Organisierung

PARTEIEN ALS ORGANISATIONSRÜCKGRAT DES STAATES

Parteigründungen als Integration politischer Protestbewegungen


1. Parteien als prägende Säulen der Demokratie
2. Parteien bestimmen die Diskurse (Volksmeinung)
3. Parlamente und Parteien
4. Parteiengesetz
5. Linke und Protestparteien
6. Parteigründungen als Integration politischer Protestbewegungen
7. Kritische Links zu Parteien


Es wiederholt sich: Politische Bewegungen entstehen. Wenn es gut läuft, wachsen sie, setzen gesellschaftliche Impulse und bedrohen bestehende Normen, Diskurse oder Strukturen. Diejenigen, die vom Status Quo profitieren, in ihm über Privilegien verfügen bzw. Steuerungsmacht innehaben, wehren sich. Allerdings tun sie das oft nicht nur durch eine plumpe Abwehr mittels Diskreditierung in der öffentlichen Meinung oder repressiver Mittel, sondern durch die Übernahme von Teilideen und einzelnen Personen, soweit ihre Pfründe dadurch nicht bedroht werden oder die Integration der neuen Impulse ihnen sogar nützen. Schon solche Vereinnahmungsversuche setzen die impulsgebenden Bewegungen einem erheblichen Druck aus. Oft kommt es sehr früh zu spaltendem Streit darüber, wie stark sich die Akteuris dieser Assimilationskraft hingeben sollten.
Eine neue Dimension erreicht der Assimilierungsprozess neuer Impulse, wenn aus den Reihen der ursprünglichen Akteuris oder der im Zuge erster Teilerfolge hinzustoßender Unterstützis selbst Strukturen geschaffen werden sollen, die den bisherigen gesellschaftlichen Mustern entsprechen. Möglich und typisch sind unter anderem:
  • Gründung von Firmen, die neue Produkte, Dienstleistungen oder sonstige Angebote, die auf der eingebrachten Idee basieren oder deren Ideen werbemäßig nutzen, auf den Markt bringen.
  • Gründung neuer Vereine, Verbände, NGOs und Bewegungsagenturen oder Themenübernahme durch bereits bestehende Organisationen. Sie saugen die neuen Impulse mit ihren formalisierten Strukturen auf und nutzen sie für ihre Zwecke z.B. der Mitglieder- oder Spendenwerbung bzw. der Vorstufe dazu, der Präsentation des eigenen Labels in der Öffentlichkeit.
  • Übernahme des Themas durch Medien, Influencer und andere Akteur*innen der öffentlichen Meinungsmache zu wirtschaftlichen Zwecken (Aufmerksamkeit, Reichweite, Abonnent*innen, Werbeeinnahmen usw.) und/oder Beeinflussung der öffentlichen Debatte. Die Darstellung der thematischen Impulse soll dabei je nach Eigeninteresse diese verstärken, beschränken, bekämpfen oder – der häufigste Fall – verwandeln in eine systemkonforme oder verlustarm integrierbare Variante (z.B. Klimaschutz als Geschäftsmodell, Umweltschutz als Chance zu internationaler Dominanz).
  • Gründung neuer Parteien und Wahllisten oder Themenübernahme durch bestehende Parteien, die Inhalte und oft auch einen Teil der Aktiven integrieren, um deren Aktivitäten, Bekanntheit und Inhalte in Wahlwerbung und parlamentarische Arbeit zu verwandeln.

Um Letzteres soll es hier gehen. Die obige, sicherlich nicht vollständige Aufzählung sollte aber zeigen, dass es nicht die einzige Art der Assimilation neuer, gegenkultureller oder gesellschaftskritischer Positionen ist. Anlass ist die aktuell (Ende 2020) recht schnell um sich greifende Gründungswelle von Parteien und Wahllisten mit Schwerpunkt Klimaschutz, die auf dem Höhepunkt der Mobilisierungskraft außerparlamentarischer Bewegung einsetzte und nun dieser neben dem ohnehin einsetzenden Nachlassen der Zugkraft für inzwischen ausgetretene Aktionsformat viele Aktive und Raum in der öffentlichen Darstellung rauben.

Nicht schon wieder - Klimaschutz als Partei?
Dies ist der fünfte Clip im Hirnstupser spezial "Danni bleibt" - der ist aber auch darüber hinaus passend. Denn die seltsame Neigung, aus sozialen Bewegungen - gerade wenn sie relativ erfolgreich sind - kommerziell orientierte NGOs, Firmen und Parteien zu formen, ist überall prägend. Damit werden den unabhängigen Protestsphären viele Menschen entzogen und deren Glaubwürdigkeit ruiniert. Vor allem aber wirkt hier die perfide Logik der Assimilation. Bewegungen werden vom herrschenden System bekämpft, solange sie klein sind. Können sie trotzdem wachsen und Themen setzen, werden aus ihrem Impuls Firmen, NGOs und Parteien geschaffen oder der Impuls von bestehenden Strukturen dieser Art aufgesogen. Geschieht das erfolgreich, wenn z.B. neue Parteien ins Parlament einziehen oder Firmen Gewinne machen, werden noch mehr Menschen als Mandatsträger*innen oder Angestellte integriert. Sie sind dann zum Teil des Mainstreams geworden. Mit der Gründung von Klimalisten wiederholt sich dieses traurige Schauspiel der Assilimation ins Bestehende mal wieder.


Argumente gegen Parteigründungen aus sozialen Bewegungen
1. Parteien zu gründen bzw. zu Wahlen anzutreten, beschränkt Inhalte, zerfleddert Ideen und zerstört Ideale.
Der Gang in die Parlamente ist keine offensive Strategie, sondern die Assimilation von kritischen Gedanken und erfolgreichen Bewegungen in und oft auch durch das System. Das geschieht nicht nur auf den offiziellen und jederzeit erkennbaren Wegen über die Angebote von Bürger*innenbeteiligung in Gremien und auf Veranstaltungen aller Art sowie durch formale Strukturen, die Impulse in gesellschaftlich vorgegebene Bahnen zu lenken. Dazu gehören Parteien, Firmen, Vereine und andere Organisierungsmodelle, die – gesetzlich vorgeschrieben – hierarchisch sortiert, mit festem Label ausgezeichnet und von den Strukturen her an bisherige Strukturen angelehnt sein müssen. Vieles geschieht auch unscheinbarer durch die Übernahme von Teilideen in Programme, Werbung und andere Verlautbarungen vorhandener Player im gesellschaftlichen Raum. Mitunter reicht schon die Scheinübernahme zum Beispiel durch Verwendung des gleichen Vokabulars. Begriffe wie „nachhaltig“, „naturbelassen“ und lange Zeit auch „bio“ zeugen davon.
Im Reigen dieser Übernahmeformen ist die Gründung einer Partei oder Wahlliste ein besonderer Schritt, stellt er doch die ausschließliche Fixierung von sozialen Impulsen auf die genormten Wege möglicher Durch- und Umsetzung dar. Der jeweilige Impuls, sei es die aktuelle Klimaschutzdebatte aus der neu erstarkten Umweltbewegung heraus oder ein anderes Thema, würde durch die Übergang der bislang außerparlamentarischen Akteuris in den parlamentarischen Raum zu einem weitgehenden oder ausschließlichen Ränkespiel in Gremien statt zu einer Sache der Zivilgesellschaft.

2. Verlust der Über- und Unparteilichkeit
Mit der Kandidatur verlieren Bewegungen, auch wenn es nur einige aus dem Kreis der vorher außerparlamentarisch Aktiven betrifft, den Status als außerparlamentarische, d.h. überparteiliche Gruppe, die einer Idee verpflichtet ist. Das schwächt statt zu stärken. Die vorgetragenen Ideen und die durchgeführten Aktionen geraten in den Geruch, Parteiwerbung oder Wahlkampf zu sein. Selbst wenn nicht gewollt ist, werden andere Parteien es aus taktischen Gründen so auslegen. Eine Partei zu sein, heißt immer, in Konkurrenz zu anderen Parteien und ihrem Klientel zu stehen. Denn der parlamentarische Raum oktroyiert als Spielregel zwischen den Akteur*innen das Ringen um Macht und Einfluss – gegeneinander (sowie wie der Kapitalismus das für Unternehmen vorschreibt).
Schwieriger wird der Austausch mit anderen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen auch für die Teile politischer Bewegung, die an einem aus ihrem Kreis entstandenen Parteiprojekt nicht mitwirken, weil alle immer in den Geruch geraten, mit der neuen Wahlliste oder Partei zusammen zu agieren. Auch wenn das für die, die nicht mitmachen und sich vielleicht sogar gegen die Parteigründung aussprachen, ungerechtfertigt erscheint, wird es so sein. Auftritte als Aktivistis, Bürger*innen, Leute aus der Zivilgesellschaft oder wie auch immer das vorher bezeichnet wurde, sind für die, die in einer Partei oder Wahlliste mitwirken, vorbei – und für ihre Ex-Mitkämpfis bedeutet es einen ständigen Rechtfertigungsdruck.

3. Wieder ein paar Aktive weniger …
Wird aus einer sozialen Bewegung heraus eine Wahlliste oder Partei gegründet, werden sich Menschen entscheiden, dort mitzumachen oder nicht. Alle, die mitmachen, geraten in jedem Fall ab diesem Zeitpunkt in den Verdacht oder Verruf, mit ihren Aktivitäten Wahlkampf zu betreiben. Die öffentliche Wahrnehmung ihres Handelns wird unter diesem Blickwinkel stehen – ob sie wollen oder nicht. Die anderen Parteien, jetzt Konkurrenz statt Zieladresse, werden diese Sichtweise bestärken. Die Wirkung strahlt aber auch auf die aus, die sich nicht an der Wahlliste oder Partei beteiligen. Wegen der Themengleichheit und gemeinsamen Vergangenheit wird ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung und durch entsprechende taktische Spielchen der anderen Parteien untergeschoben werden, verdeckte Wahlunterstützis für die Wahlliste oder Partei zu sein. Das übt wiederum einen Druck aus, sich davon zu distanzieren – was zwar nicht klug ist, aber manch Beteiligtem notwendig erscheinen wird. Da eine enge Kooperation der ehemals gemeinsam Aktiven den Verdacht verdeckter Wahlwerbung stärken würde, werden zumindest einige Beteiligte die bisherige Zusammenarbeit einschränken oder beenden. Die Gründung einer Wahlliste wird daher spalten – und dadurch schwächen.
Diese Wirkung ist mit der Wahl nicht vorbei. Sollte die Partei oder Liste Erfolg haben, werden weitere Personen überlegen, dort einzusteigen. Vermutlich wird die Liste, wenn sie aus der Bewegung entstanden ist, auch von sich aus versuchen, den Kontakt zu halten und – mit guten Absichten – die ehemals Verbündeten jetzt in Vorbereitung der parlamentarischen Arbeit einzubinden. Das wird mit Selbstdarstellungen wie „parlamentarischer Arm der Bewegung“ oder ähnlichen Floskeln unterfüttert, bedeutet aber praktisch, dass bis zur vollständigen Abkopplung vom eigenen Ursprung (also der Etablierung als reine Partei) ständig bislang nicht eingebundene Menschen rekrutiert werden. Immer mehr Energie wird in die Vorbereitung parlamentarischer Aktivität gesteckt – und immer weniger in den vorher prägenden Kampf um die öffentliche Meinung.

4. Das Wahlergebnis wird als Gradmesser des Rückhalts gewertet.
Soziale Bewegungen erwecken oft den Eindruck, die Meinung, Unzufriedenheit oder Vorschläge vieler zu bündeln und in die Öffentlichkeit zu tragen. Insbesondere bei spektakulären Aktionen wird dieser Eindruck noch verstärkt. Wie viele Menschen tatsächlich hinter ihnen stehen, ist nicht feststellbar. Das ist für soziale Bewegungen ein Vorteil. In der Soziologie ist nämlich unbestritten, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung an politischen Debatten nicht aktiv teilnimmt und sowohl den Status Quo als auch eine Veränderung mitmachen würde. Mitunter lassen sich größere Anteile für einfache Losungen mitreißen und mobilisieren. Darauf beruht die Dominanz populistischer Politikdebatten. Solche Mobilisierungen sind meist aber nur von kurzer Dauer und selbst bei vielen Mitmachenden weit davon entfernt, die Mehrheit der Menschen hinter sich zu vereinen. Daher bestimmen in der Praxis nicht Mehrheiten die Politik und öffentliche Debatte, sondern die jeweils Lautesten unter den Wenigen, die die gesellschaftliche Meinungsbildung beeinflussen. Das sind oft die ohnehin vorhandenen Eliten, weil diese viele Privilegien haben, ihre Meinungen wirksam in die Öffentlichkeit zu bringen. Es können aber auch soziale Bewegungen sein, wenn ihre Themen aufgegriffen und verstärkt werden oder sie mit spektakulären Aktionen die öffentliche Wahrnehmung prägen. Gerade Themen, die über kreative, direkte Aktionen dargestellt werden, erzeugen viel Aufmerksamkeit, erhalten Einzug in die Medien und werden deshalb im politischen Raum wichtig genommen. Tritt nun eine Wahlliste oder Partei mit genau diesen Themen an, entsteht ein Messwert für die tatsächliche Unterstützung. Dieser fällt vermutlich deutlich tiefer aus als die Zustimmung bei einer Einzelabstimmung über das Thema– und noch viel tiefer als der durch öffentliche Aktionen entstandene Schein politischer Dominanz.
Bei Ein-Themen-Parteien ist diese Wertung zwar eigentlich ungerechtfertigt, sagt doch die Auswahl zwischen Pauschalangeboten ganzer Themenpakete nichts darüber aus, wie die Bevölkerung zu einer Einzelfrage, z.B. dem Klimaschutz, steht. Die Alt-Parteien werden aber das Wahlergebnis trotzdem dazu nutzen. Egal ob eine neue Partei 2 Prozent oder, was ungewöhnlich wäre, 20 Prozent erhält – es ist eine Minderheit. Das wird durch die Beteiligung an der Wahl plötzlich deutlich.

Nach der Kommunalwahl in Hessen wurde auf der Landesseite der sich selbst dort als "politische Graswurzelbewegung" bezeichnenden Klimalisten eine Übersicht über die besten Wahlergebnisse veröffentlicht. Die mickrigen Prozentbeträge wurden - ganz in der Praxis der etablierten Parteien - als Erfolg dargestellt:
Die Ergebnisse der Klimaliste können sich sehen lassen:
KL Marburg: 6,41 %, 4 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung
KL Marburg-Biedenkopf: 3,30 %, 3 Sitze im Kreistag
KL Darmstadt-Dieburg: 1,69 %, 1 Sitz im Kreistag
KL Vogelsbergkreis: 1,45 %, 1 Sitz im Kreistag
KL Oberursel: 3,18 %, 1 Sitz in der Stadtverordnetenversammlung
KL Königstein: 2,77 %, 1 Sitz in der Stadtverordnetenversammlung

5. Die Erwartung, durch die Gründung einer Partei oder Wahlliste den öffentlichen und politischen Meinungsraum gezielter beeinflussen zu können, ist überhöht.
Keine Einzelgruppe in der Gesellschaft kann bestimmen, wer was in der Öffentlichkeit formuliert. Medien und andere Player im gesellschaftlichen Raum verfolgen eigene Interessen. Die können, vor allem zu Beginn einer neuen Organisierung, scheinbar deckungsgleich oder zumindest förderlich für die neue Partei oder Liste sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die weitere Entwicklung tatsächlich gesteuert werden kann. Erst recht werden andere Parteien die Chance ergreifen und den nun zur Partei gewandelten, ehemals unabhängigen Aktiven in Zukunft Eigennutz vorwerfen. Sie werden systematisch die Behauptung aufstellen, dass die verbleibenden, außerparlamentarisch Aktiven nur ein Propagandaverein für die Wahlliste oder Partei sind. Selbst wenn das nicht stimmt, würde es so rüberkommen. Aber oft stimmt es sogar. Die Gründung einer Partei oder Wahlliste ändert daher nicht nur den Status der dort direkt Mitwirkenden, sondern schädigt die ehemaligen Kampfgefährt*innen. Von daher ist die Gründung einer Firma, NGO oder Partei aus einer Bewegung heraus auch immer rücksichtslos gegenüber denen, die den Schritt nicht mitgehen.
Durch diesen Effekt sinkt die Wirkung auf öffentliche Debatten. Eine Partei schafft zwar mitunter einfacher und häufiger den Sprung in die Medien, erzeugt aber dort nicht die gleichen Effekte, weil es eben nicht als reiner Idealismus betrachtet wird, was in Parlamenten vorgetragen wird.

6. Wahllisten und Parteien neigen zur Vereinnahmung der ihnen nahe stehenden Bewegungen.
Parteien, Firmen und NGOs brauchen Erfolge als Selbstzweck. Sie können nicht frei entscheiden, auf Vorteile für den Selbstzweck der Organisation (Mitglieder, Spenden, Wähler*innen, öffentliche Aufmerksamkeit) zu verzichten. Die Gründung oder der Einstieg in solche Strukturen ist die Entscheidung, möglichst alle verfügbaren Ressourcen für den Organisationszweck zu nutzen. NGOs und Bewegungsagenturen versuchen ständig, finanzielle Quellen und erfahrenes Personal für sich zu gewinnen sowie die Anteile in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu eigenen Gunsten zu verschieben. Sie können nicht anders, weil das Überleben der oft aufwändigen Strukturen davon abhängt. Parteien und Wahllisten versuchen, Themen aus politischen Bewegungen für die eigene Profilierung zu übernehmen oder deren Akteur*innen in die eigenen Strukturen aufzusaugen. In der Regel sind daher Beteuerungen der aus einer Bewegung in Partei, Firma oder NGOs einsteigenden Personen, sie würden die außerparlamentarisch bleibenden Teile nicht für ihre neuen Zwecke benutzen, unglaubwürdig.

7. In den Tempeln der Macht wird jede*r zum Arschloch oder kämpft zeitlebens mit den Windmühlen oder, dritte Variante, fliegt wieder raus.
Es ist vermessen von den Menschen, die Parteien, Firmen oder NGOs gründen oder dort einsteigen, zu glauben, dass sie die ersten sind, die nicht im kapitalistischen Markt oder parlamentarischen Betrieb untergehen oder sich anpassen.
Ein Wahlerfolg erzwingt das Mitmachen im parlamentarischen System. Das ist ja auch das Credo des Wahlantritts. Durch die Behauptung, ein Antritt zu den Wahlen würde die Möglichkeiten erhöhen, etwas zu erreichen, wird das parlamentarische System gelobt. Ein Wahlantritt aus einer politisch-oppositionellen Bewegung heraus ist daher ein Paradox. Der Antritt erfolgt, weil dem politischen System vorgeworfen wird, die Probleme nicht anzupacken. Statt in den Zwängen des Systems die Gründe für dieses ewige Versagen und den Verrat aller Ideale zu analysieren, wird genau dieses parlamentarische System als Hoffnungsträger aufgesucht. Plötzlich heißt es, dass mensch selbst mitmachen und Politiker*in werden müsse, weil da was zu erreichen sei. Weil das parlamentarische System nicht funktioniert, müsse mensch dort mitmachen – eine völlig unlogische Schlussfolgerung. Die Aussage ist zudem das glatte Gegenteil des Bildes, dass Politiker*innen ihre Fahne in den Wind hängen und politische Bewegung deshalb den Wind machen muss – statt selbst die Fahne rauszuhalten.
Es wird das Gegenteil passieren – wie bei den Hunderten, Tausenden vor denen, die es jetzt wieder mal versuchen. Das liegt nicht an Charakterschwächen, sondern das Mitmachen im parlamentarischen Betrieb zwingt zum Schachern. Eine Hand wäscht die andere: Wir stimmen deiner Klimaschutzidee zu, wenn du im Gegenzug unserer Idee zu XY zustimmst. Jedes Mal stehst du vor der Entscheidung, deine Idee nicht durchzukriegen oder eine eigentlich nicht gewollte Idee mit passieren zu lassen. Im Ergebnis wirst du in diesem System zum Opportunisten – und zwar zwangsläufig. Alle sind das geworden. Für was halten sich diejenigen, die jetzt kandidieren, dass ihnen das als erste Menschen dieser Welt nicht passiert?

8. Speziell zur Frage des Klimaschutzes: Die Auffassung, die außerparlamentarisch Bewegung sei erfolglos, ist oberflächlich, falsch und eher ein Trick zur Legitimation der Parteigründung.
Die Idee einer Wahlliste für Klimaschutz beruht auf der Analyse, dass die Politik sich in Sachen Klimaschutz viel zu langsam bewegt – wenn überhaupt. Die Ableitung daraus, deshalb selbst ins Parlament zu gehen, beruht jedoch nicht nur auf dieser berechtigten Kritik und der, hier irrtümlichen, Auffassung, eine Präsenz im Parlament würde die Lage verbessern, sondern auch auf einer weiteren falschen, wenn auch zunächst plausibel erscheinenden Analyse. Aus den fraglos viel zu zaghaften Klimaschutzbemühungen der Regierungen und Konzerne wird gefolgert, dass die außerparlamentarische Arbeit offenbar nicht genug Druck erzeugen konnte und folglich so nicht schlagkräftig genug war. Das aber stimmt nicht. Vielmehr hat die Klimagerechtigkeitsbewegung in recht kurzer Zeit die Forderungen nach weitgehenden Veränderungen populär gemacht. Das gilt sowohl überregional als auch lokal. Dass zum Beispiel in Gießen die Forderung, 2035 klimaneutral zu sein, so glatt angenommen wurde, war ein großartiger Erfolg. Natürlich sind die politischen Debatten und Ablenkungsmanöver ebenso peinlich wie die Greenwashings der Industrie. Dass Politik und Wirtschaft zu diesen dreckigen Tricks gezwungen sind, zeigt aber gerade die Stärke der aktuellen Umweltbewegung. Statt den Weg nun abzubrechen und plötzlich dort mitzumachen, wo eigentlich bislang nur Defizite analysiert wurden, wäre es schlau, durch zusätzliche, kreative Aktionskonzepte die bisherigen Handlungsmöglichkeiten weiter auszubauen. Jetzt Ideen und Personen abzuziehen sowie die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit leichtfertig aus der Hand zu geben, ist mehr als dumm. Statt diesen neuen, kapitalen Fehler zu begehen, müssten die auch ohne Wahlantritt schon bestehenden, selbstverschuldeten Hemmnisse für mehr Erfolge abgebaut werden wie Verbandsegoismen, kommerzielle Interessen, Machtkämpfe usw.
Unter dem öffentlichen Druck hat die Politik überall Beschlüsse gefasst – vom Pariser Klimaabkommen überregional bis zum lokalen 2035null-Beschluss. Das ist eine Folge der politischen Bewegung. Auf diesen, erst den Anfang bildenden Erfolg ließe sich aufbauen, denn damit gibt es einen Maßstab und es wird tagtäglich offensichtlich, dass die Politik versagt, weil sie auch die selbst beschlossenen Ziele nicht verfolgt – und auch nicht verfolgen will. Das ist grundsätzlich eine gute Basis für politische Aktion – außerparlamentarisch. Die Politik lässt sich neben den ohnehin vorhandenen Argumenten mit ihren eigenen Beschlüssen unter Druck setzen. Im Parlament wäre das schwierig. Plötzlich gäbe es eine „zuständige“ Partei für Klimaschutz. Die anderen könnten aufhören, sich darum zu kümmern.
Politische Bewegung sollte weiter an die Mobilisierungserfolge anknüpfen und versuchen, die Schwächeperiode auf der Straße, die mit Corona und dem (erwartbaren) Abebben der FFF-Welle einherging, zu überwinden. Dafür sind neue, kreative Ideen und Initiativen gefragt – nicht die Umwandlung von Protest in formale Abläufe im Parlament.

Und jetzt? Eine persönliche Konsequenz …
Kommentar von Jörg Bergstedt aus der Projektwerkstatt Saasen
Die Gründung neuer Parteien und Wahllisten ist vielerorts beschlossene Sache. Junge, unerfahrene Aktivist*innen verbinden sich in ihnen mit alten Hasen, die zum Teil schon für andere Parteien in Parlamenten gesessen haben und – trotz des Scheiterns in den vorherigen Versuchen – schon wieder an die Wandelbarkeit des parlamentarischen Systems glauben. Mir fehlt das Verständnis für so viel Naivität bzw. Vergesslichkeit. Ich werde mich nicht beteiligen. Die ersten Schäden sind längst eingetreten und Gruppen, Projekte, Kampagnen oder Netzwerke, aus denen die Neu-Politiker*innen stammen, geschwächt bis eingeschlafen. Das wird sich ausdehnen.
Ich werde Abstand halten. Mir ist der Status eines außerparlamentarischen Aktivisten wichtig. Ich halte den parlamentarischen Raum für keine geeignete Plattform für progressive Politik. Der verlogene Umgang in Gießen mit der Selbstbindung, 2035 klimaneutral zu werden, beweist das ja gerade und führt bei mir zu mehr Distanz vom Parlamentarismus statt zum Wunsch, da mitzumachen. Ich bedaure, ziemlich sicher eine große Zahl von Menschen zu verlieren, mit denen ich gern und gut zusammengearbeitet habe. Aus politischen Gründen und der Hoffnung auf baldige Genesung werde ich ihnen nicht alles Gute im Kampf mit den Windmühlen wünschen.

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