Theoriedebatte

KONSENS

Der Konsens als Waffe - Beispiele politischer Konkurrenzkämpfe


1. Einleitung
2. Die Methode des Konsens
3. Der Konsens als Waffe - Beispiele politischer Konkurrenzkämpfe
4. Beispiele
5. Links

Schon die Behauptung eines Konsens trägt in der Regel das Herrschaftsmoment in sich. Wird etwas als Konsens dargestellt, wird das ein Äußern von Bedenken erschweren, da die Kritik äußernde Person befürchten muss, allein da zu stehen. Verschärft wird das, wenn ein Konsens durch Ausgrenzung hergestellt wird. Das ist aber durchaus üblich. In vielen Zusammenhängen wird der Konsens vor der Konsensfindung definiert und dann eingefordert, dass sich alle dem anschließen - oder gehen (bzw. gegangen werden). Typisch ist das für dogmatisch gewaltfreie Personen und Zusammenhänge ... siehe Beispiele auf den Seiten zu Gewaltfreiheit.

Es ließen sich unendlich viele Beispiele des Machtmissbrauch bzw. - besonders häufig - der gezielten Gestaltung von Entscheidungsfindungsabläufen benennen. Das Beharren auf Basisdemokratie und Konsens hilft Eliten, die definieren können, wie eine Frage zu stellen ist oder was der Ausgangszustand ist, der bei Einlegung eines Vetos weiter gelten würde.

Beispiel Attac: Elite handelt, Basis muss Konsens haben zum Gegenhalten
Ein krasses Beispiel, wie ausgenutzt werden kann, dass die Vorentscheidungen der Führungspersonen als Ausgangslage gelten, geschah Anfang 2003 im selbsternannten "Netzwerk neuen Typs", Attac. Deren Führungskader, verschleiernd "Koordinierungskreis" genannt, erstellte zusammen mit Gewerkschaften ein Papier und unterzeichnete es. Das Papier stieß auf Missfallen fast aller Basisgruppen. Doch die Unterschrift wurde trotz einer überwältigenden Mehrheit von ca. 80% der Anwesenden auf der dafür zuständigen Versammlung nicht zurückgezogen werden. Der Trick der Oberen: Für die Rücknahme (und nicht für das Unterschreiben) sei ein Konsens nötig. Das Einzige, was diesem Fall zugute gehalten werden kann, ist dass er auffiel. Meist gehen die MachtpolitikerInnen des Konsens geschickter vor. So fand die Konsenskultur sogar in den eigenen Reihen öffentliche Kritik.

Ausschnitt aus dem Papier zur Zukunft von Attac von Oliver Moldenhauer, Attac-KoKreis, vom 17.11.2004:
Die massiven Probleme des unkritisch angewandten Konsensprinzips, sind kaum im Bewusstsein. Deshalb möchte ich hier die wichtigsten Nachteile aufführen.

  1. Konsens hat strukturkonservative Auswirkungen. Im Zweifelsfalle bleibt immer alles so wie es ist. Daher wird wahrscheinlich auch die jetzt angestossene Strukturdebatte keine oder nur sehr minimale Ergebnisse in Beschlussform zeigen.
  2. Gruppen mit Konsensentscheidungen können sich gegen solche mit effizienteren Entscheidungsverfahren nur schwer durchsetzen: Das gilt z.B. für das Zusammenspiel von NGOs und Attac-AGs oder von Büro und Kokreis.
  3. Konsens führt tendenziell zu Entscheidungen in kleinen Gruppen, Konsensfindungsgruppen fällen auf den Ratschlägen die eigentlichen Entscheidungen.
  4. Kontrolle der Leitungsgremien ist stark erschwert: Wie kann ein Ratschlag einen Beschluss gegen den Kokreises durchsetzen, z.B. um ihn zu kritisieren, wenn der Kokreis selber Veto-Player ist?
  5. Bei Konsensentscheidungen sind machtpolitisch nur die Leute relevant, die potentiell Vetos einlegen. Dies sind deutlich überproportional ältere Männer und wesentlich weniger z.B. junge Frauen.
  6. Entscheidungen, z.B. in Gruppenkonflikten werden nicht getroffen; am Ende verlassen gerade diejenigen die Gruppe, die an effektiver Arbeit interessiert sind.
  7. Die Mächtigsten sind diejenigen denen am wenigsten am Projekt liegt und die daher sagen können ?Dann passiert eben gar nichts.?

Beispiel Xtausendmal quer
Die Kampagne zählt zu den TrommlerInnen pro Konsens. Dafür wird offensiv geworden und suggeriert, dass Konsens Hierarchie abbaue - ja sogar Hierarchiefreiheit schaffen könne.

Aus der "Übereinkunft" (später: "Aktionskonsens") der Aktion X-tausendmal quer" (wird von allen Beteiligten per Selbstverpflichtungserklärung angenommen - quasi der "Eid", auf den sich die festlegen, die ihre Teilnahme ankündigen):
In unserer Zusammenarbeit versuchen wir, hierarchiefreie Strukturen zur Anwendung zu bringen. D.h. wir werden nicht nach dem Mehrheitsprinzip, sondern nach dem Konsensprinzip entscheiden'und uns untereinander so weit wie möglich absprechen.

Widersprüchlich ist die weitere Formulierung, alles solle "überschaubar" sein, aber gleichzeitig "selbstbestimmt":
Wir werden uns bemühen, die Situation während unserer Aktion überschaubar zu gestalten, damit alle Beteiligten gute Bedingungen für ein selbstbestimmtes Handeln haben.

In manchen Texten wird das Problem mit dem Veto noch offener angesprochen
Aus Martin Koppold, "Konsens", Mutlanger Texte Nr. 11
Die Übereinstimmung sollte nur aus schwerwiegenden moralischen Gründen, wie z.B. Menschenrechtsverletzungen,
blockiert werden. Besser ist es, nach neuen Lösungen zu suchen. In der praktischen Arbeit versuche ich des Vetorecht gar nicht zu erwähnen. Die Möglichkeit zum Veto hat die Suche nach Lösungsmöglichkeiten zu häufig blockiert.


Die Realität sieht anders aus. X-tausendmal quer und ähnliche Kampagnen haben Gewicht. Ihre Stimme wird in den Medien gehört und ihr Ruf verspricht hohe Spendeneinnahmen. In der Folge tummeln sich Bewegungseliten in ihnen, die versuchen, die Kampagne zu ihrem Spielball zu machen. Konkurrenz ist da nicht erwünscht, sondern Geschlossenheit. Diese wird dabei auch gezielt über Verdummung erreicht. So legte der in vielen Anti-Atom-Bereichen selbst und mit Unterstützung etlicher Konsens- und ModerationsexpertInnen dominante Jochen Stay bei einem Sommercamp trotz der dort wenig zugespitzten Aktionssituation ein Veto gegen einen Arbeitskreis ein, der Wissen hätte vermitteln sollen, wie Kleingruppen durch Gleisblockaden den Atommülltransport stoppen können. Stay setzt auf Einheit. Den eigenen MitläuferInnen die Möglichkeit entziehen zu wollen, selbst zu handlen, zeigt sein besondere Verständnis für die Erkenntnis von Albert Einstein: "Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muß man vor allem ein Schaf sein."

Im Original: Konsens beendet Debatte und schüchtert ein
Aus einer Mail zu einer Vetodebatte (Original liegt vor, hier anonymisiert, weil die Mail nicht öffentlich war)
Den Umgang mit ... halte ich für so exemplarisch, dass es lohnt, noch einmal darüber nachzudenken. Das Verfahren hat gezeigt, dass mit einem Veto nicht etwa eine Minderheitenposition zu ihrem Recht kommt, sondern dass es geeignet ist, Kritik zu negieren und Diskussion zu ersticken. ... Das Veto hat gezeigt, dass "Kritik" zuweilen nicht als Kritik zu verstehen ist, sondern als "Dagegen-Sein". Dieses Dagegen-Sein wurde mit einer rhetorischen Formel ("kann damit nicht leben") zu einer existenziellen Frage aufgerüstet. Würde man wieder abrüsten, bliebe am Ende nicht viel mehr als die Aussage: Ich habe zwar keine mehrheitsfähigen Argumente, bin aber gegen ... Die Hochstilisierung zur existenziellen Frage hat bewirkt, dass bei der letzten entscheidenden Diskussion die Befürworter_innen die eigene Position nicht einmal mehr benannt haben. Begründet wird das teilweise mit "Respekt" vor der Position des Betreffenden und unter Berufung auf Prinzipien der "gewaltfreien Kommunikation". ... Es gab keine Versuche, noch einmal mit ... zu verhandeln. ...
Dass es dabei auch Punkte gibt, die man kritisieren kann – geschenkt! Das gibt es bei vielen ... Solche Punkte sind nicht Basis für ein Veto, sondern werden im Rahmen der der ganz normalen Kritik abgehandelt, der sich jeder ... bei uns stellen muss und auf deren Grundlage wir dann über die Benotung befinden. ...
Ich kann selbstverständlich gut "damit leben", wenn Argumente nicht greifen, Sichtweisen andere sind, ich in Abstimmungen unterliege. Dass aber Argumente, Sichtweisen und Abstimmungsergebnisse durch ein Verfahren, wie immer es heißen mag, einfach vom Tisch gefegt werden, damit kann ich zwar "leben", mag es aber nicht unwidersprochen hinnehmen. Ein Veto, das zeigt dieses Beispiel, ist nicht in jedem Fall eine Erweiterung des Diskursrahmens aus Respekt vor dem Gedanken, sondern kann auch das Gegenteil bedeuten: die Verhinderung von Kontroverse und Kritik.


Veto als Kult und als Taktik
Im Original: Veto von unten und Gegen-Veto von oben
Berichte von A. und C., die sich an einer Sitzblockade von X-tausendmal quer am AKW Brokdorf beteiligt haben (Ausschnitt aus dem umstrittenen Flyer rechts - ganz zu sehen durch Klick):
1) A.: Es wurden vorher die Plenumsregeln festgelegt und so definiert, dass jede mit ihrem Veto die Aktion oder einen Teil der Aktion stoppen kann. In diesem konkreten Fall ging es um einen Flyer, also einen Teil der Aktion.
C.: Die Plenumsregeln (z.B.: genau 1 DelegierteR je Bezugsgruppe) sind m.E. von einer Elite (den X1000-CheckerInnen) vorgegeben, gelten aber dadurch als von der "Basis" abgesegnet, dass keine_r widerspricht. Und das Widersprechen ist schwierig, weil mensch sich dadurch in eine Außenseiterstellung bringt und sich dem Vorwurf aussetzen könnte, er/sie lehne das Prinzip der Basisdemokratie ab. Mir fällt dabei die Analogie vom "deutschen Volk" ein, das sich selbst das GG als Verfassung gegeben hat, indem es die Parteien gewählt hat, die es geschrieben haben (es konnte auch gar nicht anders, denn man kann ja nichts anderes als Parteien wählen - nicht abgegebene und ungültige Stimmen sowie nicht wahlberechtigte Personen zählen ja nicht und werden ignoriert).
Aber genau da sehe ich einen Ansatzpunkt: Die verordnete Plenumsordnung nicht stillschweigend zu akzeptieren, sondern gleich zu Beginn ein Veto gegen die Regel, dass nicht bei Bedarf mehrere Personen aus einer Bezugsgruppe im SprecherInnenrat sitzen dürfen (wenn sie das als wichtig empfinden), einlegen - oder sich einfach ohne Worte trotzdem dazu setzen. Da hätte bestimmt niemand widersprochen (hat in Strasbourg zum NATO-Geburtstag auch nicht) und Du, A., wurdest ja nachträglich explizit in den SprecherInnenrat eingeladen.

2) A.: C. und ich waren nicht einverstanden mit dem Flyer, den Formulierungen und dessen Verteilung.
C.: Einer der Punkte, warum ich nicht mit dem Flyer einverstanden bin, ist die Aufforderung an die Polizei, "verhältnismäßig" (wer auch immer "verhältnismäßig" definiert) zu handeln. Ich möchte nicht verhältnismäßig, sondern gar nicht von der Polizei aus dem Weg geräumt werden. Das allein wäre nicht schlimm - ich hätte den Flyer schlicht nicht verteilt - wenn ich nicht durch die konsequente "Wir"-Rhetorik und das X1000-Label als Teil einer vermeintlich homogenen Menschenmasse dargestellt würde, die gerne verhältnismäßig von der Straße geräumt werden wolle. Außerdem fühlen sich durch das "Wir" möglicherweise Menschen unter Druck gesetzt, die (aus welchen Gründen auch immer) die Blockade vorzeitig verlassen möchten und die explizite "Erlaubnis" dazu auf dem SprecherInnenrat nicht mitbekommen haben.

3) A.: Im Plenum war erst nur C. anwesend, da das ein SprecherInnenrat war und somit nicht die ganze Gruppe dort sein sollte. Er legte unser Veto bezüglich des Flyers ein. Hieraufhin wurde ich dann gesucht und vollkommen unvorbereitet (überrumpelt) hinzugezogen und sollte dazu Stellung nehmen vor dem ganzen Plenum. Ich bin nun nicht gerade der extrovertierteste Mensch ... Dementsprechend hab ich da auch nicht unbedingt die passenden Worte gefunden. Es gab ein Gegenveto, ich glaube von den MacherInnen des Flyers, die nicht an der Aktion teilnehmen wollten, wenn ihr Flyer nicht verteilt werden sollte. "Entweder die machen nicht mit, oder wir machen nicht mit, oder die ziehen ihren Einwand zurück (und wir haben ja schon vorher organisiert, d.h. lasst das mal)". Auf uns wurde so eindiskutiert und Druck ausgeübt, dass wir in dem Moment quasi nur die Klappe halten konnten und "zum Wohle der Aktion" eine Art "wenns denn unbedingt sein muss" sagen mussten.
Hinterher fielen mir natürlich auch wieder die ganzen Argumente und so ein und vor allem wie ich mich weiter hätte verteidigen können, aber in dem überrumpelten Zustand ging das nicht.
C.: Dass mensch mit einem Veto oder beleidigte Leberwürste mit einem Gegenveto eine Aktion komplett kippen können, ist mit einem enormen psychischen Druck auf die einzelne Person verbunden. Das halte ich nicht für unumstößlich - ich finde, dass diese Sackgasse durch das "Wir"-Dogma erst künstlich geschaffen wird. Dabei kann der Dissens doch z.B. durch das Stattfinden mehrerer paralleler Aktionen mit unterschiedlichen Aktionskonsensen aufgelöst werden, z.B. hätte es eine dogmatischere Blockade von den Gegenveto-Leutis mit Wir-Flyern am einen AKW-Tor geben können und eine individualistischere Blockade von den Veto-Leutis ohne diese "Wir"-Vereinnahmung am anderen Tor. So ähnlich läufts ja auch im Wendland und wäre es wohl auch gelaufen, wenn das etwas radikalere Block-Brokdorf-Camp nicht abgesagt worden wäre.
Das Risiko, mit den "Nicht-Gewaltfreien" in eine Schublade gesteckt zu werden, wird doch von den Gewaltfrei-Sekten z.T. selbst herbeibeschworen - durch die "Wir"-Rhetorik stecken sie ja selbst alle Aktionsteilnehmis in die "Wir"-Schublade.

4) A.: Positiv war, dass uns von einzelnen Personen gesagt wurde, dass sie unseren 'Mut' toll fanden diesen Einwand zu bringen und dass sie sich da 'nächstes mal' mit den Formulierungen der Flyer noch mehr Gedanken machen wollen.
C.: Wirklich positiv ist es eigentlich nicht, dass 'Mut' dazu gehört, von seinem formalen Vetorecht Gebrauch zu machen. Aber auch ich habe das Lob ermutigend empfunden.


Steuerung
Konsens ist nicht nur selbst eine strategische Waffe, sondern auch eine Vernebelung. Hinter der freundliche Fassade werden die wichtigen Fragestellungen andernorts behandelt. Der Verweis auf das Veto legitimiert die Bildung abgehobener bis intransparenter Machtzirkel, die angeblich ja nichts steuern können, weil jederzeit ein Veto möglich wäre. Zusammen mit den Abwehrtechniken gegen ein dann mögliches Veto und der Kontrolle über die Fragestelle vor einer Konsensentscheidung gelingt die Steuerung auch größerer Menschenmassen meist perfekt.

Im Original: Konsens beendet Debatte und schüchtert ein
Aus Martin Koppold, "Konsens", Mutlanger Texte Nr. 11
Die Gesprächshelferperson soll an dieser Stelle schon das Problem in differenzierte Fragestellungen umwandeln. ...
Nicht über alles muß ein Konsens gefunden werden. Vieles Organisatorische, ebenso viele Detailausfuhrungen
können übergeben werden. Die Erfahrung zeigt, daß eine bewußt von der Gruppe übertragene Verantwortung in der Regel sehr gewissenhaft wahrgenommen wird.


Blockade durch die, die andernorts die Entscheidungen treffen
Besonders geeignet ist Konsens für die, die dann Entscheidungen blockieren können, während sie an anderer Stelle entscheiden. Das gilt vor allem für die Regierenden aller Konstellationen. Wenn eine Bundes- oder Landesregierung, ein Magistrat oder Vereinsvorstand die Untertanen (Bevölkerung, Einwohner*innen, Beiräte, Mitgliederversammlung usw.) zum Konsens verpflichtet, gleichzeitig aber dafür sorgt, in den konkurrierenden Gremien vertreten zu sein, können sie selbst filtern, was diese an sie herantragen können.

Zitat von der Internetseite der Stadt Gießen
Der Agenda-Rat setzt sich aus Vertreter/innen der Agenda-Gruppen, der Stadtverordnetenfraktionen, des Magistrats, des Ausländerbeirates und des Büros Bürgerbeteiligung und Lokale Agenda 21 zusammen.
Alle Agenda-Arbeitsgruppen müssen ihre Wünsche an den Agenda-Rat schicken, nur dieser kann Anträge an die Stadt stellen. Verschwiegen wird in obiger Beschreibung, dass er stets nur im Konsens handelt, d.h. dass Magistrat und Fraktionen selbst bestimmen, welche Anträge ihnen überhaupt zugeleitet werden. Alles, was irgendeinen Teil im parlamentarischen Raum nervt, hat also nicht einmal die Chance, beachtet zu werden.

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