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BILDUNG UNTER KOOPERATIV-HERRSCHAFTSFREIEN VERHÄLTNISSEN

Lernen und Leben fallen zusammen - Rahmenbedingungen und utopische Andeutungen


1. Einleitung
2. Aspekte herrschaftsförmiger Bildung
3. Lernen und Leben fallen zusammen - Rahmenbedingungen und utopische Andeutungen
4. Selbstbestimmtes Lernen - Umrisse einer konkret-utopischen Praxis
5. Über diesen Text

Lernen unter den Vorzeichen von "Autonomie und Kooperation"
Kooperation findet immer dann statt, wenn Menschen zusammen eine Sache herstellen, entwickeln oder ein Projekt organisieren. Emanzipatorisch ist sie in Verbindung mit Autonomie, wenn die Beteiligten selbst die Entscheidenden bleiben, und nicht einer Zwangsstruktur unterworfen sind. Kooperation beschränkt sich nicht auf die materielle Ebene. Ganz im Gegenteil werden bei dem permanenten Prozess in Richtung herrschaftsfreier Verhältnisse die immateriellen Dinge eine ganz herausragende Rolle spielen. Wissen wäre frei zugänglich. Da alle Menschen mangels Abschottung durch Eigentumsbildung an neuen Erkenntnissen, Erfindungen und Maschinen. teilhaben können, entsteht ein unmittelbares, durchaus eigennütziges Interesse daran, dass auch die anderen Menschen sich weiterentwickeln. Egoismus schafft und sichert Kooperation.
Um selbst Wissen für sich gewinnen zu können und weil mehr Wissen und Können der anderen Menschen das eigene Leben verbessert und vereinfacht, wird viel Kraft dafür entstehen, den Wissensbildungsprozess zu organisieren und voranzubringen. Es bedarf keiner kontrollierenden Metaebene - die Menschen selbst sind aus eigenem Interesse am Austausch von Wissen interessiert. Sie werden dafür die Räume schaffen - vom Internet über Orte des freien Lernens bis zu "Erfindungsstudios", d.h. experimentellen Räumen.

Im Vordergrund ihres Drängens nach Wissen, neuen Fähigkeiten und neuen Möglichkeiten wird ihr eigenes Leben stehen, weil der Drang nach einem besseren Leben die entscheidende Motivation ist, wenn Zwang und Profit wegfällt. In der Folge werden Erfindungen, Maschinen und neues Wissen vor allem für das Leben der Menschen erfolgen, während heute Technik, Wissen usw. vor allem dem Profit und der Sicherung von Herrschaft dient. Ein ungeheures Potential an Innovation wird in eine menschlich-emanzipatorische Richtung verändert. Aus ganz egoistischen Motiven wird es für einen Menschen in der Regel keinen Sinn ergeben, Wissen und Können für sich zu behalten.

Es wäre zwar möglich, durch Androhung der Entziehung z.B. eines nur mit Spezialwissen zu handhabenden Geräts eine Machtposition zu erlangen, aber die Nachteile einer solchen Strategie überwiegen deutlich. So wäre eine Maschine durch unsachgemäße Bedienung häufiger kaputt, andere Menschen können sie nicht mit weiterentwickeln und die Vorteile durch den Gebrauch kämen seltener vor. Ähnliches gilt für andere Lebensbereiche.

Der Alltag wird zum Geflecht von Lernmöglichkeiten
Wo Bildung nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang gerissen ist, wird der Alltag fast überall durchzogen sein von Lernen. Dieses Lernen geschieht vor allem für das Leben und den Alltag, dort sind folglich auch die passenden Orte des Lernens. Jedes Haus, jede Werkstatt, jeder Experimentierraum und vieles mehr werden Räume, in denen Wissen ausgetauscht wird. Ein Zwang zu hoher kurzfristiger Produktivität wird nur in Ausnahmefällen vorhanden sein. Es gibt keine Dienstvorschriften, die Menschen auf ihre Arbeitskraft reduzieren und diese ausbeuten. Dadurch entsteht die Freiheit, sich die Zeit zu nehmen, Informationen auszutauschen und sich ständig gegenseitig weiterzubilden. Lernen wird nicht mehr entkoppelt, sondern gezielt in den Alltag integriert. Dabei wird die Trennung der Lebensbereiche aufgehoben - zwischen produktivem Schaffen, Reproduktion, Bildung usw. stehen keine Schranken mehr, was zu solchen Ergebnissen führen könnte (wahrscheinlich wird es noch viel "seltsame" Mischungen geben, die wir uns heute nicht auszumalen vermögen):

Die Druckerei ist inzwischen mit Faulenz- und Leseecken ausgestattet - manche drucken eine neue Broschüre, andere sitzen und sehen dabei zu, stellen Nachfragen, um vielleicht schon morgen selber an den Maschinen zu werkeln - "Schuften", Entspannen und Lernen bilden eine interessante Mischung. Und in der Gemeinschaftsküche drei Häuser weiter entwickelt eine Gruppe beim Schnibbeln neue mathematische Formeln ...

Um Lernen und Leben zu verbinden, bedarf es der intensiven Umgestaltung der Umwelt, die bisher u.a. wegen der Verwertungslogik auf ExpertInnentum und Verknappung von Wissen angelegt war. Ein Rahmen für Selbstorganisierung und Aneignung muss erst noch aktiv geschaffen werden: Räume werden so ausgestattet, dass auch Uneingeweihte sich dort zurecht finden können und eine hohe Transparenz darüber besteht, wo Wissen abrufbar ist und wo Menschen zu finden sind, die beim Erlernen neuer Techniken helfen können. Erklärende Schilder, Anlaufpunkte und aufmerksame Menschen werden das Geschehen prägen. Insbesondere bei der Öffnung vormals reiner Werk- und Produktionsstätten wird es wichtig sein, diese Aspekte zu berücksichtigen. Ein Ausschnitt einer solchen Zukunft könnte so aussehen:

Menschen aus zwei benachbarten Häusern haben eine Projekt-Zone mit Computern, Druckern, Kopierern usw. eingerichtet. Es gibt zwar Leute, die den Raum geschaffen haben, aber die sind nur selten auffindbar - und das ist auch nicht schlimm: Überall hängen gut lesbare Zettel, die das jeweilige Gerät erklären und vermitteln, wo es benötigte Verbrauchsmaterialien gibt, wo Handbücher zu finden sind oder wer ansprechbar ist, wenn mensch etwas bestimmtes lernen möchte. Es gibt sogar eine ausführliche"Anleitung", wie der gesamte Raum im einzelnen funktioniert. An bestimmten Tagen gibt es Einführungen, die auch spontan verabredet werden können. Alles ist so eingerichtet, dass Aneignung erleichtert wird - und wird ständig verbessert ...

Kommunikation und Transparenz
Gerade in einer freien Gesellschaft werden sich Menschen immer nur einem begrenzten, für sie aktuell interessanten Ausschnitt der Gesellschaft zuwenden - und das ist gut so! Dieses Möglichkeitsfeld immer mehr zu erweitern ist eines der wichtigsten Anliegen emanzipatorischer Politik. Sehr wahrscheinlich ist, dass Lernorte, -gruppen und -möglichkeiten deutlich vielfältiger sein werden als in der jetzigen Gesellschaft. Gerade der Wegfall zentraler Institutionen zugunsten eines bunten Geflechts selbstorganisierter Prozesse macht Kommunikationsstrukturen, die Transparenz herstellen, umso wichtiger. "Wo ist welches Wissen verfügbar?" und "Welche Lernorte und -möglichkeiten gibt es?" sind dabei zentrale Fragen. Eines der wichtigsten Ziele ist es, die Möglichkeiten zu erweitern, dass sich die Menschen treffen, welche etwas von- oder miteinander lernen wollen. Wandzeitungen, Open Space als Dauereinrichtung oder Datenbanken sind nur ein paar der möglichen Ideen:

Das Haus, in dem ich gerade lebe, verfügt in der Gemeinschaftsküche über eine große Wandzeitung, auf der alle interessierten HausbewohnerInnen notieren können, welches Wissen sie weiter geben können oder was sie gerade unbedingt lernen wollen.

Ein Straßenzug in der Nähe hat eine (nach dem Ende des Kapitalismus funktionslos gewordenes Werbeplakatwand in einen Umschlagplatz für ein ständiges Open Space verwandelt. Dort sind grob alle Gebäude und Plätze aufgezeichnet, die der Straßenzug umfasst - dazu ein Chaos an bunten Zetteln. Zudem gibt es eine Anleitung für die Methode und Hinweise, wer ansprechbar ist, falls Unklarheiten bestehen. Immer wieder kommen und gehen Leute, manche hängen Zettel an die Wand, wenn sie in nächster Zeit etwas tun, an dem auch andere teilhaben können sollen - ob Lernmöglichkeit, Gesprächsrunde, Veranstaltung, Aufräum- oder Koch-Aktion. Auf den Zetteln stehen Sätze wie: "Heute Abend trifft sich die FahrradschrauberInnengruppe im Hof vom grünen Haus. Wenn du mit uns üben willst, deinen Drahtesel zu flicken usw. komm doch vorbei!", "Ab 21h offene Lesung auf der großen Wiese", "Ich nehme heute ein neues Lied auf - wer mir beim Abmischen zusehen will, kann mich ab 15 Uhr im Keller vom roten Haus besuchen." oder "Lesekreis Psychologie in der Hängematte 17-23 fällt heute leider aus." Ständig kommen neue Zettel dazu, werden alte abgehängt oder bei einer Begegnung entwickeln ein paar Menschen wieder eine neue Idee. Außerdem gibt es Rubriken mit Terminübersichten für die nächsten Tage. Das kulturelle Leben entsteht selbstorganisiert und jeden Augenblick neu.

Später surfe ich noch mal durch das Netz: Ein paar SoftwareprogrammiererInnen haben eine Lerndatenbank ins Internet gesetzt, in der Menschen weltweit eintragen können, was sie anderen beibringen können und was sie lernen möchten. Wer etwas bestimmtes lernen will, kann dort nach Menschen in der Nähe suchen, die dabei behilflich sein könnten. Und überall gibt es Leute, die Printversionen ausdrucken und in Räumen aufhängen, wo sie unterwegs sind, damit auch die etwas von der Datenbank haben, die keine Lust haben, im Netz zu surfen. Nebenan layoutet eine andere Gruppe die gelben Lernseiten, die auf der Datenbank aufbauen ...

Streit ist eine Produktivkraft
Kooperation ist ein weitreichender Begriff. Auch Streit gehört dazu, denn positiv gedeutet ist Streit ebenfalls ein Vorgang, der die Weiterentwicklung von Menschen, Ideen und Wissen nach sich zieht. Das ist allerdings nur dort der Fall, wo Streit nicht zum Ziel hat, der einen oder anderen vorhandenen Position zum Sieg zu verhelfen, wie es bei Streit mit Entscheidungsvorgang (Abstimmungen, Wahlen ...) regelmäßig der Fall ist. Dort geht es nicht um Erkenntnisgewinn und Weiterentwicklung, sondern um das Durchsetzen gegen andere. Daher verhalten sich die Beteiligten meist taktisch, verschweigen Schwächen ihrer Position und Stärken der anderen. Eigene Unsicherheiten werden überspielt, populistische Verkürzungen sollen Stimmen fangen. Eine solche Auseinandersetzung nach Sieg-Niederlage-Orientierung, die bei Entscheidungsgängen immer dominiert*, ist Kooperation ohne Autonomie. Die Menschen agieren zwar zusammen und erzeugen auch ein gemeinsames Ergebnis, aber sie verlieren ihre Autonomie, d.h. sie können nicht anschließend individuell entscheiden, was sie aus einer Debatte an neuen Erkenntnisse für sich herausnehmen, was sie umsetzen, wo sie eigene Akzente setzen wollen.

* Daran ändert sich auch nichts, wenn die Entscheidungsmodalitäten z.B. durch basisdemokratische Regeln, Konsens u.ä. tatsächlich oder scheinbar etwas gleichberechtigter organisiert werden. Der Wille zum Sieg verbleibt und prägt das Kommunikationsverhalten.

Ein Zusammenspiel von Autonomie und Kooperation entsteht im Streit dann, wenn die Diskussionsform des Streites selbst gleichberechtigt organisiert wird (Zugang zu allen Fakten offen gestalten, gleiche Relevanz aller Beiträge, kommunikativer Prozess) und die Autonomie der Einzelnen immer gesichert ist, weil keine kollektive Entscheidung stattfindet. Hierarchische Strukturen, privilegierte Gremien oder entscheidungsbefugte Plena oder Versammlungen haben in einem System von Autonomie und Kooperation nichts mehr verloren. Streit als dynamische Form der freien Kooperation hat Selbstwert. Er ist eine besondere Form der Auseinandersetzung, des Informationsaustauschs und im günstigen Fall der Weiterentwicklung von Theorie und Praxis. Er tritt auf, wenn unterschiedliche Interessen oder Meinungen aufeinandertreffen, weil sie sich gegenseitig behindern, blockieren oder berühren. Er kann aber auch offensiv, d.h. ohne konkreten Anlass organisiert werden als Streit-Treffpunkt, weil Streit ohne Herrschaft eben als kommunikatives und voranbringendes Mittel begriffen wird. Niemals jedoch wird er mit Entscheidung verbunden, die Streitenden sind immer frei darin, was sie aus dem Streit ableiten, ob sie weiter kooperieren oder wieder getrennte Wege gehen wollen, ob sie Konfliktkurs beibehalten oder z.B. Unterschiedlichkeit strategisch so geschickt organisieren wollen, dass sich alle Formen entfalten können. (Quelle: Projektgruppe HierarchNIE: Fliegende Fetzen - Emanzipatorische Streitkultur und der Weg dahin. HierarchNIE-Reader, S.10-13, www.hierarchnie.siehe.website)

"Neue" Technik: Auf Aneignung orientiert
Kooperativ-herrschaftsfreie Rahmenbedingungen werden auch auf die Technikentwicklung zurück wirken. Ohne Verwertungslogik dürfte das Interesse schwinden, Wissen zu verknappen. Umso umfassender Wissen verbreitet wird, desto mehr Menschen können sich an der Weiterentwicklung beteiligen oder am Produktionsprozess teilnehmen. Daher ist wahrscheinlich, dass Technik so gestaltet wird, dass diese einfach zu verstehen ist - denn die Akzeptanz durch die NutzerInnen und ein gutes Leben für alle stehen im Mittelpunkt.
Unter kapitalistischen Rahmenbedingungen ist es funktional, Technik als kompakte Einheit zu konzipieren, bei der Defekte an einem Teil immer gleich den Neukauf vieler anderer Teile mit sich führt - Reparaturen und Neuanschaffungen fördern den Profit. Unter kooperativen Verhältnissen wären andere Entwicklungen zu erwarten: Auch die eifrigsten SchrauberInnen werden ihre Zeit nicht mit Reparaturdiensten ausfüllen wollen, denn sie tun dies ja freiwillig. Da Ressourcen nicht mehr "von oben" verfügt werden können, wird die Neigung zu schonendem Materialverbrauch zunehmen. Daher ist das Interesse aller am Produkt beteiligten Menschen hoch, dass Geräte nicht nur lange halten, sondern auch möglichst einfach reparier- und modifizierbar sind. Unter kooperativen Verhältnissen ist eine deutliche Hinwendung zu kleinteiligen Technologien zu erwarten, bei der defekte Einzelteile problemlos ersetzt werden können. Selbstbau- oder Reparaturanleitungen sowie Schaltpläne werden frei verfügbar sein, offene Werkstätten das Wissen um Reparatur und Wartung weiter geben.

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