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HORIZONTALITÄT UND OFFENE SYSTEME: RÄUME, KOMMUNIKATION ... OHNE PRIVILEGIEN

Verhandeln ohne Regeln und Metaebenen


1. Einleitung
2. Verhandeln ohne Regeln und Metaebenen
3. Gleiche Möglichkeiten für alle: Horizontalität in Gesellschaft und Subräumen
4. Worauf ist dann noch Verlass?
5. Anwendungsfelder
6. Das Gesamte: Eine Welt, in der viele Welten Platz haben ...
7. Links

Wesentlich für offene Räume ist das Fehlen aller Vorgaben, d.h. es gibt keine Bedingungen für den Zugang, keine Privilegien und keine Regeln für das Verweilen. Dabei ist der Begriff offener Räume nicht nur im Sinne eines gebauten Raumes, sondern jeden gedachten Raumes in der Gesellschaft zu verstehen, also auch ein Kommunikationsnetz, ein Betrieb, ein virtueller Raum im Internet, eine Telefonkonferenz - einfach alles, was einen Rahmen für die Interaktion zwischen Menschen darstellt. Ebenso gehören dazu alle Treffen einer Gruppe, ein Camp, ein Kongress oder ein Projekttreffen, wo der konkrete Ort nur der Aufenthaltsort auf Zeit, also ansonsten völlig unwichtig ist. Bedeutend ist das, was die Beteiligten mitbringen an Wissen, Erfahrungen, Know-How, handwerklichen Fähigkeiten, Informationen, materieller und finanzieller Ausstattung.

Bedingungen des Zugangs oder der Nutzung von Teilen, tatsächliche oder angedrohte Kontrolle schränken die Offenheit eines Raumes ein. Kontrolle erzeugt auch dann, wenn sie nicht konkret ausgeführt wird, Angstgefühle. Sie teilt Menschen oder Gruppen in (potentiell) kontrollierte und (potentiell) kontrollierende. Dieser Zustand bleibt auch dann bestehen, wenn die potentiell Kontrollierenden diese Funktion nicht ausüben wollen und es im Regelfall nicht tun. Allein die Möglichkeit verändert das Verhältnis von Menschen untereinander.
Ist eine Metastruktur als Kontrollinstanz nutzbar, z.B. ein Plenum, ein Vorstand, EigentümerInnen oder einE AdministratorIn, so verlagert sich die Kommunikation um die Weiterentwicklung des Raumes, um Streitfragen bei Interessenkollisionen und oft auch um die Kooperationen zwischen Teilen des Ganzen auf diese Metastruktur. Das steht einer freien Entfaltung im Weg, da in der Metastruktur eine andere Form der Kommunikation herrscht, die von Regeln, taktischem Verhalten und einer stark auf Sieg/Niederlage orientierten Redeform geprägt ist.
Direkte Kommunikation und freie Vereinbarung gedeihen nur dort uneingeschränkt, wo Kontrolle und damit die mögliche Alternative, Konflikte auch herrschaftsförmig zu klären, gar nicht bestehen. Zweitrangig ist dabei, wie die Kontrolle organisiert ist - ob in der Dominanz einer Einzelperson oder -gruppe (z.B. Hausrecht, Faustrecht, rhetorische Dominanz) oder über demokratische Prozesse. Denn Letztere, auch basisdemokratische Entscheidungskompetenz auf Metaebenen ist Kontrolle, zerstört direkte Kommunikation und erschwert freie Vereinbarung - wenn auch verschleierter. Die einzig grundlegende Alternative zu allen Formen von Kontrolle ist die totale Kontrollfreiheit: Es gibt keine Möglichkeit mehr, außerhalb gleichberechtigter Kommunikation eigene Interessen durchzusetzen.

Im Original: Verhandeln ohne Netz und doppelten Boden
Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin (S. 85)
Verhandeln ist der wilde Dschungel der Kooperation. Das Verhandeln endet erst mit dem Tod; und auch sonst hadern wir immer ein wenig mit der Naturgesetzen, weil sich mit denen nicht verhandeln lässt. Verhandeln ist ein aufregender, tückischer, unordentlicher Prozess. Erstens können wir dabei alles mit allem in einen Topf werfen. Das Frauenplenum kann die Zustimmung zu einem politischen Aufruf davon abhängig machen, dass auch die Männer der Gruppe das Klo putzen. Die Frauen der Chiapas-Gemeinden konnten ihre Teilnahme am Aufstand von der Bereitschaft der Männer zu revolutionären Veränderungen innerhalb der Community abhängig machen. Zweitens gibt es keine Regeln für die Verhandlung. Ob über eine Frage mit Mehrheit abgestimmt werden kann oder nicht, ist selbst Gegenstand der Verhandlung; genauso, ob sie durch Berufung auf frühere Entscheidungen entschieden wird oder nicht, ob sie innerhalb einer bestimmten Frist entschieden werden muss oder nicht usw. Drittens setzt Verhandeln (im Unterschied zu demokratischen Entscheidungsprozessen oder "vernünftigen Dialogen") nicht voraus, dass die Beteiligten einander in hohem Maße ähnlich sind oder bewusst bestimmte Grundauffassungen und Werte teilen. Verhandeln findet auch zwischen Akteuren statt, die denkbar verschieden voneinander sind. ...
In ihrer Haltung zum Verhandeln ist freie Kooperation vorwiegend Anti-Politik. Sie widerspricht allen Versuchen, das Verhandeln einzuschränken und ordnungspolitisch zu regeln: "das gehört nicht hierher", "darüber reden wir später", "das hatten wir schon geklärt", "du verstehst gar nichts von der Sache ", "mit denen verhandeln wir nicht". All dies sind, aus Sicht der freien Kooperation, illegitime und abzulehnende Versuche, einseitig Definitionsmacht über den Prozess des Verhandelns zu gewinnen. Und keine harmlosen. "Politischer Streik", "wilder Streik", "Nötigung", "Illoyalität in der Organisation", "Maschinenstürmerei" – dies sind ordnungspolitische Begriffe, mit denen massive Interventionen gegen die Freiheit der Verhandelnden gefahren werden. ...
Freie Kooperation setzt nicht an der Regulierung des Verhandelns an, sondern bei den Akteuren. Ob eine Verhandlung frei und gleich ist, hängt nicht von den Regeln ab, sondern von den Akteuren: ob sie in der Lage – und notfalls auch bereit sind – zum "dann eben nicht", und ob dies zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich ist. Auf dieser Basis können die Akteure auch über die Regeln der Verhandlung verhandeln. Sie können Regeln schaffen und ändern, sich daran halten oder dies nicht mehr tun. Freie Kooperation setzt nicht die Regeln, sie stärkt die gleiche Verhandlungsposition der Akteure. Die Aspekte "wissenschaftlicher Erkenntnis", "demokratischer Mehrheiten" oder "gesellschaftlicher Notwendigkeiten" werden demgegenüber in ihre Schranken verwiesen.


Praktisch wird jeder offene Raum damit zum gegenkulturellen Projekt. Denn es steht der intensiven Prägung gegenüber, in der Menschen heute aufwachsen. Offene Räume sind daher weniger ein Erfolgsrezept (das können sie angesichts der äußeren Einflüsse kaum sein), sondern ein Angriff auf bestehende Diskurse und kulturelle Codes. Im offenen Raum fehlt ...
  • ein reproduktives Hinterland, d.h. es gibt - weder in Form von Eltern, Ehefrau, HausmeisterIn oder gekaufter Dienstleistung eine Person, die die Folgen des eigenen Handelns, z.B. Unordnung, Dreck, Verbrauch an Ressourcen usw., wieder aufhebt. Das kann dazu führen, dass das Verhalten der Einzelnen die Substanz einer ständigen Zerstörung unterwirft.
  • die Fremdbestimmung. Bevormundende Anleitung, Führung und Codes schaffen keinen Käfig an Regeln und Traditionen, wie es in der sonstigen Gesellschaft üblich ist. Als Gefahr lauern Orientierungslosigkeit, Abhängen und Antriebslosigkeit aus Mangel an Entscheidungswillen und die Sehnsucht nach Hierarchien und Autoritäten.
  • ein Gemeinwille und das "Wir" als identitärer Codes. Stattdessen sind Differenz, Vielfalt, Kooperation und Streitkultur typisch - alles aber nur als Folge eigener Aktivität. Gleichgültigkeit und inhaltliche Leere können entstehen, wenn die Aktivität fehlt.

Die starke Abweichung zur "Norm"alität schafft viele Probleme, denn kulturelle Brüche führen bei Menschen oft zu Verunsicherung und das wiederum zur Sehnsucht nach festen Strukturen - oder zum Ausleben von Faustrecht. Es reicht daher in der Regel nicht, einfach die üblichen Kontroll- und Führungsinstrumente zu streichen, sondern jeder offene Raum bedarf der Übung und einer Praxis von Kommunikation, Organisierung von Vielfalt und Kooperation bis hin zu einer produktiven Streitkultur jenseits von Abstimmungen und Dominanz.

Zudem bilden offene Räume Nischen in einer hochvermachteten Gesellschaft. Das lässt sie zu Zufluchtorten werden von Menschen, die nicht etwas wollen, sondern flüchten in eine scheinbare Oase, wo sie sich aufhalten können. Auch solche Menschen sind geformt in der "Norm"alität da draußen, d.h. sie werden voraussichtlich im offenen Raum diese Zurichtung reproduzieren - und so erwarten, dass es Zuständigkeiten gibt. Freiheit mutiert dann dazu, den Raum und seine Infrastruktur als Serviceleistung zu betrachten.
Immer wieder kommt dann die Diskussion auf, ob die Nichtachtung des Raumes und seiner Ausstattung bzw. deren rücksichtloser Vernutzung oder übergriffiges Verhalten eine Folge genau der Regel- und Eigentumslosigkeit im offenen Raum sind. Das aber wäre ein Kurzschluss. Denn erstens kommt es auch in verregelten Räumen zu solchen Erscheinungen (Diebstahl und Vandalismus gehen besonders häufig von Personen mit privilegiertem Zugang aus) und zweitens ist eher zu beobachten, dass die gesellschaftliche Zurichtung zum achtlosen Umgang mit allen Ressourcen, auch dem eigenen Besitz führt. Außerdem bedeutet Privateigentum immer die Nichtwertschätzung des Öffentlichen, d.h. wo immer Eigentum eingeführt wird, wird das andere noch weniger beachtet.

Der logische Fehler der Gegenmeinung: Menschen kontrollieren Menschen
Der Idee offener Räume wird entgegengehalten, was auch an herrschaftsfreien Gesellschaft ständig kritisiert wird: Dass es zwar eine schöne Idee sei, aber mit diesen Menschen nicht machbar. Es würden sich dann wieder die angeborenen oder ansozialisierten Dominanzverhalten ausleben. Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass Menschen in der heutigen Gesellschaft so geprägt sind, dass sie stark zu Unterwerfung oder Unterwürfigkeit neigen - und es ist anzunehmen, dass auch ohne die soziale Zurichtung solche Tendenzen möglich blieben. Doch einerseits wäre das eher ein Grund, endlich andere Erfahrungsräume zu schaffen, damit die soziale Zurichtung sind ändert. Außerdem krankt die Idee, dass Menschen in ihrem Verhalten kontrolliert werden müssen, am Grundfehler, der auch schon der Forderung nach Kontrolle in der Gesellschaft entgegengehalten werden muss: Wer soll denn kontrollieren? Alle denkbaren Varianten taugen nicht, denn ...
  • Einzelne Personen als KontrolleurInnen
    Die Behauptung, Menschen müssten wegen ihrer sonst gezeigten Verhaltensweisen kontrolliert werden, widerspricht sich selbst. Denn wenn es so ist, dass Menschen sich nur sozial verhalten, wenn sie kontrolliert werden, wäre das der Beweis, dass diejenigen, welche kontrollieren, sich asozial verhalten, weil sie ja nicht kontrolliert werden, sondern selbst kontrollieren. Als Hilfskrücken des unlogischen Denkens mag vorübergehend die Hoffnung taugen, dass ja auch die KontrolleurInnen kontrolliert werden können - aber irgendwo endet die Kette und das Gedankengebäude bricht ein. Tatsächlich ist es aber noch schlimmer. Denn wer kontrolliert, also in einer privilegierten Position ist, kann sein Verhalten so organisieren, dass er/sie selbst vor den Folgen geschützt wird. Das ist gut sichtbar an den Organen dieser Gesellschaft, die Gewalt verhindern sollen, tatsächlich aber die meiste Gewalt ausüben (Armee und Polizei) - schlicht auch deshalb, weil sie die Sanktionierung von Gewalt beeinflussen und daher für sich negative Folgen ihrer Gewalt verhindern können. Kontrolle von Menschen geschieht immer durch Menschen. Wenn Menschen aber nur durch Kontrolle zu sozialem Leben gebracht werden, dann kann das Modell nicht funktionieren. Privilegien fördern Machtmissbrauch, d.h. die Position des Kontrolleurs ist derselben Logik nach ein Erziehungsprogramm zum asozialen Verhalten.
  • Gesamtwille als Gesetzgeber
    So sehen es demokratische Systeme formal vor: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird in Form von Gesetzen gegossen. Jenseits der Frage, ob nicht das bereits verschleiernde Rhetorik ist, weil tatsächlich Eliten das Geschehen prägen - es wäre auch gar nicht gut so. Denn in der Masse, also der erzeugten Einheitlichkeit, die in einem Abstimmungsprozess ja immer erzeugt wird, verlieren die Beteiligten ihre individuelle Vielfalt, ihre Reflexionsfähigkeit und die Kultur der Differenz. Masse neigt zu ähnlicher Rücksichtslosigkeit wie Einzelpersonen mit Herrschaftsrang - nur dass die Masse von Nachteilen eigener Entscheidungen betroffen sein kann, ohne darüber zu reflektieren. Folglich würde auch die Ausdehnung der Kontrollbefugnis auf die Gesamtheit keine Verbesserung bringen.

John Maynard Keynes laut Spiegel in "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" (auf Wikiquote wird das Zitat allerdings als Fälschung bezeichnet)
Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.

Aktives Schaffen von Binnenstruktur im offenen Raum
Gleichgültigkeit ist der Tod des offenen Raumes. Das gilt nicht nur für den Umgang mit Diskriminierung und Übergriffen, sondern auch für die Frage, ob Aktivitäten aneinander vorbei laufen, Menschen und Gruppen keinerlei Notiz voneinander nehmen oder sich höchstens nerven. Die Alternative heißt, aktiv darum zu ringen, aus der Summe der Einzelnen mehr zu machen.
  • Streit als Produktivkraft
    Streit bedeutet Widerspruch zwischen Überzeugungen, Handlungen, Zielen - also zwischen dem Wollen der Einzelnen. Das ist hervorragend, denn eine Welt, in der viele Welten Platz haben, hat ja zum Ziel, Unterschiedlichkeit Chancen zu geben und die Vielfalt zur Stärke zu machen. Unter den heute üblichen Bedingungen heißt Streit hingegen meist Sieg oder Niederlage, Dominanz oder Unterwerfung. Dabei bietet Streit so viel: Er setzt Energie und Potentiale frei. Menschen ist etwas wichtig, wohingegen Gleichgültigkeit zu nichts außer vielleicht Rangeleien der von der Gleichgültigkeit zermübten Personen führt. Aus einem produktiven Streit können im schlimmsten Fall Absprachen eines sinnvollen Nebeneinanders oder Nacheinander, im besten Fall aber Kooperationen oder neue, über die bisherigen Vorschläge hinausgehende Entwürfe entstehen. Dafür sollte Streit ständig kultiviert werden, d.h. er sollte nie unterschwellig entstehen, sondern mittels Raum und Methoden gestaltet werden nach dem Motto: Hurra, es gibt Streit. Da geht endlich wieder was!
  • Kooperationsanbahnung und aktiv hergestellte Transparenz
    Ein sozialer Raum, in dem alles nebeneinander herläuft, ohne voneinander Notiz zu nehmen, ist war möglich, reizt aber die eigenen Möglichkeiten nicht aus. Die Selbstentfaltung der beteiligten Menschen wird durch Ideenklau, Kooperation und produktive Diskussion gefördert. Das alles klappt dann gut, wenn es nicht nur dem Zufall überlassen wird, wer überhaupt wovon etwas mitbekommt. Es ist daher sinnvoll, Transparenz aktiv zu erzeugen, Kooperationen anzubahnen und dafür Methoden des Informationsflusses bereitzustellen.

Praktisch wird auch hier gelten, was für die Emanzipation insgesamt passt: Es ist ein Prozess, eine Annäherung an ein sich durch ständiges, neues Überlegen selbst wandelndes und erweiterndes Zielbild, durch viele kleine Schritt, ab und zu auch größere Würfe und das penetrante skeptisch-analytische Hinterfragen des Status Quo.

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