Antirepression

DIE VÖLKER DES KLEINES M@NNES: ANARCHIE, KOLLEKTIV UND KOLLEKTIVE IDENTITÄT

Erscheinungsformen und Steigerungen


1. Einleitung
2. Egal was, Hauptsache Einheit und/oder Kollektiv
3. Erscheinungsformen und Steigerungen
4. AnarchistInnen pro Kollektiv
5. AnarchistInnen als Kollektiv: Wir und die anderen
6. Anarchistische Kritik des Kollektiven
7. Links zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Konsens als vermeintliche Ausprägungsform des Gemeinsamen
Konsensabstimmungen sind nicht nur eine Form der Entscheidungsfindung, sondern immer auch ein Ritual der Erzeugung von "Wir"-Gefühl. Das beginnt bereits mit der Betonung der Wichtigkeit von Einstimmigkeit, bei der sich allerdings etliche Widersprüchlichkeiten zeigen. So wird das Vetorecht, das Einzelnen erlaubt, eine Entscheidung zu blockieren, zwar einerseits als zentraler Baustein geehrt, weil so - anders als in Mehrheitsabstimmungen - nicht einfach Einzelne übergangen werden können. Gleichzeitig ist der Gebrauch des Vetorechts aber der 'worst case' für die so heilige Einmütigkeit. Folglich wechseln sich Bewerbung des Vetorechts und massiver Druck gegen Personen, die es tatsächlich anwenden, ab. Außerdem stimmt die Theorie nicht. Das Vetorecht stärkt nicht die Einzelnen, sondern nur diejenigen, die Neues oder Änderungen verhindern wollen. Wer als EinzelneR mit neuen Vorschlägen kommt, ist durch das Vetorecht erheblich behindert, weil es notwendig wird, alle von einem Vorschlag zu überzeugen oder zumindest vom Veto abzuhalten, um selbst agieren zu können. Insofern ist das Vetorecht ein strukturkonservatives Mittel, das hilft, eine bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und gegenüber Veränderungen zu verteidigen. Das hilft meist den formal oder informell Mächtigen in einem Zusammenhang, weil die bestehende Ordnung und Ausrichtung die von ihnen geprägte ist.
Wegen dieser Stärkung des Bestehenden können Konsensrituale Identität schaffen, denn in ihnen manifestiert sich die bestehende Ordnung, d.h. Konsensverfahren fördern die Wahrnehmung des "Wir" und vermeintlicher gemeinsamer Werte und Deutungen.

Kollektive der Natürlichkeit: Stämme, Gleichgewichte ...
Jedes identitäre Kollektiv braucht Merkmale, die eine Unterscheidbarkeit zum Außen zumindest suggerieren, damit sich unter den Beteiligten ein Zugehörigkeitsgefühl einstellt. Dieses kann in der Praxis durch Rituale, Mitgliedsausweise u.ä. vermittelt oder aus Tradition, externen Quellen oder höherer Gewalt vorgegeben sein. Manche AnarchistInnen nehmen biologistische, natürliche oder spirituelle Ursprünge kollektiver Identität an, z.B. bioregionale Sonderheiten oder Abstammungsidentitäten in Stämmen und Völkern. Statt der Befreiung der Individuen aus den vielfältigen Umklammerungen u.a. auch genau durch solche schicksalhaften Vereinnahmungen werden dann plötzlich Stämme oder Völker zum Ort oder sogar Ziel der Befreiung.

Aus Bookchin, Murray (1981): "Hierarchie und Herrschaft", Karin Kramer Verlag in Berlin (S. 31)
Die Algonkians der nordamerikanischen Wälder haben die Vorstellung, daß der Biber, genau wie sie, ein Stammesleben führt: in eigenen Behausungen und in verständnisvoller Kooperation im Sinne des gemeinsamen Wohles. So verfügen auch Tiere über eine "Magie", haben ihre Totemahnen und werden von Manitu inspiriert, dessen Geist den gesamten Kosmos belebt. Deshalb müssen auch die Tiere besänftigt und versöhnt werden, andernfalls könnten sie den Menschen ihre Häute und ihr Fleisch verweigern. Eine kooperative Gesinnung, Bedingung des Uberlebens organischer Gemeinschaften, bestimmt völlig die Sichtweise von Natur und das Wechselspiel zwischen Natur und Gesellschaft. Der Zerfall dieser in sich geschlossenen, organischen Gemeinschaften, die auf Verwandtschaftsverhältnisse und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gegründet waren, in hierarchische und schließlich in Klassengesellschaften untergrub allmählich die Einheit von gesellschaftlicher und natürlicher Ordnung.

Gleiches gilt für bestimmte gesellschaftliche Zustände, die nicht mehr durch die freie Vereinbarung, sondern aus natürlichen oder anderen externen, z.B. spirituellen Vorgaben abgeleitet werden. Ökologische Gleichgewichte werden dann als Vorbild für die menschliche Gesellschaft beschworen, obwohl sie nicht einmal in der sehr dynamischen, wandlungs- und entwicklungsfähigen Natur so vorkommen. Damit soll nicht einer Skepsis gegenüber Naturwissenschaft das Wort geredet, allerdings dessen soziale Funktion begrenzt werden. Sie dient als Auf- und Erklärung, aber nicht als Quelle von Vorgaben.
Die bizarren Streitereien um die Fragen, ob der Mensch ein Herden-, Rudel-, Hordentier oder eher Einzelgänger ist, ob er als Fleisch-, Pflanzen- oder Allesfresser zu gelten hat oder welchem Zweck wohl die Sexualität dient, mögen anregende Informationen liefern, taugen aber nicht als vorweggenommene Entscheidung, wie Menschen zu leben haben. Das bleibt ihre Entscheidung - autonom oder, zusammen, in freier Vereinbarung.

Bezugspunkt Volk?
Das am häufigsten angerufene und auch als existent angenommene Kollektiv ist das Volk. Ob in Diktaturen, in der Demokratie oder bei AnarchistInnen: Das Volk scheint überall als reales Subjekt akzeptiert. Doch schon was "Volk" überhaupt sein soll, wird nirgends geklärt. Umso intensiver dient es als legitimatorische Größe im Hintergrund, als großer Ideen- und Auftraggeber irdischer Ordnungen und gesellschaftlicher Handlungen. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich diese aber eher als profane Wünsche einzelner Menschen, meist der Eliten bzw. MachthaberInnen im Kollektiv. Der Bezug auf das Volk schafft, ähnlich dem früher behaupteten, göttlichen Ursprung gebieterischer Vorgaben, einen legitimatorischen Hintergrund von Herrschaftsausübung - und es schafft gleichzeitig das Kollektiv, dem viele der Anordnungen dienen. Konkrete können so hinter scheinbar allgemeinen Interessen versteckt werden.
Das sich auch anarchistische Ideen und Aufträge auf dieses mit Macht aufgeladene Konstrukt "Volk" beziehen, mag erschrecken, zeigt aber die fehlende Herrschaftsanalyse von Kollektivität sehr deutlich. Das mag bei alten TheoretikerInnen noch als Stand der damaligen Debatte akzeptabel sein, ist aber enttäuschend, wenn es auch heute noch kritiklos übernommen oder sogar neu formuliert wird.

Im Original: Das tolle Volk soll siegen!
Bakunin über eine anarchistische Avantgarde (zitiert auf www.anarchismus.at):
Das Volk schenkt ihnen Leben ...
Hat das Volk erst einm
al triumphiert und sich nach freiheitlichen Prinzipien organisiert ...

Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet
... an der Stelle der bevorrechtigten Minderheit der Besitzenden jedes Landes die zum Volk geeinte Gesamtheit in allen Ländern.
Weiteres Zitat, auch in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers
Es ist in aller Eindeutigkeit so, daß wo Gesellschaft besteht, für den Staat kein Raum ist; wo aber der Staat ist, er ihr nicht erlaubt, ein Volk zu bilden, sie statt dessen in Klassen trennt und dadurch hindert, Gesellschaft zu sein.
Bei Mühsam:
... eine auf Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit aufgebaute Gemeinschaft ist in den Grenzen der räumlichen Verbundenheit der Menschen Volk, als allgemeine Lebensform der Menschheit betrachtet, Gesellschaft. ...
Staat ist nichts anderes, kann nichts anderes sein als zentralisierter Ausführungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes.

Forderungen für eine anarchistische Praxis bei AnarchistInnen
Für die Phase des Kampfes sind sie durch revolutionäre Volksarmeen und -patrouillen ohne hierarchische Struktur zu ersetzen.

Widersprüchlichkeit bei Bakunin: Ja zur Masse, gleichzeitig aber Verweis auf Verschiedenartigkeit
Aus Bakunin, Michail: "Sozialismus und Freiheit"
In einer sozialen Revolution, die einer politischen Revolution in allem diametral entgegengesetzt ist, zählen die Aktionen von Individuen fast gar nicht, während die spontane Aktion der Massen alles bedeutet. Was Individuen zu tun in der Lage sind, beschränkt sich darauf, Vorstellungen zu erläutern, zu propagieren und auszuarbeiten, die dem Masseninstinkt entsprechen, und, was mehr ist, ihre endlosen Bemühungen der revolutionären Organisation der natürlichen Macht der Massen zu widmen – aber nicht mehr als das; der Rest kann und muß vom Volke selbst getan werden. ...
... es gibt keine Kombination von klugen Köpfen, die so gewaltig wäre, all die unendliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit realer Interessen, Sehnsüchte, Willensäußerungen und Bedürfnisse zu umfassen, die in ihrer Totalität den kollektiven Willen des Volkes konstituieren; es gibt keinen Intellekt, der in der Lage wäre, eine soziale Organisationsform zu erfinden, die es möglich machte, alle und jeden zufriedenzustellen. ...
Es ist offensichtlich, daß die Menschheit erst, wenn der Staat aufgehört hat zu bestehen, ihre Freiheit erlangen wird, und die wahren Interessen der Gesellschaft und aller Gruppen, aller lokalen Organisationen und aller Individuen, die diese Organisationen konstituieren, werden erst dann ihre wahre Befriedigung finden.

Bakunin, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 42 ff.)
Die Volksmassen sind zu Opfern stets bereit, bilden eine Macht und sind deshalb so brutal, wild und entschlossen, Heldentaten zu vollbringen (...), weil sie, die wenig oder gar nichts besitzen, nicht vom Besitzstreben verdorben sind. ... Die besten Männer der bürgerlichen Welt von Geburt und nicht aus Überzeugung und Ehrgeiz, können nur unter einer Bedingung nützlich sein, daß sie im Volk aufgehen, in der Sache, die nur das Volk betrifft.

Aus: Arschinoff, Peter A. (1923): "Geschichte der Machno-Bewegung", Nachdruck bei Unrast, Münster (S. 247)
Der Anarchismus ist keine Mystik, keine Unterhaltung über das Schöne, kein Schrei der Verzweiflung. Er ist vor allen Dingen dadurch groß, daß er sich in den Dienst der geknechteten Menschheit stellt. Er trägt die Wahrheit der Massen, ihren Heroismus, ihre Willensimpulse in sich und ist im gegebenen Augenblick die einzige soziale Lehre, auf die sich die Massen in ihrem Kampf vertrauensvoll stützen können. Um aber dieses Vertrauen zu rechtfertigen, genügt es noch nicht, daß der Anarchismus eine große Idee ist, die Anarchisten aber deren platonische Verkünder. Die Anarchisten müssen ständige Teilnehmer, Schwarzarbeiter der revolutionären Massenbewegung sein, dann wird diese Bewegung die ganze Fülle der anarchistischen Ideale entfalten. Nichts wird einem umsonst zugeteilt, ein jedes Werk fordert hartnäckiges Bemühen und Opfer. Der Anarchismus muß die Einheit des Willens und die Einheit des Handels, eine genaue Vorstellung seiner historischen Aufgaben erwerben. Der Anarchismus muß in die Massen eintauchen, mit ihnen verschmelzen.

Immerhin: Verglichen mit anderen politischen Strömungen beziehen sich AnarchistInnen seltener oder distanzierter auf kollektive Subjekte bzw. das Volk als gesellschaftliche Basis. Demokratische oder marxistische VordenkerInnen sind da in der Regel skrupelloser oder unreflektierter. Anarchistische Kritik gab es früher und gibt es heute, wenn auch erschreckend selten.

Im Original: Kritik des Festhaltens am Volksbegriff
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 173, mehr Auszüge)
Mehr noch: das revolutionäre Projekt muß seinen Ausgangspunkt von einem grundlegenden libertären Gebot nehmen: jedes normale menschliche Wesen ist fähig, die Belange der Gesellschaft und insbesondere der Gemeinschaft, welcher er oder sie angehört, zu regeln.
Dieses Gebot wirft jakobinischen Abstraktionen wie "das Volk" und marxistischen Abstraktionen wie "das Proletariat" den Fehdehandschuh hin mit der Forderung, die reale Gesellschaft müsse von realen, lebendigen Menschen "bevölkert" sein, die frei über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Gesellschaft bestimmen können.

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Eine Integration in die staatlich organisierte Gesellschaft halten auch - oder gerade - Demokraten für eine Bürgerpflicht, die gegebenenfalls von der Staatsgewalt auch gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt wird. Man denke an die Wehr- oder Schulpflicht. Die so oft gegenüber dem "Kommunismus" hervorgehobenen Freiheiten meinen keinesfalls die individuelle Selbstbestimmung. ...
Goldman gelangte so zu einer Massenverachtung und zu einer entschiedenen Ablehnung des „Märchens von der Tugend der Mehrheit“: "jawohl, Autorität, Zwang und Abhängigkeit beruhen auf der Masse, aber nie die Freiheit, nie die freie Entfaltung des Individuums, nie die Geburt einer freien Gesellschaft ... das Volk als kompakte Masse... hat die Stimme des Menschen unterdrückt, den Geist des Menschen unterjocht, den Leib des Menschen gefesselt. Als Masse ist sein Ziel immer gewesen, das Leben gleichförmig, grau und eintönig wie die Wüste zu machen. Als Masse wird es immer der Vernichter der Individualität, der freien Initiative, der Originalität sein." (1972, 190f.)
Goldman hofft nicht auf Veränderungen, die von der Masse oder von demokratischen Mehrheiten ausgehen, sondern setzt ihr Vertrauen auf "intelligente Minoritäten" und freie Individuen: "Die Zivilisation ist ein ständiger Kampf des Individuums oder von Gruppen von Individuen gegen... die Mehrheit, die durch den Staat und die Staatsverehrung unterdrückt und hypnotisiert wird." (1977, 65) Die Kritik an der Masse und an der "Mehrheits-Demokratie" vieler Anarchisten ist also durchaus elitär - elitär allerdings nicht im Sinne eines Herrschaftsanspruchs einer Elite über die Mehrheit, sondern im Sinne einer Selbstbehauptung und Weigerung, die Vertretung ihres Anspruchs auf individuelle Selbstbestimmung Mehrheitsentscheidungen zu überlassen. ... (S. 144 ff.)
Vorausschauend kritisiert Kropotkin um die Jahrhundertwende den Sozialstaat als Mitverursacher an der Zerstörung traditioneller Formen ("gesellschaftlicher") gegenseitiger sozialer Hilfe und konkreter Gemeinschaftlichkeit: "Der Staat allein und die Staatskirche dürfen sich um öffentliche Angelegenheiten kümmern, während die Untertanen lose Haufen von Individuen vorstellen müssen, die keine besondere Verbindung untereinander haben und verpflichtet sind, sich jederzeit, wenn sie eine gemeinsame Not empfinden, an die Regierung zu wenden." (1975, 208) ... (S. 170)

Aus Le Guin, Ursula K. (1974), "Planet der Habenichtse", Wilhelm Heyne Verlag in München (S. 9 f.)
Da sie Mitglieder einer Gemeinschaft waren und nicht Elemente einer Masse, waren sie auch nicht von Kollektivgefühlen beherrscht; es gab so viele verschiedene Gefühle hier, wie es Menschen gab.

Andererseits finden sich auch AnarchistInnen, die dem Konstrukt "Volk" noch eine gefährliche Weiterung mitgeben. Das Volk wird bei ihnen zum sozialen Organismus. Dieses auf den ersten Blick vor allem der Beschreibung einer vermeintlichen Harmonie und Kooperation zwischen den Beteiligten dienende Bild ist tatsächlich eine böse Legitimation nicht nur der Konstruktion von Volk als zusammenhängende, aber nach außen klar abgegrenzte Schicksalsgemeinschaft, sondern zudem eine mit fester interner Rollenverteilung. Denn die Bestandteile in einem Organismus suchen sich ihre Funktion und ihren Ort ja nicht selbstbestimmt, sondern entwickeln sich zu Organen, Zellen oder Blutkörperchen nach einem festen Plan, der zudem auch vorsieht, dass einige Teile die anderen in ihren Handlungen steuern.

Im Original: Sozialer Organismus
Aus Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 18)
Die anarchistische Gesellschaft baut sich im Räteprinzip basisdemokratisch - "von unten nach oben" - auf. Auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Freiwilligkeit bilden Gesellschaft und Individuum einen untrennbaren Organismus.
In diesem Organismus wird sowohl dem natürlichen Freiheitswillen, als auch dem Bedürfnis nach Geselligkeit des Menschen entsprochen, er bildet die einzig wirkliche Form des demokratischen Zusammenlebens.

Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet, zitiert auch in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers
Gesellschaft und Mensch ist demnach als einheitlicher Organismus zu begreifen, und jeder Fehler in der Wechselbeziehung der Menschen zu einander muß sich als gesellschaftlicher Schaden, jeder Mangel in der gesellschaftlichen Ordnung als Krankheitserscheinung im sozialen Getriebe und somit als Benachteiligung von Individuen in Erscheinung setzen. Diese Untrennbarkeit eines Ganzen von seinen Gliedern, dieses Ineinanderverstricktsein der Teile, deren jedes ein Organismus mit den Eigenschaften des Ganzen ist, dieses Miteinander- und Durcheinander-Bestehen des Einzelnen und des Gesamten ist das Merkmal des organischen Seins in der Welt und jeder Verbindung in der Natur.

Dann folgert Mühsam aus der Beschreibung der Gesellschaft als Organismus mit vorgegebenen Funktionen genau das Gegenteil, nämlich Gleichberechtigung und Vielfalt - alles ist also ziemlich wirr:
Der kommunistische Anarchismus will diese natürliche Verbindung von Persönlichkeit und Gesellschaft mit Gleichberechtigung, gegenseitiger Unterstützung und Selbstverantwortlichkeit aller Einzelnen im Bewußtsein der Gesamtverbindlichkeit und gemeinsamen Verantwortung fürs Ganze wieder zur Lebensform auch der Menschheit werden lassen. Dazu erforderlich ist aber die vollständige Neugestaltung der Organisationsgrundsätze im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr.

Kein Glied tanzt aus der Reihe ... Gesellschaft wie ein Computer oder Ameisenstaat
Aus Rocker, Rudolf (1979, Nachdruck von 1923): "Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus", Verlag Freie Gesellschaft in Frankfurt (S. 13)
Die föderalistische Organisationsform ist dem menschlichen Organismus vergleichbar. Der menschliche Körper ist sozusagen ein Bund einzelner Glieder, von denen jedes seine besondere und selbständige Funktion erfüllt. Das harmonische Zusammenarbeiten von Herz, Leber, Gehirnzellen, Nerven und aller anderen Organe ist die erste Vorbedingung für das Leben und Gedeihen des Gesamtorganismus. Kein Glied tanzt aus der Reihe, alle erfüllen ihren besonderen Zweck. Überall finden wir die größte Selbständigkeit in der Ausübung jeder besonderen Funktion und in derselben Zeit die natürliche Gebundenheit aller Organe im Rahmen des Ganzen. Der Magen streitet nicht mit der Leber, das Herz nicht mit der Lunge, und wenn ja einmal ein solcher Fall eintritt, so findet er seine Erklärung in krankhaften Störungen, die entweder bald wieder behoben werden oder früher oder später zum Absterben des Gesamtorganismus führen müssen. Jedes Organ existiert zwar für sich, aber gleichzeitig und in noch viel höherem Maße für die Gesamtheit, aus der es seine Lebenskräfte zieht. Und darum sind seine besonderen Funktionen nicht bloß durch seine individuelle Existenz, sondern auch durch die Existenz des Ganzen bestimmt und dieser angemessen.

Ähnlich wirken Bilder, in denen menschliche Gesellschaft mit Tiergemeinschaften verglichen wird und ebenfalls eine durch äußere Bedingungen klar vorgegebene Rollenverteilung besteht.

Im Original: Föderalismus: Vielfalt und Organismus
Aus Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (mehr Auszüge)
Wie der Wald aus Bäumen besteht ... und wie in diesem Werden und Vergehen und in der wechselseitigen Kraftübertragung der einzelnen Bäume das Leben des Waldes als Zusammenfassung zu einem Ganzen wiederum völlig den Charakter eines lebenden, sterbenden, sich stets von neuem schaffenden individuellen Wesens erhält, so ist jede Gemeinschaft ein Organismus aus Organismen, ein Bund von Bünden, eine zur Einheit gewordene Vielheit von Einheiten. ... (S. 17 f.)
Föderalismus ist Organisation durch natürliche Ordnung; Zentralismus ist Ersatz der Ordnung durch Überordnung und Anordnung.
Die föderalistische Organisation entspricht den Forderungen der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit, der Gleichheit, der gemeinsamen Selbstverantwortung, der Gemeinschaft aus Einzelnen. Die zentralistische Organisation entspricht den Bedürfnissen der Macht, der Obrigkeit, der Ausbeutung, des Klassenzwiespalts, der Bevorzugten. Föderalismus ist Ausdruck der Gesellschaft; Zentralismus ist Ausdruck des Staates.
Staat und Gesellschaft nämlich ist zweierlei. Weder ist die Gesellschaft eine Zusammenballung aller verschiedenen Organisationen und Verbindungen, innerhalb deren die Menschen ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten ordnen und unter denen der Staat neben anderen Einrichtungsformen besteht, noch ist der Staat von etlichen Möglichkeiten eine der Organisationsarten, in denen sich die Gesellschaft verkörpern kann. Es ist in aller Eindeutigkeit so, daß wo Gesellschaft besteht, für den Staat kein Raum ist, wo aber der Staat ist, er als Pfahl im Fleische der Gesellschaft steckt, ihr nicht erlaubt, Volk zu bilden und gemeinschaftlich ein- und auszuatmen, sie statt dessen in Klassen trennt und dadurch verhindert, Gesellschaft zu sein. Ein zentralisiertes Gebilde kann nicht zugleich ein föderalistisches Gebilde sein. Ein obrigkeitlich zugerichtetes Verwaltungewesen ist Regierung, Bürokratie, Befehlsgewalt, und dies ist das Merkmal des Staates; eine auf Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit aufgebaute Gemeinschaft ist in den Grenzen der räumlichen Verbundenheit der Menschen Volk, als allgemeine Lebensform der Menschheit betrachtet, Gesellschaft. Staat und Gesellschaft sind gegensätzliche Begriffe; eins schließt das andere aus.
Vom Klassenstaat reden, heißt von hölzernem Holz reden. Staat ist nichts anderes, kann nichts anderes sein als zentralisierter Ausführungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes.
(S. 19)


Region als Kollektivsubjekt
Ein ebenfalls oft benanntes Kriterium kollektiver Identität ist regionale Spezifität. Klimatische und landschaftliche Eigenarten, Traditionen, Sprache und Ernährungsgewohnheiten, mitunter auch ortsspezifische "Energiefelder" sollen Menschen in einer jeweils typischen Form prägen.
Nun ist unbestritten, dass die soziale Zurichtung Menschen stark formt und diese in unterschiedlichen Regionen auch unterschiedlich ausfallen kann. Daraus aber eine naturgesetzlichähnliche Vorgabe zu konstruieren und diese dann auch noch zu befürworten als Basis einer besseren Gesellschaft, ist mindestens dreifach absurd. Denn freie Menschen in freien Vereinbarungen gibt es nur dort, wo die Beteiligten sich frei entscheiden können, welchen Orientierungen sie sich anschließen und welche sie lieber verlassen oder verändern wollen. Das spricht nicht gegen regionale Sonderheiten, aber gegen jede Ableitung, dass wäre für die Menschen dann auch das für sie Passende. Zudem ist die Mobilität und Migration von Menschen so hoch, dass zumindest heute die Betonung regionaler Identität die Anpassung vieler Zugezogener einfordert, und nicht den Erhalt von etwas. Schließlich lässt sich schnell feststellen, dass in allen Regionen die Unterschiede zwischen Arm und Reich, Privilegierten und Anderen sowie zwischen Metropole und Peripherie größer sind als zwischen den Regionen. Trotzdem genießen Ideen wie die des Bioregionalismus in anarchistischen Kreisen erhebliche Sympathien, wenn auch weniger im deutschsprachigen Raum. Die wichtigsten Quellentexte des Bioregionalismus stammen aus dem angloamerikanischen Raum.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 227 ff.)
In vielen Regionen der Welt ist jedoch die Idee einer kollektiven, an den Ort gebundenen Identität, die auf der Gemeinsamkeit von Kultur, Sprache und Geist basiert, fragwürdig geworden, wenn Jahrhunderte des Kolonialismus und der Immigration multikulturelle Bevölkerungen hervorgebracht haben, die in dieser Hinsicht wenig gemeinsam haben. Können Anarchisten eine andere Art von Zugehörigkeit oder Zusammengehörigkeit definieren, die auch mit ihren allgemeinen politischen Vorstellung übereinstimmt? Die Idee des Bioregionalismus scheint hier einen alternativen Ansatz zu bieten. Bioregionalismus ist eine Form, lokale Identität zu denken, die in der radikalen Umweltbewegung Verbreitung gefunden hat und die sich weder an ethnischen noch an politischen Kategorien orientiert, sondern an den natürlichen und kulturellen Besonderheiten eines Ortes. Eine Bioregion wird im allgemeinen als ein zusammenhängendes geographisches Gebiet definiert, das sich durch spezifische natürliche Gegebenheiten der Formationen, des Bodens, der Gewässer, der Pflanzen- und der Tierwelt auszeichnet, sowie auch der menschlichen Siedlungsformen und kulturellen Eigentümlichkeiten, die sich in der Auseinandersetzung mit der lokalen Natur entwickelt haben. Daher ist die Bioregion auch ein Terrain des Bewusstseins ...
Die bioregionale Herangehensweise fördert also das ökologische Bewusstsein, die Wiederherstellung natürlicher Umgebungen, die Möglichkeiten lokaler Selbstversorgung und ähnliches, doch - potenziell zumindest - bietet sie auch eine überzeugende Alternative sowohl zu nationalistischen als auch zu "volkstümlichen" Identitätsansätzen. Eine Identität, die auf der Verbindung zur Region beruht, hat keinerlei essenzialistische Züge - stellt keine Forderungen an die persönlichen und kollektiven Identitäten, die sich in und neben ihr entfalten können. ...
Schließlich ist Bioregionalismus nicht nur mit Krieg und Besatzung unvereinbar, sondern auch mit dem Kapitalismus, mit rassistischer und religiöser Verlogenheit, mit der Konsumgesellschaft, dem Patriarchat und verschiedenen anderen wesentlichen Kennzeichen der hierarchisch strukturierten Gesellschaft.


Kurze Transportwege, direkte und damit vor allem lokale bis regionale Wirtschaftskreisläufe, mehr gemeinsame Ökonomien, freie Kooperation und gegenseitige Hilfe sind aus vielerlei Gründen sinnvoll. Daraus erwachsen aber nur direktere Beziehungen über tendenziell kürzere Entfernungen, nicht jedoch abgrenzbare Bioregionen. Denn die Person, die an der Nordgrenze einer vermeintlichen Bioregion lebt oder wirkt, hat es zu Menschen an der Südgrenze der benachbarten Region dichter als zum Südrand der "eigenen" Bioregion. Ein Geflecht freier Menschen in freien Vereinbarungen kennt keine Grenzen und damit auch keine Bioregionen.


Klasse
Komplizierter wird es mit der Klasse. Diese Kategorie, die bei MarxistInnen eine große Rolle spielt, wird auch von vielen AnarchistInnen genutzt als Erklärungsgrundlage gesellschaftlicher Verhältnisse, Abgrenzung von Personengruppen und Zuweisung revolutionären Subjektstatus. Es trifft daher auf erhebliche Gegenwehr, Klassen als bloße Konstrukte oder gar legitimatorischen Hintergrund eigener Führungsansprüche abzulehnen. Das Festhalten an der Ktaegorie Klasse beruht darauf, dass sie als "objektive" Struktur der Gesellschaft angenommen werden und daher nicht in Frage gestellt werden können. Diese "objektive" Struktur bestehe unabhängig davon, ob sich die ArbeiterInnen auch selbst als Klasse definieren oder nicht.
Praktisch aber stellt das eine Ähnlichkeit zur Kategorie von Volk dar, die ja auch über scheinbare Objektivitäten (Abstammung, Sprache, Kultur u.ä.) definiert und herbeigeredet wird - und es für die Existenz der "Deutschen" schlicht egal sei, ob sich die Deutschen auch als Deutsche fühlen oder fühlen wollen.
Für die Klasse wird als "objektiver" Sachzusammenhang der unterschiedliche Zugang zu Produktionsmitteln benannt. Die einen hätten den (KapitalistInnen), die anderen nicht. Letztere müssten deshalb ihre Arbeitskraft verkaufen - wobei in moderneren Theorien immerhin z.B. im Haushalt tätige Personen (also hauptsächlich Frauen) hineingedacht werden, die ja ebenfalls ohne Besitz eigenen Kapitals mit ihrer Arbeitskraft das Überleben sichern, wenn auch nochmal eine Stufe stärker in Abhängigkeit, nämlich (im Idealbild des Patriarchats) als Zuarbeit für die männliche Arbeitskraft.
Doch all diese Bilder hinken gewaltig. Zum einen sind - zumindest heute - gerade die großen Konzerne längst keine Personengesellschaften mehr, sondern verrechtlichtes Kapital. Die DrahtzieherInnen sind Angestellte der Konzerne - ihre horrenden Gehälter (weit oberhalb dessen, was für die meisten früheren KapitalbesitzerInnen typisch war) ändern nichts an ihrer "objektiven" Stellung zum Kapital. Sie sind nicht dessen BesitzerInnen. Das Kapital hat sich verselbständigt, formal ist es oft Streubesitz, mitunter sogar unter den ArbeiterInnen - was eine Klasseneinteilung nach diesem Kriterium spätestens völlig ad absurdum führt. Doch das hat wenig Bedeutung. Alle, auch die TopmanagerInnen, sind Getriebene des ewigen Zwangs zur Verwertung aller Werte, der Akkumulation von Kapital und der Erzeugung immer neuer Profite. Sie sind nicht DienerInnen einer Klasse von KapitalistInnen, sondern der Gesetze des Kapitalismus, die keiner HerrscherInnen mehr bedürfen, sondern nur noch williger VollstreckerInnen.

Aus dem Memorandum zur linken Programmdebatte, in: Junge Welt, 19.10.2010 (S. 10)
Am Anfang steht der Lohnarbeiter als Eigentümer der Arbeitskraft, die er dem Eigentümer von Kapital verkaufen oder vermieten muß, um leben zu können. Ihnen gegenüber steht der Kapitalist, der Besitzer der Produktionsmittel, der die Produktion organisiert und sich die Ergebnisse der Produktion aneignet. Am Ende dieses Prozesses steht der Lohnarbeiter so da wie zu Beginn des Produktionsprozesses: als Eigentümer bloßer Arbeitskraft. Der Kapitalist aber hat sich bereichert. Dieser Kreislauf wiederholt sich immer wieder. Ebenso wie das angelegte und verwendete Kapital sich wieder herstellt, reproduziert sich auch das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Aneignenden. Wichtiger Ausgangspunkt von Klassenbewußsein der Lohnarbeiter ist die Erkenntnis, daß sie den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, den sich andere aneignen.

Mit der Absage an Klassen soll nicht behauptet werden, dass die Menschen im ökonomischen Sinne gleich oder auch nur gleichberechtigt wären. Wer in der Rolle als willigeR VollstreckerIn der wirtschaftlichen Zwänge wieviel Macht über andere ausübt, sich wieviel des entstehenden Mehrwerts und Eigentums einstreichen kann und wieviel Einfluss auf die Abläufe hat, ist nicht zufällig oder nur dem Fleiße der Beteiligten folgend. Personale Verhältnisse spielen weiterhin eine Rolle, z.B. die Vererbung von Betrieben und Reichtümern. Allerdings hat das beträchtlich an Bedeutung verloren - und tut dieses weiterhin, zumindest im Vergleich zur neuen herrschenden "Klasse", den Funktionseliten, die mittels ihrer Positionen, Netzwerke und Handlungsmöglichkeiten das Geschehen steuern.


Menge, Masse und der jeweilige "demos" (Kollektivsubjekt)

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