, die Kommunikation und Kooperation mit dem Umfeld oder die Einmischung in Form von Intervention und Aktion, zu einem Kontinuum zu machen. Das meint nicht starre Formen, sondern dass es mehr wird als die vereinzelten Ausnahmen im ansonsten abhängigen Leben.

Aus Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 61)
Die Crux sozialer "Ein-Punkte-Bewegungen" (Anti-AKW, Anti-Startbahn etc.) ist unter anderem, daß es oftmals nicht gelingt eine dauerhafte und grundsätzliche Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaftsstrukturen herbeizuführen, weil die Beschäftigung an der Oberfläche gesellschaftlichen Erscheinens bleibt. Nicht nur verlorene Konflikte. sondern sogar erfolgreich abgeschlossene Auseinandersetzungen, die sich quasi nur an dem gesellschaftlichen Symptom abarbeiten, führen zum Rückfall der Beteiligten ins "rein Private", sobald der Aktualkonflikt beendet erscheint.

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