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WAS IST ANARCHIE? BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT ZWISCHEN AUFSTAND & LEBENSGEFÜHL

Varianten des Anarchismus


1. Definitionen
2. Anarchie - der Begriff für alles, auch völlig Verwirrtes
3. Was bleibt an zentralen Definitionspunkten?
4. Varianten des Anarchismus
5. Links und Lesestoff

Es dürfte deutlich geworden sein: Für Anarchie oder Anarchismus gibt es keine feste Definition. Überall geistern andere Begriffsinhalte herum, oft sehr trübe und oberflächliche. Dennoch existieren einige klassische Einteilungen, zum einen nach den Organisierungsformen (siehe Folgekapitel) und zum anderen nach bestimmten Grundannahmen. Vier davon seien hier beispielhaft dargstellt. Die beiden ersten bilden eine schon längere Konfliktlinie, die weiteren vorhandene Strömungen und Neigungen.

Individual- oder sozialer Anarchismus? Eher die falsche Frage ...
Wer auf die Autonomie des Individuums setzt, wird oft als IndividualanarchistIn bezeichnet oder gar beschimpft - mitunter sogar von den AnhängerInnen basisdemokratischer Organisationen, die den Namen der Anarchie für sich besetzen wollen. Doch dadurch entsteht ein künstlicher Gegensatz. Denn in der Idee der Autonomie steckt nicht zwangsläufig die der Isolation - ganz im Gegenteil: Autonomie, d.h. die Fähigkeit zur Selbstorganisierung, ist Voraussetzung für ein horizontales Miteinander der Menschen, für freie Kooperation oder Vereinbarung. Solche Kooperation, die nicht auf Zwang und Unterwerfung beruht, dehnt Autonomie aus, weil nun das Individuum aus mehr Möglichkeiten und Handlungsoptionen wählen kann. Daher stärkt die Kombination von Autonomie und Kooperation (siehe entsprechendes Kapitel im Buch "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen") einerseits das Individuelle, weil die Menschen mehr Möglichkeiten haben. Andererseits stärkt es das Kooperative, weil gut organisierte Menschen, die ihre Möglichkeiten auch tatsächlich einbringen und verwirklichen können, weit mehr und bessere Chancen der Kooperation haben als in Befehlsstrukturen.

Im Original: Individualanarchismus
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (S. 8, mehr Auszüge)
Entschiedene Abgrenzung aber ist geboten gegenüber den nur individualistischen Anarchisten, die in der egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staats und der Autorität erblicken und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst ruhenden Ich zurückweisen. Sie schließen die Augen vor der naturgegebenen Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftlich lebendes Wesen ist und die Menschheit eine Gattung, in der jedes Individuum auf die Gesamtheit, die Gesamtheit auf jedes Individuum angewiesen ist.
Wir bestreiten die Möglichkeit und auch die Wünschbarkeit des vom Ganzen losgelösten Individuums, dessen vermeintliche Freiheit nichts anderes sein könnte als Vereinsamung, mit der Folge des Untergangs im sozial luftleeren Ftum. Wir behaupten: niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind. Die Freiheit aller aber und damit die Freiheit eines jeden setzt voraus die Gemeinschaft im Sozialismus.
Sozialismus ist, wirtschaftlich gesehen, die klassenlose Gesellschaft, in welcher der Grund und Boden sowie alle Produktionsmittel der privaten Verfügung entzogen sind, somit weder Grundrente noch Unternehmerprofit noch auch die Abgeltung vermieteter Arbeitskraft durch Lohn oder Gehalt die schaffenden Hände und Hirne um den Ertrag ihrer Mühen berauben können. An der Stelle der privaten oder staatlichen Ausbeutung steht die planmäßige gemeinsame Bewirtschaftung des Gemeineigentums, an der Stelle der bevorrechtigten Minderheit der Besitzenden jedes Landes die zum Volk geeinte Gesamtheit in allen Ländern.


  • Bücher "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" und "Autonomie & Kooperation": Bestellseite

Anarcho-Primitivismus
Im Spektrum politischen Gruppen begegnet mensch AktivistInnen, die sich mit der Befreiung von Tieren oder der gesamten Umwelt aus der Beherrschung durch den Menschen widmen und sich ebenfalls AnarchistInnen nennen. Schon innerhalb ihrer Strömungen ist die Vielfalt an anarchistischen Ideen hoch, wobei die größe Gruppe auch hier diejenige ist, die auf größere Theoriedebatten ganz verzichtet, ein allgemeinen (durchaus oft berechtigtes) Unwohlsein in Protest umsetzt, aber spurenlos, da in keiner Gesellschaftserklärung verfestigt, nach einiger Zeit zurückkehrt in den Schoß der bürgerlich-kapitalistischen Welt.

Eine Strömung ist der Anarcho-Primitivismus. Zurück zur Natur, heißt die Parole - Unterwerfung unter die Naturgesetze! Manchmal ist das verbunden mit einer Technologiekritik, die bei Umsetzung ein Überleben in kalten Teilen der Welt und auch andernorts bei der gerade in den Industrienationen und Metropolen erreichten Bevölkerungsdichte nicht mehr möglich machen würde. Konsequenzen oder gar Vorschläge, was das denn praktisch bedeuten würde, folgen regelmäßig nicht. Aber auch die Herleitungen wirken einfach: "Desto komplexer der Produktionsverlauf, desto schwieriger wird es sein, Herrschaftsfreiheit herzustellen. Dies ist der Punkt an dem meine Technologie-Kritik ansetzt." (grünes Blatt 2/2007, S. 32) Das entlastet den Kopf. Etwas gerät in die Kritik, weil es anstrengend ist, darüber nachzudenken. Hier entpuppt sich Technikkritik als Denkfaulheit und der daraus folgende Anarcho-Primitivismus als Ausstieg der Menschheit aus einer aufgeklärten, reflektierten und kommunikativen Welt: "In ihrer Essenz stärkt diese Technik-Kritik das Prinzip der Herrschaftsfreiheit und Selbstorganisation. Je simpler, einfacher und praktischer der Produktionsprozess (wie z.B. die Essensbeschaffung oben) ist, desto leichter lassen sich die Prinzipien anwenden."

Im Original: Anarcho-Primitivismus
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (mehr Auszüge)
Wir verspüren erste Anzeichen eines Vertrauensverlustes in unsere einzigartigen menschlichen Fähigkeiten - unsere Fähigkeit, in Frieden mit anderen zu leben, unsere Fähigkeit, uns um Mitmenschen und andere Lebewesen zu kümmern. Dieser Pessimismus wird täglich von Soziologen genährt, die die Ursachen unseren Versagens innerhalb unserer Gene lokalisieren, von Antihumanisten, die unsere "antinatürlichen" Sensibilitäten beklagen, und durch "Biozentristen", die unsere rationalen Qualitäten durch Beiträge herabsetzen, in denen wir von unserem "inneren Wert" her schließlich nicht anders als Ameisen seien. Alles in allem sind wir Zeuge eines breitangelegten Angriffs auf die Fähigkeitvon Vernunft, Wissenschaft und Technik diese Welt für uns und das Leben generell zu verbessern. (S. 9) ...
Es gibt kein Zurück zu dem naiven Egalitarismus der schriftlosen Welt oder zur demokratischen Polis der klassischen Antike. Wir sollten dies noch nicht einmal wollen. Atavismus, Primitivismus und Versuche, eine entfernten mit Rasseln, Trommeln, bemühten Ritualen und rhythmischen Gesängen zu beschwören, deren Wiederholungen und Wunschvorstellungen uns ein übernatürliches Wesen in unserer Mitte erscheinen lassen möchten - so sehr dies auch als harmlos oder "immanent" geleugnet oder bejaht werden mag - lassen uns die Notwendigkeit der rationalen Diskussion, des forschenden Blicks auf unsere Gemeinschaft und der beißenden Kritik an unserem gegenwärtigen Gesellschaftssystem vergessen. Ökologie ruht auf den wundervollen Qualitäten, der Schöpfungskraft und Kreativität der natürlichen Evolution, auf allem, was unsere tiefste emotionale, ästhetische und auch intellektuelle Bewunderung verdient - und nicht auf anthropomorphen Projektionen, auf Gottheiten, seien sie nun "immanent“ oder "transzendental". Nichts wird gewonnen, wenn wir einen naturalistischen, wahrlich ökologischen Rahmen verlassen und uns mystischen, psychologisch regressiven und historisch atavistischen Fantasien hingeben.
(S. 62) ...
Die Wildnis, oder was von ihr heute noch übriggeblieben ist, kann einem ein Gefühl der Freiheit vermitteln, einen geschärften Sinn für den Reichtum der Natur, eine Liebe für nicht-menschliche Formen des Lebens und eine reichere ästhetische Wertschätzung der natürlichen Ordnung.
Sie hat aber auch eine weniger unschuldige Seite. Sie kann zu einer Ablehnung der menschlichen Natur führen, zu einer introvertierten Verweigerung des sozialen Umgangs, zu einem willkürlichen Gegensatz zwischen Wildnis und Zivilisation. Rousseau neigte zu einem solchen Standpunkt, aus einer Vielzahl von Gründen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben. Daß Voltaire Rousseau einen "Menschenfeind" nannte, ist keine völlige Übertreibung. Die Wildnisenthusiasten, die sich in die entfernten Berge zurückziehen und menschliche Kontakte meiden, haben uns im Laufe der Zeit mit zahllosen Misanthropen versorgt. Für Stammesvölker dienen solche individuellen Rückzüge, das "Suchen nach Visionen", dazu, um reicher an Erkenntnissen zu den Gemeinschaften zurückzukehren; für den Misanthropen sind sie häufig eine Revolte gegen die eigene Art, ja eine Ablehnung der natürlichen Evolution, wie sie sich in den menschlichen Wesen verkörpert.
Dieses Gegeneinanderstellen einer scheinbar wilden "Ersten Natur" und einer gesellschaftlichen "Zweiten Natur“ beweist nur das blinde und qualvolle Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was in einer kapitalistischen Gesellschaft irrational und anti-ökologisch ist, und dem, was in einer freien Gesellschaft rational und ökologisch sein könnte. Man verwirft einfach die Gesellschaft an sich. Man verschmilzt die Menschheit, ungeachtet ihrer internen Konflikte zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu einer einzigen "Art“, die wie ein Fluch auf einer angeblich unverdorbenen, "unschuldigen" und "ethischen" Naturwelt lastet.
Solche Ansichten führen leicht zu einem krassen Biologismus, der keine Möglichkeit bietet, Menschheit und Gesellschaft in der Natur oder genauer, in der natürlichen Evolution, einen Platz einzuräumen. Der Tatsache, daß auch der Mensch ein Produkt der natürlichen Evolution ist und daß die Gesellschaft aus diesem evolutionären Prozeß erwachsen ist, indem sie in ihre eigene Evolution wiederum die natürliche Welt - in das soziale Leben transformiert-einfließen ließ, wird in einer sehr statischen Vorstellung von der Natur nur ein zweitrangiger Platz zugewiesen. Diese simplistische Vorstellung betrachtet die Natur als ein bloßes Stück Landschaft, wie wir es etwa von Ansichtskarten kennen. In diesen Vorstellungen finden wir nur sehr wenig Naturalismus; sie sind eher ästhetisch als ökologisch.
(S. 151 f.)


High-Tech-Anarchie
Als müsste erst noch bewiesen werden, das Anarchie schlicht alles sein kann, gibt es auch das glatte Gegenteil des Primitivismus - die Cyber-Anarchie. Viele NetzaktivistInnen geben sich betont anarchisch. Trotz aller Ausblendungen an Herrschaftsförmigkeiten der Techniknutzung zeigt sich in den Debatten um Open Source, Hacken oder vieles, was zu einer modernen Herrschaftsanalyse besser passt als das Diktat des Primitivismus: Es kommt nicht auf die Sache als solches an, sondern auf die Verhältnisse und Beziehungen, in denen sich menschliches Handeln einschließlich der Nutzung von Ressourcen und Entwicklung von Werkzeugen bewegt.

Übersicht über die Grundformen
Liste verschiedener Formen des Anarchismus (Quelle dieses Absatzes einschl. der Links)

Andere, neuere oder in der Definition teilweise umstrittene Formen des Anarchismus
  • Libertarismus - Freiheit des Individuums steht im Vordergrund (Mischform zwischen individualistischem Anarchismus und kapitalistischem Liberalismus)
  • Anarchokapitalismus - Kapitalistisch orientierter Anarchismus - Eigentum als zentrale Idee, der Staat wird abgelehnt.
  • Anarchafeminismus - Angesichts einer Vorherrschaft der Männer, die zu bekämpfen sei, wird der Anarchismus als Möglichkeit der Emanzipation gesehen
  • Postanarchismus
  • Situationismus - die französische Variante von 1968 (Studentenbewegung, Mai-Unruhen), Forderungen u.a. Abschaffung der Ware, der Arbeit, der Hierarchien, Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben
  • Pogo-Anarchismus, siehe APPD (Dieser ist meistens nicht ernsthaft gemeint)

Anarchistische Richtungen mit Grundlagen im 19. Jahrhundert (einschließlich der Mischformen)

Anarchistischer Kommunismus

Historische Richtungen des 20. Jahrhunderts
  • Im zwanzigsten Jahrhundert bildeten sich aber auch politische Strömungen heraus, deren Selbstverständnis es ist, Anarchisten zu sein, obwohl man sie mit dem klassischen Anarchismus nur noch schwer in Verbindung bringen kann. Hier gibt es nun im Wesentlichen zwei Richtungen: Der so genannte Anarchokapitalismus spricht sich bewusst gegen den Staat aus, da die Teilnahme am Staat erzwungen ist. Der "Links"-Anarchismus hatte dagegen nicht nur den Zwang des Staates im Auge, sondern auch strukturelle Ziele, die für sich genommen gegebenenfalls auch herrschaftliche Instrumente verlangten, um sie überhaupt durchsetzen zu können. Der "linke", kommunistische Anarchismus strebt dagegen eine Gesellschaft an, dessen politische Entscheidungen von der Basis ausgehen. Dazu wird Selbstorganisation von den Vertretern dieses Anarchismus als Mittel angesehen. Das Leben solle auf kleinstmöglicher politischer Ebene geregelt werden. Als wichtigste politische Einheit gelten demnach Stadtteilorganisationen, in denen lokale Angelegenheiten gemeinsam zu entscheiden sind. Demnach solle der Mensch die ihn betreffenden Entscheidungen selbst gemeinsam mit anderen fällen dürfen, weshalb sich diese Anarchisten auch immer gegen den Staat wenden, da er gewaltgesetzt ist und in der bürgerlichen Demokratie die Politik immer nur von einer kleinen Machtgruppe (Politiker/Konzern/Parteien), d. h. oligarchisch entschieden werde. Zu einer gerechten Gesellschaft gehöre eine gerechte Wirtschaft, weshalb Anarchisten autoritäre Wirtschaftsordnungen, wie die von einigen Marxisten gefordert, ablehnen, und eine selbstorganisierte Wirtschaft anstreben. Wenn jedoch ein selbstorganisierter reicher Bereich des Gemeinwesens mit einem selbstorganisierten armen Bereich die Lasten angemessen zu teilen nicht bereit ist, ist dies nach linkem Verständnis aber erst recht ungerecht. Dies ist das Problem, wenn Teile des gesellschaftlichen Besitzes einer Minderheit gehören.

Zum nächsten Text über die Geschichte der Anarchie, dem zweiten im Kapitel zur Bestandsaufnahme

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