Anti-Zwangspsychiatrie

ANARCHIE VS. MARXISMUS: LIBERTÄRER KOMMUNISMUS ODER GEGENSEITIGE HETZE?

Vergleiche


1. Einleitung
2. Vergleiche
3. Unterschiede im Detail
4. Anarchokritik und -hetze gegen (autoritären) Kommunismus/Sozialismus
5. Sozialistische und kommunistische Kritik und Hetze an der Anarchie
6. Zusammengedacht: Marxismus und Anarchismus

Im Kern unterscheiden sich Anarchismus und Marxismus vor allem in der Rolle, die ihre AnhängerInnen bestehenden oder zukünftigen Herrschaftsstrukturen zuweisen. Während AnarchistInnen von der Idee her jede Form der Herrschaft ablehnen, auch auf dem Weg zum Ziel, halten MarxistInnen - je nach Strömung - zumindest die vorübergehende Übernahme der bestehenden Herrschaftsapparate für möglich, ohne darin dann zu korrumpieren oder die Herrschaftsverhältnisse nur wieder aufleben zu lassen. Ihre Hoffnung und Überzeugung ist, dass der Staat von selbst abstürbe, wenn er seiner Funktion beraubt würde, die ArbeiterInnen im Sinne des Kapitals zu unterdrücken.
Es gibt gute Gründe, an den Annahmen der MarxistInnen zu zweifeln - zu eindeutig sind bisherige Experimente schiefgegangen und haben, statt den Staat zum Absterben zu bringen, ihn zu neuer Allmacht getrieben. Unüberlegt wirken die Erklärungsmodelle, warum die Selbstreproduktion von Herrschaft nicht mehr zutreffen sollen, bloß weil die Guten - SozialistInnen und KommunistInnen als Sprachrohre des Proletariats - die zentralen Posten der Macht einnehmen. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Herrschaft muss geradezu die Überlegung nach sich ziehen, den Abbau der Herrschaft möglichst schnell und konsequent zu vollziehen, um die nötigen Freiräume zu schaffen, in denen Gesellschaft von unten wachsen kann. Der Aufstand der Zapatistas in Chiapas (Mexiko) ab dem 1.1.1994 mag dafür eher als Vorlage dienen als marxistische Theorien der Machtübernahme des Staates durch das Proletariats (wer auch immer das, dann ja in konkreten Personen ausgedrückt, dann ist).

Doch auch bei den AnarchistInnen sind Zweifel angebracht. Ihr Theoriebild ist oft diffus. Immer wieder beziehen sich Strömungen positiv auf die Idee von Recht, mitunter sogar auf die Existenz staatsähnlicher Gebilde wie internationaler Organisationen oder Gerichtshöfe.
In utopischen Beschreibungen tauchen fast durchgehend Gremien und Organe auf, die Regierungen sehr, sehr ähnlich sehen. Basisdemokratische Strömungen entwerfen Bilder von Rätesystemen, die so auch in verschiedenen kommunistischen Ideen vorkommen. So gibt es in der Spanne zwischen Anarchismus und Marxismus auch den Übergangsbereich, in dem sich Gruppen und Personen auf beides beziehen und sich dann libertäre KommunistInnen oder ähnlich nennen.

Text von Paul Kellner "Über das Verhältnis zwischen Anarchismus und Kommunismus", in: antidotincl. No. 17 (2014)
Beide wollen Privateigentum, Staat und Klassen revolutionär aufheben. Und dennoch standen sich Kommunist*innen und Anarchist*innen oft feindlich gegenüber. Dahinter steckt ein ideologisch-taktischer Konflikt, den alle sozialrevolutionären Bewegungen kennen. Daher braucht es auch heute eine Praxis, welche die Herrschaft bekämpft, ohne eine neue zu schaffen.
Ganze Bibliotheken lassen sich füllen mit den mannigfaltigen und doch strukturell gleichen Geschichten aus dem sogenannten „Bruderkrieg“ zwischen autoritären und antiautoritären Revolutionär*innen: Der Triumph des Terrors der Jakobiner in der Französichen Revolution, der Auschluss der Anarchist*innen aus der Internationale 1872, die Verleumdungen radikaler Arbeiteraktivist*innen in der sozialistischen Presse, die Abschlachtung der Anarchist*innen und Arbeiter*innenräte unter Lenin und Trotzki, Stalins erpresserische Unterdrückung der Spanischen Revolution, die Verfolgung der Libertären unter dem Castrismus.
All diese Tragödien des kämpfenden Proletariats hatten denselben Ursprung: Das unmögliche Kunststück der Übernahme der Übernahme der zentralen Staatsgewalt für die revolutionäre Sache. Trotzdem wollen zu viele die Gefahr der Korrumpierung von Bewegung und Revolution noch immer nicht erkennen und verteidigen etwa die leninistische Ideologie bis zum heutigen Tag. Andere negieren die Möglichkeit einer erfolgreichen sozialen Revolution ohne ihre Degenerierung, verweisen auf George Orwells Die Farm der Tiere und flüchten sich dann in staatstragende linke Parteien. Wer aber ist gemeint, wenn von „Kommunist*innen“ und „Anarchist*innen“ die Rede ist und worin liegen die elementaren Unterschiede der beiden Strömungen?
Sowohl die Eigen-, als auch die Fremdbezeichnung „Anarchist*in“ oder „Kommunist*in“ sagt noch wenig aus über die tatsächliche Auffassung der*des Einzelnen, wie eine politische Praxis und eine Revolution auszusehen habe.
Weder waren autoritäre Machtmenschen nur in den kommunistischen Reihen anzutreffen, noch ist der antiautoritäre und föderale Ansatz ausschließlich eine Eigenschaft der Anarchist*innen. Theoretisch sind die Unterschiede der beiden Richtungen zwar bekannt. Doch in der Praxis erweisen sich die Begriffe oft als historisch und regional unterschiedlich gewachsen. So bezeichnen sich heute in Russland, Griechenland oder Osteuropa nur wenige Linksradikale als „Kommunist*innen“, da dieser Begriff aus ihrer Sicht historisch zu vorbelastet ist. Andererseits wird etwa in Lateinamerika die als diffamierend wahrgenommene Bezeichnung „Anarchist*in“ oft vermieden, obwohl die betreffenden Genoss*innen entlang libertärer Prinzipien handeln.
Als widersprüchlich empfand der anarchosyndikalistische Historiker Rudolf Rocker die Unterscheidung in „autoritäre“ und „antiautoritäre“ Sozialist*innen. Er proklamierte, „der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein“. Alles Autoritäre sei mit dem Sozialismus nicht in Einklang zu bringen. Und dennoch bedarf es einer kurzen terminologischen Klärung, denn kaum ein Begriff bleibt im Lauf der Geschichte seiner ursprünglichen Bedeutung gleich.

Von „Sozialist*innen“ zu „Anarchist*innen“ und „Kommunist*innen“
Am Anfang war eine Bewegung von Arbeiter*innen und einigen revolutionären Philosoph*innen. Sie nannten sich schlicht „Sozialist*innen“. Aber die Bewegung hatte schon früh zwei Flügel. Die einen plädierten für Zentralismus und für die später als „marxistisch“ bezeichnete Revolutionsstrategie, die anderen für Föderalismus und die „bakuninistische“, also anarchistische Taktik. Spätestens seit dieser Zeit hat sich der Anarchismus, wenn auch mit unterschiedlichen Richtungen, als politische Bewegung prinzipiell konstruiert und die Exponent*innen begannen sich auch begrifflich als „Antiautoritäre“ oder als „Anarchist*innen“ von anderen Sozialist*innen zu unterscheiden.
Komplizierter verhält es sich mit der Strömung um Marx und Engels. Bereits 1848 erschien das Manifest der Kommunistischen Partei. Dennoch hatten die kommunistischen Parteien erst nach der Oktoberrevolution ihren großen Durchbruch, da die Kommunist*innen zuvor noch in den sozialdemokratischen Parteien organisiert waren. Für Marx wiederum war der Kommunismus „nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“. Und dennoch hat sich in Wissenschaft und Bewegung auch ein Verständnis von Kommunismus durchgesetzt, welches sehr wohl auf ein Ideal, auf eine Wirklichkeit Bezug nimmt. In diesem Fall wird der Kommunismus nicht als politische Bewegung, schon gar nicht als marxistisch-leninistisches Konzept verstanden, sondern schlicht als ökonomische Organisation der Produktion, in der das Privateigentum durch den kollektiven Besitz der Produzent*innen ersetzt worden ist und in der sodann der marx‘sche Grundsatz gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Seit jeher gab es zudem Gruppen innerhalb der Linken, die sich zwar „marxistisch“ oder „kommunistisch“ nannten, die aber die Schriften der marxistischen Intelligenzija nicht zum Dogma erhoben oder gegen die offizielle Parteilinie opponierten und die so unweit libertärer Revolutionskonzepte zu stehen kamen. Dazu zählen etwa Revolutionärer Syndikalismus, Rätekommunismus, Luxemburgismus, Operaismus oder Situationismus. Trotzdem vertreten noch heute viele Kommunist*innen ideologisch einen orthodoxen Marxismus.

Die Idee der Herrschaft als politische Barriere
Ungeachtet aller löblichen Leistungen, die der Marxismus in Wissenschaft, Kultur und Politik erbracht hat, stellt seine fatale Kurzsichtigkeit in der Herrschaftsfrage seine weltgeschichtliche Limitierung dar. Wie eine Barriere versperrt der orthodoxe Marxismus dem kämpfenden Proletariat den Weg und fordert für Durchlass den Gehorsam gegenüber dem zentralistischen Avantgardeanspruch der revolutionären Partei und ihrer Regierung. Denn Marxist*innen propagieren – von einigen Dissident*innen abgesehen – für den Weg hin zum klassen- und staatenlosen „Kommunismus“. Ein Stufenmodell, in dem der „Sozialismus“ als Übergangsphase gedacht wird. In dieser Phase würde die revolutionäre Regierung das Diktat des Proletariats umsetzen und so die Bedingungen schaffen, für die endgültige Aufhebung aller Relikte der kapitalistischen Gesellschaft. Der Staat müsse nicht aktiv abgeschafft werden, sondern löse sich kontinuierlich wie von selbst auf, so die erstaunliche weltfremde Annahme. Dass jede Institution ein ihr typisches Innenleben und ein strukturelles Interesse an ihrem eigenen Bestand hat, wird schlicht nicht berücksichtigt.
Doch nicht nur fehlt dem orthodox-marxistischen Ansatz eine adäquate Staats- und Herrschaftskritik, auch führt eine dogmatisch-materialistische Geschichtsauffassung zu einem verkürzten Verständnis gesellschaftlicher Prozesse. Dieser offiziöse Marxismus geht von historischen Notwendigkeiten aus, formuliert Schicksalstheorien und unzählige angebliche Zwangsläufigkeiten. Auch wenn diese Ansätze nicht gänzlich unbrauchbar sind, tendiert der „wissenschaftliche Sozialismus“ (eine orthodox-marxistische Eigenbezeichnung) dazu, das handelnde Individuum und die spontane Veränderlichkeit des Geschehens zu vernachlässigen und so das Proletariat als reine Manövriermasse zu behandeln. Auch dieses wissenschaftliche Problem ist letzlich eine Konsequenz der avantgardistischen Idee der Herrschaft.

Wo immer möglich vereint, wo nötig der Bruch
Der Graben zwischen den Richtungen bedarf aber keiner Beschwörung. Und einige Anarchist*innen würden gut daran tun, die eigenen Reihen auf autoritäre und zentralistische Tendenzen zu prüfen, statt selbige nur in anderen politischen Gruppen zu kritisieren.
Die ideologischen und taktischen Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen sind darüber hinaus wichtiger Bestandteil einer fortschreitenden Gesellschaftsanalyse und der formulierung neuer Strategien. Denn Marxismus und Anarchismus beeinflussen sich seit jeher gegenseitig – auch in produktiver Weise. So war es doch Bakunin, der die Beteutung von das Kapital sofort erkannte und dasselbe ins Russische zu übersetzen begann. Ohnehin lässt sich weder die autoritäre noch die antiautoritäre Bewegung beseitigen, denn sie entstehen im Klassenkampf immer wieder von neuem. Es stellt sich also die Frage des Bruchs genau so wie die der Kooperation. Denn letzlich wird keine politische Richtung, deren Verterter*innen stets eine kleine Minderheit ausmachen, alleine die Revolution machen, sondern die Gesamtheit der Ausgebeuteten.
Im Klassenkampf haben Kommunist*innen und Anarchist*innen gleichermaßen die Aufgabe, die herrschende Klasse zu enteignen und die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiter*innen zu überführen. Die Anarchist*innen und die freiheitlichen Kommunist*innen müssen zudem mit der gesamten Arbeiterklasse die errungenen Freiheiten verteidigen und die Bildung neuer Regierungen und Machtzentren verhindern undgleichzeitig eine neue gesellschaftliche Organisierung aufbauen. Auch in früheren Stadien des Kampfes, so etwa bei einem Streik, gilt es freiheitliche Tendenzen zu stärken und mögliche Autoritarismen wie Füherertum, Machtkonzentration oder politische Vereinnahmung zu verhindern. In der konkreten Tat, in der revolutionären Aktion, spielt die ideologische Ausrichtung zudem eine untergeordnete Rolle und die vermeindlichen Grenzen verwischen sich durch den gemeinsamen Kampf. Zu oft entstanden aber Herrschaftsansprüche von Aktivist*innen und Politiker*innen, die sich bereits zuvor in hierarchischen Parteiorganisationen zusammengeschlossen hatten. Um auf solche Gefahren effizient antworten zu können, muss der Anarchismus, ja die freiheitlich-revolutionäre Bewegung überhaupt, eine Organisationsweise verfolgen, die über die reine Affinitätsgruppe hinausgeht. Eine schlagkräftige und vernetzte Bewegung also, dieökonomisch dem Kommunismus und organisatorisch der Anarchie zuarbeitet.
Ein Schweizer Sprichwort sagt: „Chasch nöd de Foifer und‘s Weggli ha!“. In unserem Fall ist das kreuzverkehrt, denn wie Bakunin schon wusste, ist „Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit; und Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität.“ Das Waggli gibt es also nur mit dem Foifer!"


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