Anti-Zwangspsychiatrie

PRAXIS: EXPERIMENT, AKTION UND ALLTAG

Alternativen und Gegenkultur


1. Einleitung
2. Demaskierung des Herrschaftsförmigen in Verhältnissen und Beziehungen
3. Herrschaft abwickeln
4. Aneignung und Austeilen
5. Beteiligungsmöglichkeiten ausdehnen, Hemmnisse abbauen
6. Alternativen und Gegenkultur
7. Utopien entwickeln, benennen und vorantreiben
8. Experimente und Anwendungsfelder
9. Aktion: Öffentlichkeit und Widerstand
10. Links

Hirnstupser - politische Analyse und Nachdenktexte
Hirnstupser am 16.6.2020: Kultur und Gegenkultur: Gefressen durch Repression und Assimilieren
Gegenkulturen bleiben Nischen oder werden von der Hauptkultur geschluckt. Daraus gibt es keinen Ausweg. Zu welchen Preis das Aufsaugen erfolgt, lässt sich aber beeinflussen.
Kultur definiere ich als Gesamtbezeichnung aller gesellschaftlichen Ausdrucksformen, also Sprache, Traditionen, Sicht auf Geschichte, Diskurse usw. Davon gibt es sehr viele. Einige davon dominieren, mitunter beschränkt auf eine bestimmte Region. Das nenne ich dann die Hauptkultur. Sie ist die Erscheinungsweise der aktuell geltenden Herrschaftsstrukturen, der Beziehungen und Verhältnisse in der Gesellschaft. Aus dieser Definition lässt sich ableiten, was Gegenkultur ist – nicht die Nische am Rande der Hauptkultur, sondern eine, die die hegemoniale Kultur herausfordert, sie hinterfragt, demaskiert, mit ihr bricht und so, bewusst oder unbewusst, als Ziel oder Aspekt hat, die geltenden Diskurse zu verschieben. Soweit so gut. Nun stehen Haupt- und Gegenkultur aber in einem dynamischen Verhältnis zueinander, in marxistischer Analyse könnte mensch auch sagen: Ihr Verhältnis zueinander ist dialektisch. Sie brauchen sich und reiben sich aneinander, aber fressen sich am Ende gegenseitig auf. Dabei ist die Hauptkultur überlegen, muss aber meist einige Federn lassen.
Die Gegenkultur braucht die Hauptkultur, weil sie ihre Identität aus der Abweichung schöpft. Die Gegenkultur ist eine Kampfansage an den Mainstream, ohne den es sie nicht als Gegenkultur gäbe. Denn dem Begriff ist das Dagegen inne, welches ein wichtiges Motiv ist. Umgekehrt braucht die Hauptkultur auch die Antithese. Denn sonst wäre der gesellschaftliche Zustand starr. Viele Momente bestehender Herrschaftsstrukturen zielen darauf ab, einen Status Quo zu erhalten. Gesetze, Normen, Traditionen, Grenzen und Hierarchien sollen die aktuellen oder sogar gestrigen Verhältnisse festhalten und zementieren. Das würde nicht gutgehen. Die normativen Verhältnisse würden erstarren, Traditionen künstlich verlängert, während technischer Fortschritt und mehr sich weiterentwickeln. Konflikte und ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft wären die Folge, denn diese kann ohne Veränderung nicht überleben. Dabei geht es nicht nur um eine lineare Weiterentwicklung, sondern neue Ideen bedeuten stets auch veränderte Ausgangsbedingungen für die nächsten Ideen. Evolution (aller Art) ist immer auch die Evolution der Evolutionsbedingungen. Alternativen und Gegenkultur bringen solche neuen Impulse. Die Hauptkultur kann sie bekämpfen oder aufnehmen.
Für die Praxis der Gegenkultur bedeutet das zwei Möglichkeiten. Sie kann als kleine Nische unbeachtet lange bestehen, aber bleibt dann eben Nische – wirkungslos auf das Gesamte. Tatsächlich kommt das selten vor, denn irgendwelche Interaktionen mit der Hauptkultur sind immer vorhanden und prägen beide Seiten. Daher ist der andere Weg der übliche: Die Gegenkultur wird, wenn auch anfangs bekämpft, schließlich aufgesogen, dabei verwandelt in ein mit den herrschenden Bedingungen kompatibles Projekt, eben assimiliert. Repression und Assimilation wirken oft gleichzeitig – erstere ist am Anfang dominant, letztere am Ende. Wirkung und, mitunter auch, Sinn der Repression ist, die Kampffähigkeit der Gegenkultur zu schwächen, damit sie dann unter geringeren Verlusten in die Hauptkultur integriert werden kann. Umgekehrt ergibt sich daraus die sinnvolle Strategie für jede Gegenkultur: Je widerstandsfähiger sie ist und bleibt, desto stärker kann sie im Zuge der Assimilierung die Hauptkultur verändern, also Teile der Gegenkultur in diese einbringen und vorhandene Traditionen wandeln oder brechen. Sie kann vorhandene Ressourcen umwandeln, d.h. ihre bisherige Nutzung verändern. Sie kann Traditionen und Verhaltensmuster abschwächen oder ebenfalls wandeln. Je stärker eine Gegenkultur gegenüber der Hauptkultur auftritt, desto mehr kann sie rausholen an kulturellen Verschiebungen. Daher: Seid radikal! Lasst euch von der Repression möglichst wenig einschüchtern und schleifen. Fordert das Große und Ganze, um das Mögliche zu erreichen. Ihr selbst können zudem entscheiden, ob ihr euch mit aufsaugen lasst, also dann in der Hauptkultur eingebettet lebt oder sogar Karriere macht mit den Innovationen, die ihr bewirkt habt. Oder ihr steigt dann aus und beginnt etwas Neues – am besten wieder etwas Gegenkulturelles.

Frei gesprochen - als Beitrag auf Youtube und als Podcast:



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