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REVOLUTION ODER REFORM? VOM SELTSAMEN GEGENSATZ ZWEIER OFT DUMMER KONZEPTE

Radikalität?


1. Von Quantitäten und Qualitäten
2. Radikalität?
3. Fragend voran ...
4. Ein Update für die Anarchie bitte ...
5. Links

Eng verknüpft mit den oben diskutierten Aspekten ist die Frage nach der Radikalität politischer Vorschläge oder Aktionen. Denn auch hier kommt es vor allem darauf an, ob eine bzw. welche befreiende Wirkung eintritt. Radikal ist, was nicht nur an Symptomen herumdoktert, sondern die dahinterstehenden Systemzusammenhänge und Herrschaftsformen angreift.
Allerdings spielt, auf die Einzelforderung bezogen, auch die Quantität eine Rolle. Radikal im emanzipatorischen Sinne kann nur etwas Befreiendes sein. Der Grad der Radikalität kann sich aber auch darin messen, wie viel Befreiung ein Vorschlag oder eine Aktion bringt. Insofern ist hier beides enthalten - die Qualität und die Quantität. Wer härtere Strafen für Nazis fordert, hat gar kein befreiendes Moment in der Forderung (und auch keines gegen Nazis, denn autoritäre Verhältnisse sind besonders geeignet zur Rekrutierung neuer FaschistInnen - also insbesondere Knäste), sondern sogar das Gegenteil. Wer Freiheit für alle politischen Gefangenen fordert, liegt in einer Grauzone. Einerseits wäre das immerhin eine Verbesserung für einige Menschen (im deutschsprachigen Raum ziemlich wenig, weil die politische Szene extrem legalistisch und auch ideologisch pro-rechtsstaatlich agiert), andererseits legitimiert es den Knast als solches (es sind nur die falschen Leute drin). Die Position "Weg mit allen Knästen!" wäre also radikaler, aber immer noch nur eine Reform, weil es ja jede Menge anderer Anstalten des Zwang und der Verhaltenskonditionierung unangestastet lässt.

Da nur wenige anarchistische Zusammenhänge im deutschsprachigen Raum überhaupt solche strategischen Debatten führen, spielt die Frage politischer Radikalität heute kaum eine Rolle. Sie beschränkt sich weitgehend auf die schon beschriebenen kulturellen Ausdrucksformen und damit auf die Strömungen, in denen es angesagt ist, radikal zu erscheinen. In der seltsam gemischten softanarchisch-bürgerlichen Runde der mit Gewaltfreiheitslabel auftretenden Gruppen haben demgegenüber gegenteilige Orientierungen Vorrang.
Hinzu kommt, dass anarchistische und alle anderen politischen Strömungen im deutschsprachigen Raum, aber auch in vielen anderen Industrieländern, seit Jahrzehnten nur sehr zurückhaltend agieren. Sie entwickeln ihren Begriff von Radikalität folglich in einer Relation, die in anderen Teilen der Welt sehr anders wahrgenommen würde. Deutlich wird das z.B. an Berichten über Polizeihandeln, das permanent als willkürlich, gewaltförmig, brutal oder krass dargestellt wird. In der Regel sind damit Schubsen, Festnahmen, Abfilmen oder vereinzelter Schlagstockeinsatz gemeint - Polizeiverhalten also, welches in anderen Ländern als ungewöhnlich zurückhaltend gewertet würde.
Damit soll die Polizei nicht verharmlost werden - aber es ist gerade nicht die Willkür und das Ausnahmeverhalten, sondern die übliche, normale und normalisierende Rolle der Polizeitruppen, die das Problem darstellen. Die aber wird mit der Kritik an Einzelfallverhalten überforderter BeamtInnen geradezu legitimiert.
Die Polizei muss im deutschsprachigen Raum kaum hart zugreifen, weil der politische Protest von selbst die fremdbestimmten Spielregeln einhält - und das auch intern gegenüber Konzepten des Ungehorsams durchgesetzt wird.

Im Original: Radikal?
Aus Bookchin, Murray (1981): "Hierarchie und Herrschaft", Karin Kramer Verlag in Berlin S. 9 f.)
Was wir unter ,,radikal" verstehen, ist ein Hohn auf die zurückliegenden drei Jahrhunderte revolutionärer Opposition, sozialer Agitation, intellektueller Aufklärung und Volkserhebungen. Radikale Politik in unseren Tagen ist auf die starre Ruhe der Wahllokale, die abgestumpften Platitüden von Petitionskampagnen, Wahlslogans auf Autoaufklebern, die widerspruchsvolle Rhetorik gewiefter Politiker, auf das Vergnügen der Teilnehmer bei öffentlichen Kundgebungen und schließlich auf devote, bescheidene Reformanträge heruntergekommen - kurz: auf bloße Schattengefechte anstelle der direkten Aktion, des kämpferischen Pflichtbewußtseins, der rebellischen Auseinandersetzung und des gesellschaftlichen Idealismus, die kennzeichnend waren für alle revolutionären Unternehmungen der Geschichte. Nicht daß für Petitionen, Slogans, Kundgebungen und die mühselige Arbeit der öffentlichen Aufklärung in solchen Unternehmungen kein Platz wäre. Aber wir brauchen kein unverantwortliches Abenteurertum zu unterstellen, um den Verlust einer ausgewogenen revolutionären Position anzuerkennen, die ein ausreichendes Gespür für Zeit und Ort besitzt, um die richtigen Mittel für die richtigen Zwecke ausfindig zu machen. Ich meine, daß die Ziele des gegenwärtigen Radikalismus selber alle Merkmale des Opportunismus von Bürgern irn mittleren Alter haben: des Feilschens um kleine Vorteile, des Respekts vor massenhaften, aber bedeutungslosen Wählerpotentialen des schädlichen Rückzugs in die Politik des "kleineren Übels", die der freien Wahl immer mehr Möglichkeiten verbaut - und schließlich der Verknöcherung von gesellschaftlicher Phantasie, organisatorischen Formen und utopistischer Voraussicht. ...
Mit der radikalen Theorie als der Ideologie für diese geschichtliche Wende radikaler Politik sieht es noch schlimmer aus. Wo Sozialismus und auch Anarchismus noch nicht zur dogmatischen Nachbeterei der Theorien des vergangenen Jahrhunderts geworden sind, haben sie sich zu akademischen Disziplinen gemausert und dienen nun dazu, den „Managerradikalismus" mit theoretischen Exotika zu garnieren. Viel von dem, was heute unter „radikaler" Theorie läuft, ist entweder Fußnote zur Ideengeschichte oder intellektuelles Verdunkelungsmanöver, welches Hand in Hand mit der pragmatischen Volksverdummung auf den Marktplätzen der Politik geht.

Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin (S. 58 f.)
Die veränderte Blickrichtung (nicht die gute Gesellschaft schaffen, sondern die Möglichkeit freien und gleichen Verhandelns durchsetzen) bedeutet auch eine veränderte Vorstellung von Radikalität. Radikal sein heißt im Sinne der freien Kooperation, keinen gesellschaftlichen Bereich, keine soziale Kooperation vom Anspruch der freien Kooperation auszunehmen; es bedeutet, sich diesen Anspruch nicht abkaufen zu lassen; und es bedeutet, ihn wirklich durchsetzen zu wollen und sich nicht mit symbolischen Gesten zufrieden zu geben.
Verabschiedet wird damit ein Pseudobegriff von Radikalität, der auf der Trennung von "politischem Menschen" und Alltagsmenschen beruht. Derartige Pseudoradikalität kennt keine Zwischenschritte, keine Kompromisse, sie lässt keine Einwände gegen die Zumutungen gelten, die ein "möglichst radikales" Vorgehen den Menschen auferlegt. Im Grunde sollten wir am besten erst mal alles in die Luft sprengen, um es dann gründlich richtig zu machen – was ein wenig alltagstaugliches Konzept ist. Derartige falsche Radikalität ist immer patriarchal und immer elitär, denn man muss sie sich leisten können. ...
Wir gehen, individuell wie kollektiv, durch viele seltsame Phasen unseres Lebens, in denen sich die Suche nach radikaler Veränderung von den konkreten Kooperationen unseres Alltags krampfhaft abspaltet, wie wenn es dadurch schneller und "radikaler" ginge. Die Suche nach der "radikalen Aktion", der absoluten Nicht-Teilhabe am herrschenden System, die irrige Idee, es gebe eine "Abkürzung" bei der mühsamen Veränderung der Verhältnisse, gehören ebenso dazu wie die magischen Praktiken, die "richtigen" Sprachregelungen für wichtiger zu halten als die reale Tendenz alltäglicher Kooperationen. Nicht alles davon lässt sich immer vermeiden; wir müssen manchmal ein bisschen seltsam sein. Aber in Sachen "politische Utopie" zielt die Theorie der freien Kooperation darauf ab, diese seltsame Phase zu beenden.


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