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DISKURSIVE HERRSCHAFT: WIE SICH TRADITIONEN, NORMEN UND WAHRHEITEN EINBRENNEN

Rollen und Zurichtung


1. Diskurs, Kategorien, Erwartungen, Standards: Die Herrschaft im Kopf
2. Diskurssteuerung
3. Beispiele für Diskurse und ihre Steuerung
4. Hirnstupser zum Thema
5. Rollen und Zurichtung
6. Aufklärung: Demaskieren als Ziel
7. Links und Lesestoff

Das Ergebnis diskursiver Beeinflussung sind Menschen, die Normen und Normalität, Wahres und Falsches akzeptieren, die im Verständnis von Dazugehören und Auszusondern übereinstimmen - und die für sich bestimmte Rollen und Erwartungshaltungen akzeptieren. Sie müssen nicht mehr zu einem gewünschten Verhalten gezwungen werden, sondern zeigen es von selbst. Sie glauben sogar, sich so verhalten zu wollen.

Im Original: Aus der ersten Auflage
Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 78f)
Tradierte Vorstellungen von Wertigkeiten, Erziehungsmuster zu immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Rollen und Inhalte von Bildung, Medienbeeinflussung usw. führen zu nicht willkürlichen, sondern typischen und sich immer wieder reproduzierenden Mustern. Für diese sozialen Konstruktionen gibt es sehr offensichtliche Beispiele. So beruht das Gefälle zwischen Männer und Frauen bei Lohnhöhen, bei der Präsenz in Führungspositionen oder beim Zugriff auf Geld, Eigentum usw. auf der immer wieder erneuerten sozialen Konstruktionen von Wertigkeitsunterschieden. Zur Rechtfertigung solcher sozial konstruierten Wertigkeitsunterschiede wird die Verschiedenheit von Menschen herangezogen: seien es geschlechtliche, biologische, ethnische Unterschiede oder unterschiedliche Neigungen, Verhaltensweisen oder sonstige Merkmale, die sich zur Zuschreibung von “Eigenschaften” eignen. Diese realen Verschiedenheiten werden zu homogenen “Eigenschaften” von Gruppen von Menschen umgedeutet, um sie als Rechtfertigung zur diskriminierenden Behandlung dieser Gruppen zu verwenden.
Rollenbildung und Wertigkeiten zwischen Männern und Frauen entstehen nicht durch das biologische Geschlecht, sondern aufgrund der allgegenwärtigen, von (fast) allen Menschen ständig reproduzierten Bilder und Erwartungshaltungen gegenüber den anderen Menschen und sich selbst, z.B. in der elterlichen Erziehung und Beeinflussung, Schule, Arbeitswelt, Medien usw. “Mannsein” oder “Frausein” als gesellschaftliche Rolle, d.h. als soziales Geschlecht, ist folglich eine Zuweisung der Person zu diesem Geschlecht durch gesellschaftliche Bedingungen. Dieser Prozeß reproduziert sich wegen der subjektiven Funktionalität, die diese Rollen für die Menschen im täglichen Überlebenskampf und für langfristige Perspektiven zumindest aktuell haben, ständig selbst, so dass die Rollen von Generation zu Generation weitervermittelt werden und in fast allen Lebensfeldern vorkommen. Dadurch wirken sie so, also wären sie ein Naturgesetz. Den betroffenen Menschen kommt ihre gesellschaftliche Rolle wie eine Bestimmung vor, der sie nicht entgehen können und die sie an nachfolgende Generationen weitergeben.
Ähnlich wie diese soziale Konstruktion zwischen Männern und Frauen finden sich solche zwischen Alten und Jungen, sogenannten Behinderten und Nicht-Behinderten, In- und AusländerInnen, Menschen mit und ohne Ausbildung usw. Immer werden Wertigkeiten abgeleitet, die zu unterschiedlichen Möglichkeiten der eigenen Entfaltung und zu Herrschaftsverhältnissen führen.


Erich Fromm (1990): „Die Furcht vor der Freiheit“, dtv in München (S. 90)
Das „Selbst“, in dessen Interesse der moderne Mensch handelt, ist das gesellschaftliche Selbst, ein Selbst, das sich im wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist. Die moderne Selbstsucht ist die Gier, die auf der Frustration des wahren Selbst beruht und deren Objekt das gesellschaftliche Selbst ist. ...
Der Mensch hat sich seine Welt aufgebaut, er baut Fabriken und Häuser, er produziert Autos und Textilien, er erntet Getreide und Früchte. Aber er ist den Erzeug nissen seiner Hände entfremdet, und er beherrscht die Welt nicht mehr, die er gebaut hat. Ganz im Gegenteil ist diese vom Menschen geschaffene Welt zu seinem Herrn geworden, dem er sich beugt, den er zu besänftigen und so gut er kann zu manipulieren versucht. Das Werk seiner Hände ist zu seinem Gott geworden. Er scheint von seinem Selbstinteresse motiviert, in Wirklichkeit aber ist sein gesamtes Selbst mit allen seinen konkreten Möglichkeiten zu einem Werkzeug geworden, das den Zwecken eben jenes Apparates dient, den er selbst geschaffen hat. Er wiegt sich weiter in der Illusion, der Mittelpunkt der Welt zu sein, und ist dennoch von einem intensiven Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht erfüllt, wie es seine Vorfahren einst bewußt Gott gegenüber empfanden.

Aus Kropotkin, Peter (1985): "Gesetz und Autorität", Libertad Verlag in Berlin (S. 5 f.)
Wir sind alle dermaßen verdorben durch die Erziehung, welche, von unserer Kindheit angefangen, den Geist der Selbständigkeit in uns ertötete und den Geist der Unterwürfigkeit unter die Autorität entwickelte, wir sind derart verdorben durch die Existenz unter dem Gesetz, welches alles regelt: unsere Geburt, Erziehung, geistige Entwicklung, unsere Liebe und Freundschaft usw., dass wir wenn das so fortgeht, alle Initiative, alle Gewohnheit, selbst zu denken und zu urteilen, vollständig verlieren werden. Die Menschen scheinen jetzt schon gar nicht mehr zu verstehen, dass man anders als unter der Herrschaft der Gesetze leben könne, welche von einer parlamentarischen Vertretungs-Regierung ausgearbeitet und von einer Handvoll über jenen stehenden Regierungen angewandt werden.

Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin (S. 23)
Wir sind weder gleich noch frei. Wir sperren unsere Kinder in Räume, die sie nicht verlassen dürfen, wo wir sie dem Kommando von Leuten ausliefern, die sie sich nicht aussuchen und denen sie sich nicht verweigern können. Wir nennen das Schule, und es setzt sich fort in Lehrstellen, Universitäten, Betrieben.

Aus Möll, Marc-Pierre: "Kontingenz, Ironie und Anarchie - Das Lachen des Michel Foucault" (Quelle)
Das Gefängnis, wie es die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat, ist das Ideal der sich auf Fabriken, Schulen, Kasernen, Krankenhäuser etc. ausbreitenden Überwachungs- und Disziplinarmacht. Da der Prozeß der subjektkonstituierenden Disziplinierung unabschließbar ist, nimmt er immer subtilere und intrikatere Formen der Dressur an, um die Menschen in immer gleichförmigere Denk- und Handlungsweisen zu pressen. Durch die räumliche Parzellierung, zeitliche Durchrationalisierung und normativ prüfende Sanktionierung etwa in der Schule werden die abgerichteten Körper in einen übergeordneten Funktionszusammenhang eingegliedert und auf die Tätigkeit anderer Körper abgestimmt. Der Disziplinierungsprozeß ist beendet, wenn der Schüler "einsichtig" ist. Er wird solange mit Normvorstellungen und letztlich mit einem Selbstbild konfrontiert, in dessen Lichte er sein abweichendes Handeln nicht mehr wollen kann. Die subversive Struktur in der Pädagogik besteht mithin darin, den Zögling in der Gewißheit zu halten, tun zu dürfen, was er will, obwohl er nur wollen darf, von dem der Erzieher wünscht, dass er es tut. Die Pointe der pädagogischen Methode liegt darin, dass auch die inneren Instanzen dem Schüler nicht "gewaltsam" introjiziert werden. Vielmehr werden sie im Prozeß des Appellierens an diese inneren Instanzen selbst erzeugt bzw. gestärkt. Ein vermeintlich Eigenes ist auch auf dieser Ebene der Subjektkonstitution nicht "gegeben", sondern wird im pädagogischen Prozeß überhaupt erst provoziert, konditioniert und subjektiviert, so dass Pädagogik und selbst das Erlernen von Sprache und Begrifflichkeit das Denken systematisch normiert. Jedes Denksystem, das sich emphatisch auf die Totalität seines eigenen Wahrheitsfundaments beruft und institutionalisiert, arbeitet implizit einem Totalitarismus zu. Das gilt auch für die liberale Demokratie.

Aus Foucault, Michel: "Überwachen und Strafen" (S. 285)
Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum darin ... sorgfältig fabriziert.

Aus "Kopf und Körper" von Peter Hacks, in: Junge Welt, 13.12.2018 (S. 12f)
Es sei doch klar, sagen die Wissenssoziologen, dass ein Denken, das unter bestimmten Bedingungen entsteht, diesen Bedingungen entspreche; wieso ist das klar? Deshalb sagen sie, und verstehen jetzt unter »Bedingungen« den schon bestehenden Überbau der Vorfahren, weil dem Menschen von seiner ersten Jugend an durch das Vorbild der Alten eine bestimmte Denkrichtung eingegeben wird, er lernt ja nie das Denken als solches, sondern immer gleich eine bestimmte Art zu denken.
Das beginnt beim kleinsten Bestandteil der Sprache, beim Begriff. Ein Begriff ist bekanntlich mehr als ein Name, er ist ein Bündel von Urteilen, also bereits eine Auslegung. Man übernimmt ihn aus dem Sprachgebrauch. Der Begriff ist aber in aller Erfahrung vor den Dingen: Wenn er sich in der Praxis, die wiederum im wesentlichen eine gesellschaftliche Praxis ist, bewährt, wird man keinen Anlass haben, ihn um der Dinge willen zu verleugnen. ...
Jedes Denken ist hochgradiges Zirkeldenken, man hat das Resultat in allen Prämissen. – Dieser »Traditionsfaktor« mit seiner vollständigen Wirklichkeitsblindheit ist nun sicher sehr wichtig. Er trägt zur Bewahrung einer Ideologie samt der zugehörigen Schicht bei, und er ermöglicht das Überhängen einer Ideologie sogar über die eigene Schicht. Aber es versteht sich, dass neben dieser bewahrenden Ursache eine wandelbarere, dem Sein zugewandtere vorhanden sein muss. Wie sonst wäre die zu überliefernde Ideologie entstanden? Wie anders wäre das Auftreten neuer Ideologien mit neuen Schichten oder die Veränderung von Ideologien mit ihren Schichten zu erklären, und welche Kraft hätte endlich die Ideologie, sich gegen mancherlei Störungen der Tradition zu verteidigen? ...
Die Anwendung von alle dem aufs Ideologische ist leicht abzusehen. Macchiavelli macht sie: »Es ist unmöglich«, sagt er, »einen Mann, dem durch seine Art zu verfahren viel geglückt ist, zu überzeugen, er könne gut daran tun, anders zu verfahren«. Diese Bemerkung ist vermutlich eine der bedeutendsten aus der Wissenschaftsgeschichte. ...
Das Denken der Schicht ist, da sich mehrere nur auf sehr fade, allgemeine und unbestreitbare Meinungen einigen können, noch kleinbürgerlicher und durchschnittlicher als das jedes einzelnen. Einer vermag sich ja zum Beispiel doch dieses und jenes Ergebnis der Vernunft von irgendwoher zuzueignen, wenn auch nur schizoiderweise in einem unglücklichen Bewusstsein, welches von dem wirklichen Leben ganz abgetrennt sein muss. Die Schicht kann das nicht. Der Kleinbürger ist also im Umgang mit dem Kleinbürgertum noch kleinbürgerlicher, als er es von materialen Umständen aus schon wäre. Und das bleibt wieder nicht ohne Rückwirkungen: Der Umgangston wird zum Grundton. Denn es gehört zur Bewährung einer Meinung vor allem, dass sie von den Mitgliedern der eigenen Schicht verstanden werde; es bedarf ihrer Anerkennung und Billigung. Der Mensch ist in allen seinen Bedürfnissen ein soziales Wesen, und die soziale Bewährung ist der strengste Maßstab für die Beurteilung einer Idee. ...
Wer Menschen ändern will, muss nicht die Gemüter, sondern die Umstände ändern.

Das kann sehr weit gehen. Der auf breiter gesellschaftlicher Akzeptanz organisierte Holocaust hat es eindrucksvoll und erschreckend gezeigt.

Aus Goldhagen, Daniel J. (1996): "Hitlers willige Vollstrecker" (S. 85)
Wie andere Menschen mussten auch sie ständig entscheiden, wie sie sich verhalten, wie sie handeln sollten, und diese Entscheidungen brachten den Juden immer wieder neue Leiden und den Tod. Diese Entscheidungen aber trafen sie als Individuen, als mit ihrer Aufgabe einverstandene Mitglieder einer Gemeinschaft von Völkermördern, in der das Töten von Juden die Norm und oft genug Anlaß zum Feiern war.


Die Konstruktion des Durchschnittlichen
Anpassung wird belohnt, Abweichung bestraft. So formen Erziehung, Schule, soziales Umfeld, Medien, Medizin und schließlich die Strafjustiz ein Bedürfnis, die eigene Persönlichkeit zu vernichten und zum Teil des Normalen und Durchschnittlichen zu werden.
Moderne Computernetzwerke ermöglichen eine Verfeinerung. Nun können Persönlichkeitsmerkmale erfasst und statistisch in riesigen Menschengruppen ausgewertet werden. Die sich in virtuellen Abbilder ihrer empfundenen Persönlichkeit in solche Netze hineinbegebenden Personen werden dann standardisiert in Verbindung gebracht. So machen soziale Netzdienste wie Facebook nach Standards Vorschläge für FreundInnen und passende Kontakte, Projekte usw. Das Leben wird ver-durchschnittlicht.

Aus Len Fisher (2010): "Schwarmintelligenz", Eichborn in Frankfurt (S. 116)
Andere, wie Amazon, nutzen das Schwarmprinzip zur Verkaufsförderung: Die Kunden können einander Produkte empfehlen, und Amazon macht ihnen seinerseits Kaufvorschläge, die sich am Kaufverhalten anderer Kunden orientieren.


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