Organisierung

ORGANISIERUNG OHNE DEMOKRATIE, KOLLEKTIV-IDENTITÄTEN, HIERARCHIEN UND FLAGGEN

(Keine) Entscheidungsfindung in der Praxis


1. Grundsätze herrschaftsfreier Organisierung
2. Emanzipatorische Organisierung praktisch
3. (Keine) Entscheidungsfindung in der Praxis
4. Anarchie - bitte ohne Label und kollektive Identitäten
5. Zusammenschau: Organisierung von unten

Die meisten Entscheidungsprozesse weisen mehrere Probleme auf:
  • Sie erzwingen, soweit nicht ohnehin vorhanden, spätestens zum Zeitpunkt der Abstimmung eine klare Grenzziehung zwischen Stimmberechtigten und Stimmlosen, also ein Innen und Außen. Damit schaffen oder stabilisieren sie den "demos" als Grundmuster von Demokratie und Formung einer Einheit mit Gemeinwillen statt der Vielfalt aus Unterschiedlichen.
  • Sie führen oft zum Ende eines Diskussionsprozesses und verhängen einen formalen Status Quo, der eine erhebliche Widerstandskraft gegenüber Weiterentwicklung und Veränderung entwickeln kann. Ein Beschluss hat regelmäßig konservative Wirkung, weil er eine Augenblicksmeinung in eine unbekannte Zukunft ausstrahlen lässt.
  • Im Gegensatz zu freien Vereinbarungen, die zwischen Interessierten, Beteiligten und/oder Betroffenen entstehen, deren Verbindlichkeit auf der Einigung und Überzeugungskraft des Abgesprochenen beruht und aus denen neue Ideen entwickelt werden, wenn jemand etwas Neues dazu einfällt, finden Abstimmungen für eine definierte Menge Menschen statt (z.B. ein Verein, eine Nation, eine Gemeinde oder ein Betrieb). Sie gelten damit für das Kollektiv und nicht für die konkreten Menschen, d.h. auch für Personen, die zufällig fehlten oder erst am Tag danach hinzustoßen. Andererseits sind Menschen abstimmungsberechtigt, die sich vielleicht gar nicht für die Fragestellung interessieren und dann gleichgültig abstimmen oder sich von vorgetragenen Meinungen mitreißen lassen.
  • Zudem machen Beschlüsse nur Sinn, wenn sie auch formale Bestandskraft haben. Im Zweifel benötigen sie der Durchsetzung, d.h. einer Exekutive bzw., deutlicher ausgedrückt, einer Art Polizei. Wo diese Macht angesiedelt ist, kann sehr unterschiedlich sein, aber formal oder informell ist sie mit dem Fällen kollektiver Entscheidungen verbunden.
  • Die Abstimmungsgemeinschaft stellt einen Zwang dar, weil es nichts mehr nützt, sich zu entziehen. Das Ergebnis gilt auch für die Person, die nicht mit abstimmt, wenn sie dem Kollektiv zugerechnet wird.

Gegenmodell ist das Prinzip einer Welt, in der viele Welten Platz haben - heruntergebrochen auch in alle Subräume der Gesellschaft. Ausnahmen bilden die temporären Zweckgemeinschaften, also Runden von Menschen, die für ein bestimmtes Projekt zusammenkommen, dieses durchführen oder sich darüber beraten wollen. Gelingt ihnen eine Einigung, bedarf es keiner inneren Vielfaltsorganisierung mehr. Das aber bezieht sich nur auf den jeweiligen Punkt und längstens für die Zeit bis zur Umsetzung des Geplanten. Kommt es im Verlauf der Umsetzung zu Meinungsverschiedenheit, muss wieder neu geprüft werden, ob eine Einigung oder die Organisierung von Vielfalt im Gesamten möglich ist. Ansonsten können konkret handelnde Zweckkooperationen auf Zeit gemeinsame Entscheidungen treffen. Voraussetzung ist, dass alle dieses so wollen. Das gilt z.B. für Aktionsgruppen, die sich zu einem bestimmten Zweck versammelt haben und nun über das konkrete Vorgehen für diese eine Aktivität entscheiden.
Eine über das konkrete Vorhaben hinausgehende Einheit ist damit nicht begründet. Das anders zu handhaben, wäre gefährlich, da es immer Menschen gibt, die Ängste haben, sich zu äußern und sich deshalb einem Gang der Dinge widerspruchslos unterwerfen.

Für alle dauerhaften Organisierungen sowie die Kooperationen zwischen ihnen gilt allerdings, dass eine freie Entfaltung der Persönlichkeiten, die in ihnen wirken oder - im Falle von Kooperationen zwischen Zusammenschlüssen oder Bündnissen - indirekt betroffen bzw. mit gemeint sind, nur gewährleistet werden kann, wenn in den Strukturen Unterschiedlichkeit mindestens zugelassen, besser gefördert wird. Denn die durch soziale Zurichtung, Persönlichkeitsmerkmale und Ausgangsbedingungen noch vorhandenen, nicht gleichen Mitwirkungsfähigkeiten und -möglichkeiten würden sich zu einer Hierarchie entwickeln.

Als Fallbeispiel sei das an politischer Organisierung mit und ohne Entscheidungsgremien aufgezeigt. Üblich sind Gremien, die Entscheidungen fällen oder zumindest so vorbereiten, dass das weitere Prozedere der Bestätigung oder Abwandlung mit nachfolgender Bestätigung dient. Klassisch sind Bündnisse und Dachverbände. Erstere bestehen nach ihrer Logik für einen bestimmten Zweck oder nur ein einzelnes Projekt, können also zeitlich befristet sein. Letztere bilden formale Überbauten, deren Zweck sich wie bei einem Verein durch immer neue Geschehnisse und Vorhaben wandelt.
In solchen Strukturen werden Entscheidungen getroffen, die Bündnisse oder Dachverbände zu handelnden Subjekten machen. Sie haben Namen, oft sogar ein Label, SprecherInnen, manchmal sogar Vorsitzende oder gar Präsidenten. Diese reden im Namen des Ganzen - Stellvertretung und Vereinnahmen kommen als Herrschaftsmomente hinzu. Die Tendenz ist deutlich darauf abgestellt, größtmögliche Geschlossenheit zu erzeugen oder zumindest in der Öffentlichkeit zu suggerieren. Mehrheiten und die Führung eines Bündnisses oder Dachverbandes haben kein Interesse, Ressourcen für abweichende Positionen bereitzustellen. Daher stehen die Schaffung von Einheit und nicht von Vielfalt im Mittelpunkt.

Ähnlich ist es in einem System von Basisgruppen (oft Bezugsgruppen genannt) und den koordinierenden (SprecherInnen-)Räten. Zwar ist, wenn diese basisdemokratisch ausgelegt sind, formal keine Beschlussfassung in den Räten möglich. Zum einen ist das aber reine Theorie, denn die informelle Macht der Koordinierenden ist meist hoch genug, um Akzeptanz für vorgeschlagene Lösungen in den Basisbezügen durchzusetzen. Zum anderen bliebe selbst beim besten Willen, informelle Machtausübung von oben zu vermeiden, eine zur Gleichheit formende Kraft prägend. Denn die SprecherInnenräte können nur das Gemeinsame ausloten, während die Vielfalt nur dann wachsen könnte, wenn die Menschen mit abweichenden und ungewöhnlichen Ideen direkt in Kontakt kämen. Das aber verhindert ein Rätesystem, in dem es nur die Durchschnitts- oder dominante Meinung in die nächsthöhere Ebene trägt, wo dann ein erneuter Druck zur Angleichung besteht.

Eine Welt, in der viele Welten Platz haben, bedürfte einer Organisierungskultur, die bewusst und aktiv Vielfalt schafft. Dafür bedarf es einer Kommunikation, die alle Ideen aufzeigt, damit sich die jeweils daran Interessierten direkt treffen können. Methoden könnten z.B. sein:
  • Brainstorming und anschließende Zusammenführung der Personen mit ähnlichen Ideen (ohne die Gleichschaltung durch Auspunkten oder andere Methoden, um mainstream zu bilden und exzentrische Meinungen auszuschalten)
  • Open Space als umfassendes Gruppenverfahren, bei dem Menschen auf Wandtafeln ihre Ideen sichtbar machen können und darüber Begegnung und Kooperation frei entsteht.

Was vielen nicht klar ist: Das alles ist nicht so exotisch, wie es klingt. Selbst im deutschsprachigen Raum, dieser von den Organisierungsansätzen und Protestformen besonders langweiligen, von Apparaten und Hierarchien gekennzeichneten Region, gibt es funktionierende Modelle - auch im großen Maßstab. Das berühmteste Beispiel ist das Streckenkonzept des Castorprotestes. Es ist aus einem Agreement verschiedener Strömungen entstanden, die jahrelang um die Hegomonie rangen, aber sich nicht besiegen konnten (was durchaus ihr Ziel war). Um den ewigen Kampf z.B. zwischen Militanten und Gewaltfreien zu beenden, entstand die Idee, sich die Kilometer entlang der Straßen- und Schienenstrecke aufzuteilen. Fortan suchten sich alle ein Stück der Strecke, um dort ihre Form von Widerstand zu leben. Es gab hierarchische und dogmatische Organisationen auf den einen Metern, chaotische bis zufällige Aktionszusammenhänge an andern. Insgesamt wuchs aus genau dieser Entscheidung die besondere Kraft - und nur noch selten kam es zu Hegemonialkämpfen um die besten Standorte (bei denen auffiel, dass die Führungsriegen der besonders offensiv mit Etiketten wie "gewaltfrei", "friedlich" oder "basisdemokratisch" auftretenden Großbündnisse die spitzesten Ellbogen ausfuhren).
Im Castorprotest gibt es - zumindest formal - keine Einheit, keine SprecherInnen des Ganzen, kein übergreifendes Bündnis mit Verbindlichkeitscharakter. Dass dieser Zustand zwar bemerkenswert erfolgreich ist, aber den hegemonialen Gruppen der verschiedenen Strömungen nicht gefällt, war immer wieder zu sehen, wenn es um die Frage der Organisierungskultur weiterer Großaktionen ging. Ob beim G8-Gipfel in Rostock oder anderen Anlässen, immer versuchen die Bewegungseliten, Konzepte von Geschlossenheit und einheitlichen Aktionsabläufen durchzusetzen. Leider mit Erfolg und immer auch unter Beteiligung von anarchistischen Strömungen wie den Gewaltfreien, die ohnehin durch das Umfeld der GWR und der Verden-Wendländischen Bewegungsagenturen stark zentralisiert agieren, aber inzwischen auch weiteren autonom-anarchistischen Strömungen mit deren immer gleichen Köpfen z.B. aus Berlin, Bremen und Wiesbaden.

International boten das Sozialforum von Porte Alegre und der Widerstand 1999 gegen die WTO in Seattle gute Anschauung für die Schlagkraft von Konzepten der Vielfalt, in denen Kooperation die zentrale Steuerung ersetzt. In Groß Britannien haben Direct-Action-Gruppen viele Jahre lang solche Aktionsformen verfolgt und damit z.B. in London bemerkenswerte Wirkungen in der Stadt erzeugt.

Im Original: Organisation nie als Selbstzweck
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
Die von unten aufgebaute Organisation führt Personen zu Bünden zusammen, oft die gleichen Personen zu verschiedenartiger Verbündung. Man organisiert sich unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Zusammengehörigkeit nach Gesinnung, Aufgaben und Örtlichkeit. Die Gesinnungsgenossen, die zu gemeinsamer Tätigkeit Verbundenen, die in Häusern, Straßen, Gemeinden, Städten auf gleichmäßige Bedingungen Angewiesenen, halten bei völliger Selbständigkeit in allen Entschlüssen gute Fühlung zu Bünden ähnlicher Beschaffenheit. Es findet dauernde gemeinsame Beratung in betrieblichen, beruflichen, weltanschaulichen Dingen statt, der Grundsatz der gegenseitigen Unterstützung ist für alle gemeinschaftlichen Maßnahmen verbindlich, ohne der Selbstverantwortung jeder Persönlichkeit und jeder Gruppe Abbruch zu tun. Es entsteht ein netzartiges Gewebe bis ins Einzelglied selbständiger, einander wechselseitig durchwirkender Arbeits-, Gesinnungs- und Nachbarsbünde, deren Einfluß- und Raumgebiet von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Bezirk zu Bezirk, von Provinz zu Provinz, von Land zu Land, oder auch von Werkstatt zu Werkstatt, von Betrieb zu Betrieb, von Industrie zu Industrie, kurz in jeder wirtschaftlichen und geistigen Beziehung von Mensch zu Volk und Gesellschaft ausgreift und in lebendiger Gemeinschaft alle Beteiligten allen anderen Beteiligten kameradschaftlich zuteilt. Die anarchistische Organisation hat stets so auszusehen, daß sie im Kleinen das Bild der erstrebten freiheitlichen Gesellschaftsorganisation vorführt.

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