Projektwerkstatt

THOMAS ELLWEIN: POLITISCHE VERHALTENSLEHRE

Bürger und Politik


1. Führungsschicht und einzelner Bürger
2. Bürger und Politik

Der gehorsame Bürger
Demokratie hat die Tatsache der politischen Herrschaft nicht beseitigt. Wo es Menschen gibt, gibt es Herrschaft und damit auch Beherrschte. Sie sind der Herrschaft ‘untertan’ und müssen ihr gehorchen. Wir wenden uns zwar gegen die ‘Untertanengesinnung’, können damit aber nicht den Gehorsam aus der Welt schaffen, sondern nur den ‘untertänigen Gehorsam’ überwinden. ‘Untertanengesinnung’ äußert sich in Anbetung der Macht oder der politischen Führung, in Kritiklosigkeit aus Prinzip oder aus Angst vor der Gewalt und endlich darin, daß jedem Gebot der Obrigkeit gefolgt wird. Der Gehorsam des Bürgers in der Demokratie ist von anderer Art. Er ist idealiter vom Bürger sich selbst auferlegt und nicht von anderer Seite; tatsächlich ist er ein Gehorsam aus Einsicht, was nicht ausschließt, daß "die Einsichtigen den Uneinsichtigen deren Gehorsam aus Einsicht auferlegen werden" müssen (H. Krüger, ‘Allgemeine Staatslehre’, Stuttgart 1964, S. 985). Die Einsicht in die Notwendigkeit des Gehorsams kann wie dessen innere Begründung aus verschiedenen Quellen gespeist werden.

So heißt es z. B.: "Das richtige Verhältnis zwischen Gewissen und Staatsraison liegt dann vor, wenn der Gehorsam gegen das durch die Staatsraison Geforderte und der Eigenstand (= Selbständigkeit) des vor Gott sich verantwortlich wissenden Einzelnen sich im Gewissen einen zum eigenständigen Gehorsam. Nur in der strengen Schule eines eigenständigen Gehorsams wächst der Mensch heran, der bereit ist, seine politische Entscheidung nicht nur sachlich zu durchdenken, sondern sie auch vor Gott zu verantworten. Nur so reift der mündige Mensch heran, auf den keine Staatsform so angewiesen ist wie gerade die Demokratie. Es ist der Mensch, der den aus der Staatsraison sich ergebenden Forderungen bis an die Grenze des Möglichen gehorcht, der aber nie zum bloßen ‘Untertan’, zum Funktionär des Staates werden kann, weil Vernunft und Gewissen wach bleiben und weil er sich zu seinen eigenen und den Entscheidungen der Verantwortlichen kritisch verhält. Eine wahrhaft vernünftige Staatsraison wird nicht umsonst an Vernunft und Gewissen der Staatsbürger appellieren, wird aber darum auf ihre vernünftigen Einwände hören. Umgekehrt wird eine Staatsraison, die unvernünftig zu rasen beginnt, damit rechnen müssen, daß sie früher oder später dem Widerstand von Menschen begegnet, die auf die Stimme der Vernunft hören und im Gewissen wach bleiben." (Theodor Ellwein, Freiheit und Bindung des Christen in der Politik, München 1964).
Eines hat der gehorsame Bürger aber mit dem Untertan gemeinsam: Politisch ist die Tatsache des Gehorsams entscheidend, auf die Motive kommt es erst in zweiter Linie an. Ob jemand die Straßenverkehrsordnung aus Einsicht in deren Notwendigkeit einhält oder weil er es so gelernt hat oder weil er die Polizei fürchtet, ist im Blick auf die Funktion des Gesetzes zunächst gleichgültig. Das Gesetz soll den Verkehr regeln. Daß damit erzieherische Wirkungen verbunden sein können, ist ein wünschenswertes Akzessorium. jeder Gesetzgeber ist deshalb gut beraten, der sich überlegt, ob von seinen Gesetzen positive erzieherische Wirkungen ausgehen können oder ob er negative Wirkungen heraufbeschwört.
Allerdings genügt uns diese vordergründige Anerkenntnis des Gesetzes nicht. Jedes totalitäre System und jedes monistische Gemeinwesen, das die verschiedenen Auffassungen der Gruppen unterdrückt, bemüht sich darum, die Einheit der Gesinnung herzustellen. Verherrlichung der Herrschaft, die Gläubigkeit und Bewunderung zur Folge haben soll, oder die Rechtfertigung durch eine Ideologie sind die dabei üblichen Methoden. In der Demokratie besteht hingegen Unsicherheit. Auch in ihr gibt es viele, die die Einheitlichkeit der Motivation für wünschenswert oder sogar für unerläßlich halten. Sie stellen Erziehungziele auf und sprechen staatlichen Institutionen - z. B. der Armee - das Recht zu, im Sinne solcher Ziele pädagogisch an den diesen Institutionen anvertrauten oder eingeordneten Menschen zu handeln. Wenn immer Einflüsse dieser Art im Rahmen politisch verfaßter Einrichtungen, denen der einzelne durch gesetzliche Anordnung zugehört, erfolgen und mit einem denkbaren Zwang verbunden sind, wird es gefährlich. Politische Instanzen haben sich in der Demokratie darauf zu beschränken, ihr Tun rational zu begründen und einsichtig zu machen. Das gilt auch für verbindliche Gebote, besonders für solche, die im allgemeinen als unangenehm empfunden werden. Wer immer Ideen, Ideale, Leitbilder oder Wertvorstellungen zu eng an politische Funktionen anbindet, die ihrerseits mit Macht verknüpft sind, gefährdet das Wesen freiheitlicher Demokratie. Heute verstehen wir unter ihr ein Gemeinwesen, in dem der Wettbewerb der Ideen frei ist und in dem auch durch Mehrheitsbeschluß keine Gesinnung verordnet werden kann. Deshalb müssen Gesetze zumutbar sein, d. h. sie müssen rational begründet werden können. Alles übrige ist Sache der freien Auseinandersetzung. In ihr soll sich jeder nach seinen Kräften bemühen, daß jenes Maß an Solidarität der Bürger erwächst, welches zur Sicherung des Gemeinwesens notwendig ist, und daß dahinter und darüber ein Gehorsam geübt wird, der als "unabdingbares Erfordernis der sittlichen Persönlichkeit erkannt und anerkannt" (H. Krüger) wird.
Das bedeutet: Der Gehorsam des Bürgers in der Demokratie kann verschiedene Wurzeln haben. Axiologisch betrachtet können einige dieser Wurzeln sogar durchaus ‘wertlos’ oder ‘wertfremd’ sein. Das ist aber nicht politisch relevant, sondern es wird zur Aufgabe der Aufklärung, die wir uns innerhalb der Gesellschaft untereinander schuldig sind. In diesem Sinne ist ‘unpolitisch’ und damit vor dem Hintergrund meiner Vorstellung vom Menschen zu sagen, daß der bürgerliche Gehorsam nicht unkritisch sein sollte. Kritischer oder eigenständiger Gehorsam erweist sich darin, daß nicht blindlings oder fatalistisch gehorcht wird, daß Gehorchen vielmehr -nicht immer, wohl aber immer einmal wieder - mit Oberlegen verbunden ist und mit der Bereitschaft, im äußersten Notfall um des dem Gesetz Übergeordneten willen den Gehorsam zu verweigern. Hier liegt das in der Demokratie notwendige ‘Mißtrauen’ begründet. Der gehorsame Bürger ist durch Verfassung und Recht ausdrücklich dazu legitimiert, den Vollzug politischer Entscheidungen und diese selbst zu kontrollieren und sich zu wehren, wenn Unrecht geschieht. Sein wachsames Mißtrauen ist systemimmanent eingeplant, weil das System menschlich ist, deshalb Fehler zuläßt und der Korrektur solcher Fehler bedarf.
Gehorsam ist also unerläßlich: Er unterwirft den Bürger dem Gesetz und dem, was dem Gesetz gemäß von ihm verlangt wird. Das gilt in aller Unerbittlichkeit. Deshalb gibt es politisch einzig und allein die staatliche Gewalt, von ihr ist alle andere Gewalt abgeleitet oder sie ist politisch illegitim. Allerdings schließt dieser Gehorsam in der rechtsstaatlichen Demokratie eben auch ein, dem Gesetze folgend zu prüfen, was diejenigen tun, die ein Amt haben. Bei der notwendigen ‘Erneuerung der Bereitschaft zum Gehorsam’ (H. Krüger) muß auch diese Seite des Gehorsams ins rechte Licht gerückt werden. Verantwortlicher Gehorsam ist idealiter gefordert; praktizierbar ist wenigstens gelegentlich kritischer Gehorsam. Von seinen Äußerungsformen war die Rede.

Der freie Bürger
Sprechen wir von Bürgern, dann kann das ständisch begriffen werden. In der Demokratie wäre das freilich abwegig. Hier ist jeder Bürger, was die Herkunft vieler demokratischer Vorstellungen aus der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtkultur nicht ausschließt. In dieser entspricht dem politischen Begriff des Bürgers das humanistische Ideal von der Persönlichkeit. Persönlichkeiten ‘achten’ einander und haben ihr Persönliches je für sich. Ihr Zusammenleben wird unter dem Gesetz geordnet. Die bürgerliche Denkart, im Gesetz die notwendige Ordnung rational zu schaffen oder zu erkennen, ist Grundlage der rechtsstaatlichen Demokratie geworden.
Der Bürger soll in der Demokratie frei sein. Den Sinn dieser Freiheit zu bestimmen, bleibt ihm überlassen, solange er nicht die Rechte anderer, die Verfassung oder das Sittengesetz verletzt. (Der Begriff Sittengesetz findet sich im Grundgesetz.) Die politische Ordnung hat jene Freiheit zu ‘achten und zu schützen’, gleichgültig in welchem Lebensbereich sie sich äußert. Enger ist auf die politische Ordnung nur die politische Freiheit bezogen, der Teil der Freiheit eines Menschen, durch den umgekehrt wiederum die politische Ordnung bestimmt wird.
Zuletzt handelt es sich dabei lediglich darum, die Konsequenzen aus dem Satz, die Staatsgewalt gehe vom Volke aus, zu ziehen. Polltische Freiheit ist gegeben, solange es keinem Bürger durch Gesetz oder Zwangsmaßnahmen verboten oder verwehrt ist, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Durch solche Teilnahme realisiert der Bürger das Gegenüber seines Gehorsams. Er regiert zwar nicht, aber er bestimmt mit, wie regiert werden soll. Diese Mitbestimmung teilt sich gleichmäßig zwischen ihm und allen anderen Bürgern auf, soweit sie in der Wahl erfolgt. Der Einfluß auf die Mitbestimmung ist verschieden. Die Freiheit des Bürgers ist nicht durch gesetzlichen Zwang oder brutale Gewaltdrohung beeinträchtigt, sondern durch die ‘Verhältnisse’ (= Sozialstruktur). Sie lassen es zu, daß abgesehen von den verantwortlichen Politikern wenige viel und viele wenig Einfluß auf die Willensbildung nehmen können. In diesem Sinne ist uns der Ausgleich zwischen dem ‘jedem das seine’ und dem ‘jedem das gleiche’ nicht gelungen. Kann er gelingen? Die Anhänger verschiedener Ideologien behaupten das. Was sie an Beispielen vorweisen können, schreckt allerdings ab - noch immer wird Gleichheit erst durch Gewalt herbeigeführt und dann durch absolute und unaufhebbare Ungleichheit abgelöst. Demgegenüber haben die ‘Verhältnisse’ in den funktionierenden Demokratien den Vorzug erheblicher Relativität. Sie sind flexibel, können sich also insgesamt ändern und lassen dem einzelnen Spielraum. Sie geben Gleichheit im Angebot relativer Freiheit und damit "jedem eine Chance". Gleichheit in politicis geben sie nicht.
Politische Freiheit ist demgemäß ein Angebot an den Bürger. Sie ist kein Geschenk. Ohne sein Zutun kommt der Bürger nur in den Genuß des Wahlrechts und selbst das empfinden manche noch als Zumutung. (Statistisch ist ermittelt, daß die Wahlbeteiligung mit der Entfernung zwischen Wohnung und Wahllokal abnimmt.) Im übrigen will die Freiheit errungen werden. Der Preis der Freiheit ergibt sich aus der aufzuwendenden Zeit und gelegentlich auch aus dem Maß geistiger Bemühung und finanzieller Beiträge - von Opfer ist nur selten zu sprechen. Im Preis der Freiheit kann aber auch das Risiko eingeschlossen sein. Ein Beamter, der seinen Minister kritisiert, kann nicht unbedingt mit baldiger Beförderung rechnen. Ein Bauunternehmer, der sich mit dem Oberbürgermeister auseinandersetzt, kann nicht gerade mit dem nächsten städtischen Bauauftrag rechnen. Dennoch ist das Risiko begrenzt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die persönliche Freiheit unbedroht - die faktischen Risiken liegen zumeist im wirtschaftlichen Bereich. Wer sie scheut, verzichtet auf Freiheit, denn die Vorstellung von einer risikolosen Freiheit ist albern oder bestenfalls Ausfluß unreflektierter politischer Romantik.
Noch etwas gehört dazu: Uns allen leuchtet ein, daß ein Minister Gegenstand öffentlicher Kritik sein muß. Der Bürger, der sich in die Politik einschaltet, muß sich dem gleichen Gesetz beugen. Er kann, wenn er seine Meinung dartut, nicht erwarten, daß es keine andere Meinung gibt und man ihn andächtig als einzig legitimierten Fachmann anhört. Tatsächlich wird man fragen, was er will, was seine persönlichen Interessen sind, mit wem er in Verbindung steht - unversehens ist die Sphäre der Öffentlichkeit gegeben. Das aber gehört zum Geschäft. Wer von seinem Stückchen Herrschaft Gebrauch macht, tritt damit als einer der Herrschenden auf und unterliegt zugleich der Kritik. Insofern löst sich die Entgegensetzung zwischen Regierenden und Regierten in der Demokratie immer wieder auf, weil immer wieder einzelne Bürger versuchen und versuchen müssen, nicht nur verantwortlich zu gehorchen, sondern auch auf die Weisungen Einfluß zu nehmen oder sie gar herbeizuführen. Selbst wenn sie zu Weisungen nicht durch ein Amt legitimiert sind, sich also wirklich mit der Einflußnahme begnügen müssen, so üben sie doch auch damit ein Stück Staatsgewalt aus, da sich diese nicht lediglich im Entscheiden selbst und im Vollziehen aktualisiert - alles Vorbereitende gehört dazu. Wir nähern uns nicht demütig der allein zuständigen Amtsgewalt, sondern fordern aus gutem Recht! Daß andere dieses Recht bestreiten oder ihr Recht dagegen setzen und wir dann für unsere Sache ‘eintreten’ müssen, gehört mit zum Preis der Freiheit.

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