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STRAFE

Strafe und Soziales


1. Einleitung
2. Welchen Sinn macht Strafe?
3. Wem dienen die Strafgesetze?
4. Strafe und Soziales
5. Schöner Schein: Behaupteten und verborgene Motive des Strafens
6. Satire: Vorschlag für ein ehrliches Strafgesetzbuch ...
7. Strafe überwinden!
8. Doch trotzdem heißt es überall: Mehr Strafe!
9. Kritisches zu Strafe
10. Verlautbarungen gegen Strafe und Knast
11. Religiöser Fundamentalismus und Strafe
12. Links und Materialien

Aus der Presseinfo des Innenministeriums Hessen zur Kriminalitätsstatistik 2005
Zunahmen registrierte die Polizei bei den Fällen des Erschleichens von Leistungen („Schwarzfahren“) um 11,6 Prozent (plus 1.758 Fälle) auf 16.918 Fälle und bei den Fällen von Sozialleistungsbetrug um 141,1 Prozent (plus 869 Fälle) auf 1.485 Fälle.

Aus Kai Bammann, "Zur sozialen Konstruktion von Kriminalität und Strafrecht" in Forum Recht
Im Strafgesetzbuch werden sehr unterschiedliche Tatbestände aufgeführt. Es geht von eher abstrakten Delikten, wie dem Landesverrat über Eigentumsverletzungen bis hin zu schwersten Angriffen auf einen Menschen in Gestalt der Sexualstraf- und Tötungstatbestände.
Schon daraus wird deutlich, daß eine Auswahl getroffen wurde, die uns, die wir mit dem Recht umgehen, selbstverständlich richtig erscheint. Ein uneingeweihter Beobachter - z. B. der für solche Fälle oft zitierte Außerirdische - könnte diese Auswahl jedoch als völlig willkürlich wahrnehmen. Das, was zum Beispiel im deutschen Strafrecht verboten ist, muß nicht in allen Rechtssystemen verboten sein - und einige Taten, die bei uns erlaubt sind, mögen in anderen Ländern unter strengste Strafen gestellt sein.
Bestimmte Taten werden - so meint man - von allen Völkern und zu allen Zeiten als strafwürdige Taten begriffen. Schon dies ist ein Trugschluß.


Beispiel Eigentumsverletzungen
Damit Eigentumsverletzungen als Straftaten begriffen werden können, müssen jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muß es überhaupt so etwas wie "Eigentum" in der entsprechenden Gesellschaftsordnung geben und zum anderen muß ein Eingriff in das Eigentum als Rechtsgutsverletzung verstanden werden. Beides ist nicht selbstverständlich.
Wie aus der Ethnologie ist bekannt, gibt es Gesellschaften, in denen persönliches Eigentum völlig fremd war bzw. ist. Jedes Mitglied eines Dorfes nimmt sich, was es gerade braucht und gibt es weiter, wenn jemand anders diesen Gegenstand benötigt. Ein "Diebstahl" (im rechtstechnischen wie im untechnischen Sinn) ist schon begrifflich ausgeschlossen, wenn jeder über alle Sachen frei verfügen kann. Möglich ist dies indes nur in sehr kleinen abgeschlossenen Einheiten, in denen es maßgeblich auf das Mit- nicht Gegeneinander ankommt. ...
Deutlich wird hieraus: selbst die Tötung ist nicht immer als Straftat nach heutiger Vorstellung verstanden worden. Es geht jedoch noch weiter: nicht immer stellte (oder stellt) die Tötung ein Unrecht dar.
Bis heute gibt es Ausnahmen vom Tötungsverbot: das Töten in einer Notwehrsituation, das in allen Rechtssystemen bekannt - und straffrei - ist. Das Töten im Krieg, das besonderen Ausnahmeregelungen unterliegt. Oder das staatliche Töten in Form der Todesstrafe, die bekanntlich bis heute in mehr als hundert Staaten, darunter auch in Teilen der USA vollstreckt wird. ...
Eine der bekanntesten und lange Zeit auch umstrittensten Kriminalitätstheorien ist der labeling (Etikettierungs-) Ansatz, der aus den USA kommend in den späten 60er Jahren von Fritz Sack in die deutsche Kriminologie eingeführt wurde. Der labeling-Ansatz weist deutliche Parallelen zu konstruktivistischen Ideen auf, auch wenn sich z.B. Hess und Scheerer in ihrer "konstruktivistischen Kriminalitätstheorie" sehr kritisch gegenüber dieser Theorie äußern. Sack geht davon aus, daß es so etwas wie "Kriminalität" objektiv nicht gibt, sondern es sich hierbei um einen Zuschreibungsprozeß handelt. Kriminalität wird als eine Art negatives Gut verstanden, daß ähnlich wie andere Güter (Besitz, Geld, Privilegien) verteilt wird. Niemand ist kriminell, sondern er oder sie wird von Dritten zu einem/ einer Kriminellen gemacht. Es handelt sich dabei um eine Interaktion zwischen dem als kriminell Begriffenen und den staatlichen Behörden. Die kriminologische Forschung hat hierbei besonders zwei Gruppen herausgegriffen: die Polizei, die selektiv ermittelt und damit schon durch ihre Ermittlungen bestimmt, wer in das Schema "kriminell" fällt und die Gerichte, die das Geschehen bewerten und letztenendes das Etikett "kriminell" vergeben. ...
Zusammengefasst läßt sich festhalten: der radikale Konstruktivismus geht davon aus, das es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Alles, was der Mensch wahrnimmt und als "Wirklichkeit" versteht ist durch seine Wahrnehmung, seine Erfahrungen und seinen individuellen Hintergrund geprägt. Im sozialen Konstruktivismus/ Konstruktionismus (bekannt geworden vornehmlich durch Berger und Luckmann) geht man ebenfalls davon aus, daß es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Hier ist es jedoch die Gesellschaft (also das soziale Umfeld) durch die eine kollektive Wirklichkeit erschaffen wird. Für die Kriminalität bedeutet dies : kriminell ist das, was wir mit unserer Wahrnehmung dazu machen (siehe dazu auch den Satz "nullum crimen sine lege" = kein Verbrechen ohne Gesetz). Es gibt keine Taten, die von vornherein als kriminell klassifiziert werden könnten, ja nicht einmal Taten, die grundsätzlich als "abweichend" zu gelten hätten. Wo es z.B. kein Eigentum gibt, ist es normal, einem anderen eine Sache "wegzunehmen", wenn man sie braucht, und sie sich dann wieder "wegnehmen" zu lassen. Das Etikett "kriminell" beinhaltet eine Wertung. Kriminalität ist (ebenso wie abweichendes Verhalten) etwas Schlechtes. Das Etikett dient dazu, die betroffene Person aus- und uns von ihr abzugrenzen. ...
Das Konzept der sozialen Konstruktion kann auch für die Kriminologie wertvolle Impulse geben. Recht ist ebenso wie die Kriminalität sozial konstruiert, d.h. von der Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen (um nicht zu sagen: nach ihrem Bild) erschaffen.


Beispiel: Mord und Totschlag
Deutlich wird hieraus: selbst die Tötung ist nicht immer als Straftat nach heutiger Vorstellung verstanden worden. Es geht jedoch noch weiter: nicht immer stellte (oder stellt) die Tötung ein Unrecht dar.
Bis heute gibt es Ausnahmen vom Tötungsverbot: das Töten in einer Notwehrsituation, das in allen Rechtssystemen bekannt - und straffrei - ist. Das Töten im Krieg, das besonderen Ausnahmeregelungen unterliegt. Oder das staatliche Töten in Form der Todesstrafe, die bekanntlich bis heute in mehr als hundert Staaten, darunter auch in Teilen der USA vollstreckt wird 5.
Dies läßt sich im Übrigen auch mit dem christlichen Glauben vereinbaren: das biblische Gebot "Du sollst nicht töten" (2. Mose 20, 13), ist unzutreffend übersetzt. Richtiger müßte es heißen, "Du sollst nicht ungerechtfertigt töten" 6. Auch das Christentum kennt die Notwehr. Legitimiert ist ebenso das gerechtfertigte Töten in einem Krieg 7.


Aus Goldmann, Emma (1969): "Anarchism and other essays"
In einer Gesellschaft, in der diejenigen, die immerzu arbeiten, niemals etwas besitzen, während diejenigen, die niemals arbeiten, über alles verfügen, ist Interessenübereinstimmung nicht gegeben; daher ist soziale Harmonie dort nichts anderes als ein Mythos. Das einzige Mittel, mit dem die etablierte Obrigkeit dieser ernsten Lage begegnet, ist die Gewährung noch größerer Privilegien für die, die bereits die Welt beherrschen und der weiteren Versklavung der enterbten Massen. Somit ist das gesamte Arsenal. der Regierung - Gesetze, Polizei, Soldaten, die Gerichte, Gesetzgeber, Gefängnisse - eifrig mit dem "Harmonisieren" der antagonistischen Elemente in der Gesellschaft beschäftigt.
Die absurdeste Verteidigung von Autorität und Gesetz ist, daß, sie dazu dienten, die Kriminalität einzudämmen. Abgesehen von der Tatsache, daß der Staat selbst der größte Verbrecher ist, indem er jedes geschriebene und natürliche Recht bricht, mittels Steuern stiehlt, durch Krieg und Todesstrafe mordet, ist er hinsichtlich der Bewältigung der Kriminalität an einem absoluten Nullpunkt angelangt. Es ist ihm gänzlich mißlungen, die fürchterliche Plage, die er selbst geschaffen hat, auszurotten oder auch nur zu verringern.
Verbrechen ist nichts anderes als fehlgeleitete Energie. Solange jede bestehende Institution insgeheim dazu beiträgt, menschlichen Tatendrang wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und moralisch in falsche Bahnen zu lenken; solange die meisten Menschen am falschen Platz Dinge tun, die sie nicht ausstehen können, ein Leben führen, das sie verabscheuen, werden Verbrechen unvermeidlich sein, und all die Vorschriften in den Gesetzesblättern können die Kriminalität nur erhöhen, sie aber niemals beseitigen. Was weiß die Gesellschaft, so wie sie heute existiert, von den) Prozeß der Verzweiflung, der Leere, der Ängste, der furchtbaren Kämpfe, den die menschliche, Seele auf ihrem Weg ins Verbrechen und in die Erniedrigung durchmachen muß. Wer, der diesen Vorgang kennt, empfindet nicht die Wahrheit in diesen Worten Peter Kropotkins: "Diejenigen, die zwischen den Vorteilen abwägen, die Gesetz und Bestrafung zugeschrieben werden und der entwürdigenden Wirkung des letzteren auf das menschliche Wesen; diejenigen, die sich den Sturzbach der Verderbtheit vorstellen können, der sich durch den, selbst vom Richter begünstigten und vom Staat unter dem Vorwand, Verbrechen zu entlarven, mit klingender Münze bezahlten Spitzel in die Gesellschaft ergießen wird; diejenigen, die in die Gefängnisse gehen und dort sehen werden, was aus Menschen wird, wenn ihnen die Freiheit genommen worden ist, wenn sie in der Behandlung durch brutale Aufseher, durch grobe, harte Worte, tausenden von peinigenden, bohrenden Demütigungen unterworfen sind, werden mit uns darin übereinstimmen, daß der gesamte Apparat von Gefängnis und Bestrafung ein Greuel ist, dem ein Ende gemacht werden muß."


Fritz Bauer, ehem. Generalstaatsanwalt in Frankfurt, zitiert nach: Lexikon Linker Leitfiguren (Hrsg. Edmund Jacoby, S. 33ff.)
... sagt Bauer: "Der Staat schützt bestimmte Interessen, mit Moral hat dies nichts zu tun. Die Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung lehren uns, wie wandelbar diese Interessen sind. Niemand kann in Abrede stellen, daß zweifelhafte Interessen geschützt wurden und werden; seit Thomas morus wissen wir, daß viele Interessen klassenbedingt waren und sind. Bisweilen handelt es sich um soziale Ideologien. Es bedarf heute nur eines Hinweises auf den weiten Bereich dessen, was die angelsächsische Kriminologie 'white-collar-crime' nennt. Sie versteht darunter beispielsweise die Steuerdelikte und Monopolverfahren, durch die - in aller Regel ungeahndet - Schäden von Millionen und Milliarden entstehen und denen gegenüber so gut wie alle Diebstähle Harmlosigkeiten sind." ...
In Anlehnung an die beiden großen Rechtsgelehrten Franz von Liszt und Gustav Radbruch plädiert er dafür, das auf dem Schuldprinzip fußende herkömmliche Strafrecht durch ein der "sozialen Verteidigung" dienendes Behandlungsrecht zu ersetzen. Schuld setze die Freiheit des Willens voraus, argumentiert Bauer, diese aber sei wissenschaftlich nicht erweislich. Auch seien menschliche Rechte und menschliche Gesetze keine absoluten Werte. ...
"Der Zweck der Strafe", so Bauer, "ist der Schutz der Gesellschaft durch Maßnahmen, die der Täterpersönlichkeit angemessen sind." Die logischen Konstruktionen des geltenden Strafrechts bezeichnete er als pseudowissenschaftlich, das geltende Recht und die herrschende Rechtspflege als wirklichkeitsfremd. Provokativ behauptet er, das Strafrecht stehe der Bekämpfung der Seuchen und der Regelung des Gar- und Wasserwesens näher als dem, was gemeinhin als Ethik und Moral bezeichnet wird.


Franz von Liszt, zitiert nach: Lexikon Linker Leitfiguren (Hrsg. Edmund Jacoby, S. 35.)
Es ist nicht unser Verdienst, daß wir nicht längst schon vor den Strafrichter gekommen sind, und es ist nicht die Schuld des Verbrechers, daß ihn die Verhältnisse auf die Bahn des Verbrechens getrieben haben. Unerbittlich fällen wir das Urteil, da dem Angeklagten Leib und Leben, Ehre und Freiheit nimmt, aber der philisterhafte Tugendstolz es wohlgesättigten Durchschnittsmenschen ist nicht am Platze. Alles begreifen heißt nicht alles verzeihen. Aber alles begreifen heißt bescheiden sein.


Beispiel Drogenkonsum (Betäubungsmittelgesetz)
Aus Roth, Siegward (1991): „Die Kriminalität der Braven“. C.H. Beck München (S. 62 f.)
Ganz ähnlich wie im Fall der Kriminalität stellen sich mir die Probleme des Verstehens und der Definition dar, wenn ich den Begriff der Sucht genauer betrachte. Auch dieser Begriff ist nach einem alltäglichen Vorverständnis eindeutig negativ besetzt, was dazu führt, daß Suchtprobleme üblicherweise nur bei einer Minderheit wahrgenommen werden, beispielsweise bei Heroinsüchtigen, Tablettenabhängigen oder Alkoholikern. Damit wird Suchtverhalten ebenfalls wieder als Abweichung vom Normalen aufgefaßt, und der Ausnahmecharakter der Abweichung wird abermals behauptet.
Nach meiner Überzeugung wäre es aber auch hier realistischer, das Problem genau umgekehrt zu begreifen und Sucht als etwas Normales aufzufassen. Nicht nur der Heroinabhängige oder der Alkoholiker wären demnach süchtig, wir alle wären es mehr oder weniger, und zwar in bezug auf Nikotin-, Alkohol-, Fernseh- und Videokonsum wie auch in bezug auf Arbeitssucht, Spielleidenschaft und vieles andere mehr. Nach diesem Verständnis wäre Sucht als etwas Durchschnittliches zu begreifen, das wir Normalbürger nicht nur tendenziell in uns tragen, sondern das mit unserer Menschlichkeit und den damit verbundenen konstitutionellen Ängsten und Unfähigkeiten untrennbar verwoben ist. Dabei wäre wichtig, daß der Unterschied zwischen dem Heroinsüchtigen und dem Normalen als quantitativ begriffen würde und nicht als qualitativ. Beide wären süchtig, und beide würden in ihrer spezifischen Sucht ihre individuellen Abhängigkeiten, die Konstitution ihrer Unfähigkeiten und Unfreiheiten, nach außen spiegeln. Damit wäre der Süchtige aber nicht mehr anders als wir Normalen, seine Sucht wäre nicht mehr Ausdruck einer anderen Struktur, beispielsweise einer außergewöhnlichen Willensschwachheit oder Haltlosigkeit, die wir als fremd begreifen könnten.


  • Gefängnisland USA - gegenwärtig leben dort 2,3 Millionen Menschen hinter Gittern (Quelle: Spiegel 49/2007)
  • Besonders fatal: Irrtümer bei lebenslanger Haft und Todesstrafe

Strafe an anderen Orten
Strafe an Schulen
Aus einem Interview mit dem Erziehungswissenschaftler Werner Thole, in: taz, 8.11.2013
Insbesondere in der Sozialpädagogik drückt sich zurzeit wieder eine Mentalität aus, die auf sogenannte klassische Werte setzt: Disziplin, Ordnung, Einhaltung von festen Regeln. Das Streben von Kindern nach Autonomie und ihre Wünsche, sich Anpassungsansprüchen der Gesellschaft zu widersetzen, da beobachte ich vermehrt Reaktionen, die darauf abzielen, das zu begrenzen. Es wird disziplinarisch härter durchgegriffen. Und das zeigt sich auch in der Sozialen Arbeit.

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