Projektwerkstatt

KOORDINIERUNG UND KOOPERATION
AUF DER METAEBENE DER GESELLSCHAFT

Perspektiven


1. Einleitung
2. Zentrale Steuerung
3. Demokratische Legitimation
4. Räte
5. Die übersehenen Problem aller Modelle: Eliten, Ressourcen, diskursive Macht ...
6. Perspektiven
7. Links

Das Modell der Räte war ein gedanklicher Schritt in die richtige Richtung. Aber kein ausreichender, vielmehr ein eher sehr zögerlicher. Allerdings braucht das Modell nicht vollständig auf dem Müllhaufen autoritärer Gesellschaftsideen entsorgt werden, sondern kann mit den Ideen von Horizontalität, offenen Systemen und Hierarchielosigkeit verbunden werden.
Dann ergibt sich, dass die Koordinierung und Kooperation durch ein horizontales Netz von Interessierten- und Betroffenenräten erfolgen kann - wobei der Begriff des Rates austauchbar ist. Denn die einzelnen Runden haben keinerlei Legitimation oder Entscheidungskompetenz. Sie bestehen nicht aus Delegierten einer darunterliegenden Ebene (keine Macht- oder Delegationspyramide), d.h. sie können sich auch nicht darauf berufen, sondern existieren aus eigenem Entschluss. Die Teilnahme an einer jeden Runde erfolgt durch Selbstdefinierung. Wer betroffen oder interessiert ist, kann nicht von Außen entschieden werden, sondern durch die Beteiligten selbst. Um vorhandene Unterschiede an der Möglichkeit der Teilnahme abzubauen, werden soziale Innovationen nötig sein, die die tatsächliche Einbeziehung aller daran Interessierten sichern.
Ob eine Runde ein lokales, regionales oder globales Problem anpackt, ist ihre eigene Sache. Sie erhebt sich aber in keinem Fall damit über andere Gruppen. Jede Koordinierung ist wieder ein eigenes Projekt, also kein Überbau. Wenn also zwei Orte ihre Wasserversorgung planen und eine dritte Runde Ideen sammelt, wie eine Kooperation möglich ist, so kann diese auch zum Teil aus gleichen Personen bestehen, hat aber kein übergeordnetes Mandat, sondern ist eine Ideenrunde neben den anderen.
Ein übergreifender Vorschlag setzt sich nicht per übergeordneter Versammlung, sondern über direkte Akzeptanz durch. Daher können alle Zusammenkünfte, ob nun als Räte bezeichnet oder anders horizontal zueinander stehen. Alle haben die gleichen Möglichkeiten. Niemand ist mittels eines Mandats Mitglied der Runde, sondern jede Runde ist offen für alle.

Keiner zentralen Planung bedürfen Kommunikation und Kooperationsanbahnung zwischen den vielen Runden. Sie ist Sache der Runden selbst oder speziell dazu entstehender Räte, Gruppen, Projekte oder was auch immer. Sie bilden ebenso keinen Überbau, sondern ihre Ideen zur Vernetzung sind so erfolgreich, wie sie auf Akzeptanz stoßen. Der Vorteil, der durch Informationsflüsse, Kooperation, Wissens- und Ressourcenteilung entsteht, ist so offensichtlich, dass es ausreichend oft zur Vernetzung kommen wird. Die Verluste durch eine zentrale Steuerung wären viel größer als die durch das Herausfallen einzelner Runden aus Kooperation und Kommunikation.
Solches gilt auch für Medien aller Art (einschließlich Internet). Es bedarf keiner Kontrolle und keiner zentraler Organisierung. Sie werden entstehen. Wie sie agieren, ist ihre Sache. Sie dürfen keinen Überbau bilden, sondern sind ein Projekt in der Vielfalt. Aus eigenem Interesse werden sie sich vielfach verknoten und so selbst einen Baustein von Kommunikation und Kooperationsanbahnung bilden. Einige werden stark interessengeleitet sein - aber eine Kontrolle würde auch hier viel stärker das Ganze ausbremsen als die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit, die auch Einseitigkeiten als Teil einer Vielfalt lässig ertragen kann.

Im Original: Soziale Orte statt Gremien
Aus Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): „Multitude“, Campus Verlag in Frankfurt (S. 373 f., mehr Auszüge ...)
Die Multitude produziert nicht nur Güter und Dienstleistungen; sie produziert auch und vor allem Kooperation, Kommunikation, Lebensformen und soziale Beziehungen. Anders ausgedrückt: Die ökonomische Produktion der Multitude ist nicht nur Modell für die politische Entscheidungsfindung, sondern sie wird immer mehr selbst zur politischen Entscheidungsfindung.
Vielleicht lässt sich die Entscheidungsfindung der Multitude als Ausdrucksform begreifen. Denn die Multitude ist in gewisser Weise ähnlich wie eine Sprache organisiert. Sämtliche Elemente einer Sprache sind durch ihre Unterschiede zueinander definiert und funktionieren dennoch als Ganzes. Eine Sprache ist ein flexibles Netz von Bedeutungen, die sich gemäß den akzeptierten Regeln in unendlich vielen verschiedenen Varianten miteinander kombinieren lassen. Ein spezifischer Ausdruck ist somit nicht nur eine Kombination sprachlicher Elemente, sondern er produziert auch reale Bedeutungen: Der Ausdruck gibt einem Ereignis einen Namen. Und so wie aus der Sprache ein Ausdruck entsteht, so entsteht aus der Multitude heraus eine Entscheidung, als würde man dem Ganzen eine Bedeutung und dem Ereignis einen Namen geben. Für den sprachlichen Ausdruck bedarf es jedoch eines separaten Subjekts, das die Sprache zum Zwecke des Ausdrucks verwendet. Hier stößt unsere Analogie an Grenzen, denn anders als die Sprache ist die Multitude selbst ein aktives Subjekt - also eine Art Sprache, die sich selbst ausdrücken kann.
Die Fähigkeit der Multitude zur Entscheidungsfindung ließe sich auch in Analogie zur gemeinschaftlichen Entwicklung von Computersoftware und zu den Innovationen der "Open Source"-Bewegung begreifen. Traditionelle, als Eigentum gesetzlich geschützte Software macht es den Nutzern unmöglich, den Quellcode zu erkennen, der anzeigt, wie ein Programm funktioniert. ...
Die Demokratie der Multitude lässt sich somit auch als eine Art "Open Source"-Gesellschaft verstehen, als eine Gesellschaft, deren Quellcode sichtbar ist, sodass wir alle gemeinsam daran arbeiten können, seine "bugs" zu beseitigen und neue, bessere soziale "Programme" zu entwickeln. ...
Für die Multitude jedoch gibt es keine prinzipielle Verpflichtung gegenüber der Macht. Im Gegenteil, für die Multitude sind das Recht auf Ungehorsam und das Recht auf Abweichung grundlegend. Die Verfassung der Multitude beruht auf der ständigen legitimen Möglichkeit des Ungehorsams. ...
Die Herausbildung der Multitude, ihre Innovation mittels Netzwerken und ihre Fähigkeit, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, machen Demokratie heute zum ersten Mal möglich. Politische Souveränität und die Herrschaft des einen, die jede wirkliche Vorstellung von Demokratie bislang stets unterhöhlt haben, erscheinen heute nicht mehr nur als entbehrlich, sondern als absolut unmöglich. Wenngleich die Souveränität auf dem Mythos von dem einen gründete, hat es sich bei ihr schon immer um eine Wechselbeziehung gehandelt, die auf der Zustimmung und dem Gehorsam der Beherrschten beruhte. Da sich nun aber das Gleichgewicht in dieser Beziehung zugunsten der Beherrschten verschoben hat, die die Fähigkeit erlangt haben, soziale Beziehungen autonom zu schaffen, und als Multitude hervorgetreten sind, wird der einheitliche Souverän umso überflüssiger. Die Autonomie der Multitude und ihre Fähigkeit zur ökonomischen, politischen und sozialen Selbstorganisation nehmen der Souveränität jegliche Funktion. Die Souveränität ist nicht mehr ausschließliches Terrain des Politischen, mehr noch: die Multitude verbannt die Souveränität sogar aus der Politik. Wenn die Multitude endlich in der Lage sein wird, sich selbst zu regieren, dann wird Demokratie möglich.


Praktische Möglichkeiten
Bisherige Experimente im großen Maßstab fehlen. Einige Fälle überregionaler Kooperation scheinen überraschend nahe dran an der Idee offener sozialer Räume. Sie sind chaotischer und weniger durch die jeweiligen Zentralen geprägt als es wirkt - z.B. die Entstehung der Eisenbahnnetze oder, ein besonders beeindruckendes Beispiel, des Internets als Kooperation unzähliger Knotenpunkte (Rechner).
In konkreten Gruppen haben Verfahren wie Open Space die Idee der Horizontalität aller AkteurInnen bei intensiver Kommunikation und Kooperationsanbahnung verwirklicht. Das Weltsozialforum war ein Versuch, ohne zentrale Steuerung Begegnung, Austausch und Kooperation zu fördern - im übrigen hart bekämpft durch die Eliten politischer Parteien und Organisationen, die eigene Interessen verfolgten und hegemonial durchsetzen wollten. Was in einem offenen Raum nicht geht.

Wo auch immer Gremien geschaffen werden, helfen zumindest zwei Methoden, informelle Macht zu verringern: Rotation und Losverfahren. Ersteres bedeutet, dass keine Person, die mit einer Aufgabe formal betraut ist, sich Gedanken machen muss, wie dieser Status auf Dauer gesichert werden kann. Ein zentrales Motiv zur Manipulation der Wahrnehmung eigener Tätigkeit fällt damit weg. Zweiteres heißt, dass formale Posten nicht per Abstimmung, sondern per Los in zufälliger Auswahl aus Allen besetzt werden. Damit fällt auch vor der Besetzung von Ämtern ein Motiv der Manipulation weg, ebenso die Suche nach Verbündeten und das Ausstechen potentieller KonkurrentInnen. Es ist erstaunlich, dass die Idee von Losverfahren in den geschichtlichen Anfängen zumindest der europäischen Demokratie, nämlich im Griechenland vor über 2000 Jahren, zwar ein zentraler Mechanismus war, dieses aber in der heutigen Darstellung demokratischer Verfahren verschwiegen wird - sicherlich nicht zufällig.

Mut zur Offenheit
Vieles klingt kompliziert - und das ist es auch. Aber genau deshalb passt es zum Menschen. Wie in seinem Kopf selbst, so bildet die Gesellschaft eine dynamische Vielfalt an Verbindungen, Kooperationen, Kommunikationsflüssen, die alle horizontal zueinander stehen. Das Ganze wird umso besser klappen, je transparenter die Abläufe sind, je einfacher Menschen sich beteiligen und Ressourcen nutzen können. Es wird zudem umso produktiver sein, je weniger Energie in Kontrolle und Hegemonialkämpfe gesetzt wird - optimalerweise sollten Kommunikation und Kooperationsanbahnung neben der Entwicklung und Verwirklichung von Ideen die prägenden Aktivitätsfelder sein.

Zum nächsten Text, dem fünften Text im Kapitel zu Strategien herrschaftsfreier Gesellschaft: Herrschaftsfrei wirtschaften

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